Vor dem Bilderstreit: Zwei frühe Filme über die Shoah – Berlinale 2020

Berlinale 2020 / Berlinale Classics: Der weite Weg erobert unterdrückten Bilderfolgen retrospektiv eine Öffentlichkeit. In Die letzte Etappe wird die Solidarität zwischen Lagerinsassinnen zur eigentlichen Protagonistin.

In der Sektion Berlinale Classics, einem Forum für neue Filmrestaurierungen, wurden zwei Spielfilme aus den späten 1940er Jahren vorgestellt, die sich mit der Shoah auseinandersetzen. Sowohl der tschechoslowakische Der weite Weg (Daleká cesta, 1949) als auch der polnische Die letzte Etappe (Ostatni etap, 1948) ziehen dabei dokumentarische Ebenen in ihre von Solidarität und Humanität geprägten Storys ein. Im erstgenannten führt das kontrastive Einstreuen von nationalsozialistischen Filmreportagen in eine ansonsten stilisierte Form zu einem fast schon experimentellem Ergebnis. Letzterer sucht die Wahrheit im Originalschauplatz und befindet sich dennoch innerhalb der Konventionen des zeitgenössischen Erzählkinos. Ob überhaupt gefühlvolle Fiktionen und bis vor wenigen Jahren aktive Konzentrationslager zusammentreffen sollten, ist eine moralische Frage, die sich beide Filme zu ihrer Zeit noch nicht stellten.

Privates Happy End als Sonderfall: Der weite Weg

Wenn Archivmaterial in einen Spielfilm integriert wird, dient es häufig der Beglaubigung der Story, der Authentizitätssteigerung. Nicht so im tschechoslowakischen Der weite Weg: Die brüllenden Redner-Köpfe des Nationalsozialismus und ihre marschierend gleichgeschalteten Massen setzen sich in Kontrast zu dem Drama einer jüdischen Frau und ihres sich aufopfernden Ehemanns. Man könnte das als ein Aufeinandertreffen von offiziös propagandistischem Bild und humanem, einige Jahre später nachgereichtem Gegenbild beschreiben. Das eine kommentiert das andere, die Verbindung liegt im Gegensatz. Statt das grobkörnigere Archivmaterial mit der persönlichen Leidensgeschichte beispielsweise parallel zu montieren, gibt es ab und an einen schönen, für seine Zeit innovativ anmutenden Einsatz von Bildcollagen: Während wir etwa Szenen aus Riefenstahls Triumph des Willens (1935) oder Wochenschau-Schnipsel sehen, verweist eine Miniatur der Spielfilmhandlung in der unteren linken Bildhälfte – mal eingefroren, mal weiterlaufend – auf den omnipräsenten Terror, der dem jüdischen Teil der Bevölkerung widerfuhr. Diesen unterdrückten Bilderfolgen, die unmöglich zur Entstehungszeit des Footage über die Leinwände hätten ziehen können, erobert man damit gewissermaßen retrospektiv eine Öffentlichkeit. Sonderlich erwünscht schienen sie 1949 noch nicht gewesen zu sein. Verbannt in tschechoslowakische Provinzkinos, verschwand der Film schnell von der Bildfläche und wurde erst 1991 wiederaufgeführt.

Die Prager Ärztekollegen Antonín und Hana, nur sie jüdischer Abstammung, heiraten nach der deutschen Okkupation. Zunächst ist Hana dadurch vor den immer stärker um sich greifenden Rassengesetzen verschont. Ihre Eltern hingegen werden nach Theresienstadt deportiert – später finden sie, nach weitem Weg, den Tod in Auschwitz, Majdanek oder Sobibor. Ein erklingender Kinderchor – mehrmals kommen solche traumhaften Verschiebungen vor – hämmert uns an einer Stelle diese drei Wörter immer wieder aufs Neue ein. Irgendwann ist auch Hanas Deportation nach Theresienstadt unvermeidlich, Antonín hält bis zuletzt zu ihr; dann kommt, während sie im Ghetto versucht, noch möglichst viele zu verarzten, plötzlich die Befreiung durch die Rote Armee. Am Ende geht es also „gut“ für die beiden aus. Die letzte Einstellung zeigt sie auf einem Friedhof nach unbestimmter Zeit wieder vereint, um sie herum zahllose weiße Kreuze in geometrischer Reihung. Ihr privates Happy End ist jedoch ein Sonderfall, wie uns der Monolog Antoníns klarmacht.

Alfréd Radoks Film ist getragen von der unbedingten Solidarität des Ehepaars zueinander, auch wenn eigentümlicherweise die Liebe kaum zu greifen ist. Sowieso scheint hier Emotionalität stets mit soghaften Bildern einherzugehen; für eine facettenreiche Psychologie fehlt die Ruhe: In Film-noir-Manier sind die Momente größter Verzweiflung etwa durch extreme Kamerawinkel, schwindelerregende -drehