Wahn und Wirklichkeit: Visions du Réel 2024

Von den Grenzwäldern der Festung Europa in den Iran, von georgischen Disziplinaranstalten in die schießwütige GTA-Stadt Los Santos: Das Dokumentarfilmfestival Visions du Réel sucht nach den Möglichkeiten von Empathie und Emanzipation inmitten gruseliger Welten. 

Landschaft und Wahn heißt der Gewinnerfilm im Programm der 55. Ausgabe des Festivals Visions du Réel. Das deckt sich nur zur Hälfte mit dem Bild, was Nyon mir vermittelt: wenig Wahn, sehr viel Landschaft, eine äußerst ansprechende Alpenkulisse nämlich, bei klarer Sicht der Mont Blanc am Horizont, der seinem Namen alle Ehre macht. Ein Stück das Ufer rauf hat Jean-Luc Godard, die „Hundehaut“ der Nouvelle Vague, einst Agnès Varda zum Weinen gebracht. Richtung Genf, das Ufer runter, wäscht die UEFA ihr schmutziges Geld im sauberen Wasser des Genfersees. Postkartenansichten so weit das Auge reicht, könnte man meinen. Bis man ins Kino geht, wo eine weniger pittoreske Wirklichkeit wartet. Zumindest trifft das auf ein Gros der Auswahl zu, die sich in bester Vision-du-Réel-Tradition als „dokumentarisch“ versteht, obwohl man es mit solchen Begrifflichkeiten längst nicht mehr so genau nimmt.

Palimpsest der Gewalt

Ähnlich dürftig ist die kategorische Gegenüberstellung von Kino-Innen und Welt-Außen, das beweist nicht zuletzt Landschaft und Wahn. Denn in Sachen Schönheit stehen die kroatisch-bosnischen Wälder dem Genfersee in nichts nach. Irgendwo in diesen Wäldern verläuft allerdings die EU-Außengrenze, eine Green Border (2023), an der sich Tag und (vor allem) Nacht hässliche Szenen abspielen, wenn Familien auseinandergerissen werden und Träume von einer besseren Zukunft an den Mauern der sogenannten Festung Europa zerschellen.

In ihrer tastenden Langzeitbeobachtung zeigt die Schweizer Regisseurin Nicole Vögele beides als ineinander verschränkt. Die atmosphärischen Analogbilder (Kamera: Stefan Sick) schwelgen weder zu lange in Naturbeobachtungen, noch fuchteln sie zu wild mit dem moralischen Zeigefinger; sie fragen nach dem und im Titel, nach der Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit von Idylle und Gewalt, ruralem Familienleben und grenzpolizeilicher Abschiebung. Wer will, kann das Dialektik nennen. Regen prasselt auf im Herbstlaub verstreute Passbilder, Kinderkleidung oder zerstörte Mobiltelefone. Unter dem Laub lauern Minen aus dem Bosnienkrieg. Mithilfe von Metalldetektoren werden sie geortet und zum Sperrgebiet abgesteckt – ein Palimpsest der Gewalt. Daneben sprießen überall Pilze aus dem Boden.

Der Krieg liegt zwar drei Jahrzehnte zurück, hat sich aber tief in die Landschaft eingeschrieben, davon zeugt nicht nur ein verrosteter Panzer im Unterholz. Ganz zu schweigen von den Menschen. Zwei Veteranen, Eno und Samir, unterhalten sich über alte Zeiten und gefallene Kameraden: „Zum Glück ist das alles vorbei.“ Da sind im Film schon zwei Stunden vergangen – Landschaft und Wahn braucht nicht viele Worte, um sich verständlich zu machen, ist weit weg von Betroffenheitsreportage. Stattdessen ist man zur Spurensuche angehalten, zum Innehalten und Hinhören. Immer wieder versinkt die Kamera in undurchdringlicher Schwärze, die Tonspur übernimmt: Grillenzirpen, Wind und Regen verschwimmen mit Hundegebell, Motorengeheul und Wortfetzen. Tagsüber dauert es oft seine Zeit, bis sich hinter Schattierungen von Grün schemenhaft Menschen herausschälen. Bei wechselnden Jahreszeiten und entsprechend variierender Bild- und Geräuschkulisse immer derselbe Anblick: Familien, die über die Grenze wollen, mangels Alternativen davon überzeugt, dass es irgendwann schon klappen möge.

Hoffnungsvolle Momente sind rar gesät und im geteilten Schmerz geboren. Die Dorfbewohner*innen helfen, wo sie können, weil sie einmal Ähnliches durchgemacht haben und sich in den Geflüchteten wiedererkennen. Ein altes Schulgebäude wird zum provisorischen Auffanglager umfunktioniert; der kleine Supermarkt im Dorf ist ein Ort der Zusammenkunft. Sogar ein aufblasbares Planschbecken für die Kinder, gestiftet von Samir, sorgt für einen vermeintlich unbeschwerten Sommernachmittag, der aber eben auch Kraft spenden soll für die nächste Runde „Migrant und Gendarme“. Später bedankt sich die Familie, die es irgendwie nach England geschafft hat, per Video Call überschwänglich bei Samir: „We just want to say that we love you so much” – dafür braucht es zwar den Google Übersetzer, aber Samir weint darauf ziemlich unmissverständliche Tränen der Rührung. Sprachbarrieren sind für diese Leute ohnehin das geringste Problem.

Charmant ertrotzter Emanzipationskorridor

Die Möglichkeit von Empathie angesichts politischer Widrigkeiten wird auch in Elahe Esmailis Kurzfilm A Move ausgelotet. Als liberale Frau im Iran trägt die Regisseurin seit Jahren keinen Hijab mehr, was dem streng-religiösen Teil ihrer Familie missfällt. Das führt zum – punktuell ziemlich komischen – Konflikt, als Elahe ihren Eltern beim Umzug in eine neue Wohnung hilft, während gleichzeitig das Ende des Ramadans gefeiert wird. Elahes Rebellion wirkt wie ein simpler Akt der Verweigerung, ist jedoch im Lichte der Woman-Life-Freedom-Protestbewegung zu verstehen, die nach dem gewaltsamen Tod der kurdischen Iranerin Jina Amini im September 2022 globale Ausmaße erreichte und nachhaltige emanzipatorische Effekte versprach, mittlerweile aber massive Gegenmaßnahmen durch die Sittenpolizei erfährt.

A Move denkt das mit und bedient sich dennoch keiner militanten Rhetorik. Diskussionen werden hartnäckig, aber mit gegenseitigem Respekt und einem Lächeln auf den Lippen geführt, obwohl einiges auf dem Spiel steht. Für Elahe ist das die Selbstbestimmung über ihren Körper – aus Sicht der Eltern (besonders der Mutter, der Patriarch tut weitgehend desinteressiert) der Ruf der Familie beim Eid al-Fitr: Gastgeber Hossein sei besonders traditionsbewusst und würde sie ohne Hijab nicht tolerieren. Tatsächlich weicht er Esmaili bewusst aus und wirkt sichtlich verunsichert, belässt es aber bei einem agree to disagree. In diesem charmant ertrotzten Emanzipationskorridor kommt Esmaili mit anderen Frauen ins Gespräch, die sich erinnern an mit dem Hijab verbundene Schikanen zu Schulzeiten. Anschließen wollen sie sich Esmaili trotzdem nicht, aber ein Anfang ist gemacht, in der Keimzelle der Gesellschaft, immerhin.

Grammatik und Grimassen

Ever Since I Knew Myself dreht sich ebenfalls um einen Mutter-Tochter-Konflikt, der Tradition und kulturelle Prägung allerdings als Frage der Erziehung verhandelt. Gerahmt wird der Film von einem Gespräch zwischen der Regisseurin Maka Gogaladze und ihrer Mutter. Letztere muss sich Vorwürfe von hinter der Kamera anhören, die ihren strengen, leistungsorientierten Erziehungsstil betreffen. Gogaladze hat darunter offenbar so gelitten – besonders der Klavierunterricht wider Willen soll traumatisch gewesen sein – dass sie sich genötigt sah, einen ganzen Film darüber zu drehen. Mutter und Tochter werden sich nicht einig, sie drehen sich so lange im Kreis, bis es doch zu einer Art Versöhnung kommt. Die pädagogischen Vorstellungen der Mutter entpuppen sich dabei als Produkt einer am sowjetischen Ideal des Neuen Menschen geschulten Agenda, nach der der Sinn fürs Kollektive die Mittel heiligt. Wenn es nicht wehtut, hat man sich nicht genug angestrengt. Stahl wird schließlich auch im Feuer gehärtet.

Während von unterdrückter Individualität die Rede ist, blickt die Kamera aus dem Fenster auf ein Meer von Plattenbauten in der georgischen Dämmerung. Nicht nur einmal und häufig durch Scheiben wird die winterliche Umgebung gefilmt – die drinnen gepredigten Verhaltenslehren der Kälte korrespondieren hier sehr nahtlos mit dem Draußen. Anders als die den Film motivierende persönliche Aussprache zwischen Tochter und Mutter, verfolgt die Bildsprache universellere Absichten. In eigenwillig kadrierten Tableaus, mindestens so streng wie die Zustände, die sie zeigen, führt Ever Since I Knew Myself in die Disziplinaranstalten der georgischen Gegenwart, zum Ballett, zum Gesangs- und Klavierunterricht, zum klassischen Volkstanz – und nährt Zweifel daran, dass sich die Erziehungsmethoden seit dem Zerfall der Sowjetunion allzu sehr verändert haben.

Was sich geändert hat, ist der Rückgriff auf georgische Nationalmythen, die legitimieren sollen, warum man das, was man tut, genau so tut, wie man es tut und nicht anders (um einen Kulturbegriff aus Ruth Beckermanns Berlinale-Beitrag Favoriten zu paraphrasieren, der in Nyon in einer Nebensektion läuft und mit diesem Film ein gutes Double Feature abgeben würde). Seine Wurzeln dürfe man nie vergessen, wenn man wachsen will. Der Baum als Metapher, nicht nur für das lineare Erfolgsversprechen, sondern auch für die familiäre Generationenfolge.

Zeilen des georgischen Nationaldichters Wascha-Pschawela sollen einst Alain Delons Depression geheilt haben, erzählt ein Lehrer euphorisch. Aus voller Kehle rezitieren Kinder patriotische Gedichte über starke Männer und zarte Frauen oder schmettern Volkslieder über die aufopferungsvolle Liebe zum Vaterland. Trotz mitunter schwer anzusehender Szenen der Zurichtung – beim Dehnen in der Ballettschule wird Hand angelegt, bis zum Spagat und darüber hinaus – mangelt es dem Film nicht an (schwarzem) Humor, was auch an den Kindern liegt, die sich mit einer sanften Gleichgültigkeit dem fügen, was von ihnen verlangt wird. Hervorzuheben ist das kleine Mädchen, das den Grammatiklektionen der Lehrerin zwar brav zuhört, dabei aber heimlich Grimassen schneidet und ungeduldig auf dem Stuhl herumzappelt. Ob sowas das Potenzial zur Veränderung birgt, bleibt abzuwarten.

Shakespeare in Los Santos

Eine ziemlich bescheuerte Idee hatten die beiden britischen Schauspieler Sam Crane und Mark Oosterveen, als in der Pandemie nicht nur die Zeit aus den Fugen geriet, sondern auch die Theaterbühnen dichtmachten. Anstatt dem eskapistischen Impuls nachzugeben, vollends in die virtuelle Welt von Grand Theft Auto abzutauchen, fassten die beiden den Entschluss, auf der coronaresistenten Online-Spielwiese von Los Santos Shakespeares Hamlet zur Aufführung zu bringen. Grand Theft Hamlet beschreibt den Weg dorthin als unterhaltsames wie mühevolles Casting der Theatergruppe, in dessen Verlauf buchstäblich tausend Tode gestorben werden.

Von Mord und Totschlag abgesehen – und es ist nicht leicht davon abzusehen, auch aufgrund der Parallelen zur brutalen Gewalt in Shakespeares Stück – gibt es profanere Probleme, etwa wenn der designierte Hamlet nicht mehr an den Proben teilnehmen kann, weil der Mensch hinter dem Avatar im echten Leben einen Job gefunden hat. Tragisch auch das Schicksal der Literaturagentin, die den Account ihres Neffen kapert, um an den Proben teilzunehmen, bis der Neffe genug hat und selbst zocken will. Ein tunesischer Gamer mit finnischen Wurzeln, der schlecht Englisch spricht und als nacktes Alien auftritt, rezitiert lieber Koransuren als jambische Pentameter; wieder andere wollen gar nicht reden (und performen damit ungewollt Hamlets letzte Worte: Der Rest ist Schweigen). Alles okay, alles Teil des Dokumentarfilmplots, denn so entsteht ganz nebenbei das Psychogramm einer pandemiegebeutelten Gesellschaft mit fragiler mentaler Gesundheit. Die Anonymität der teils grotesken Begegnungen maskiert keineswegs, sondern ermöglicht den empathischen Blick ins Antlitz des Anderen – immer unter der Minimalbedingung, dass man sich nicht plötzlich gegenseitig umbringt, so kathartisch das sein mag.

Das passiert mit verlässlicher Regelmäßigkeit; eine bescheuerte Idee bleibt bescheuert, aber ihre konsequente Umsetzung erzeugt inmitten all der Lächerlichkeit erstaunliche Momente des Erhabenen, sogar der Schönheit. Grand Theft Hamlet bekommt seine dokumentarischen Absichten vielleicht nicht in Einklang mit den mal authentischen, mal inszenierten Effekten, die das computerspielende Schauspielen und das schauspielende Computerspielen hervorbringen, schafft es aber, die Lücken geschickt zu verschleiern. Dazu trägt maßgeblich Pinny Grylls bei, Cranes Ehefrau und diejenige, die etwas vom Filmemachen versteht und das ausschließlich in-game gedrehte Material auf eine konsumierbar-epische Form einzudampfen weiß.

Weil Videospiele ihre Ästhetik, die eher ein Look als eine Ästhetik ist, aus dem Film entlehnt haben (wobei das mittlerweile leider auch vice versa gilt), sind entsprechende Kameraeinstellungen reichlich vorhanden. Elegische Establishing Shots und Lens-Flare-Sonnenuntergänge passen auch nur zu gut zum Pathos der wiederholt vorgetragenen Monologe und den großspurigen Bühnenbildern, die Filmsets aus den Bond-Filmen ähneln: Yachten, Whirlpools, Zeppeline. Die Bretter, die in einem Open World Game wie GTA die Welt bedeuten, sind – mit Verlaub – von ambitionierterem Kaliber als das Globe Theatre. Es kann dann nur passieren, dass die halbe Truppe mitten im dritten Akt vom Zeppelin in den Tod stürzt. Nicht weiter tragisch, Fallhöhe hin oder her: Mit dem Sein und dem Nicht-Sein nimmt man es in GTA nicht so genau.

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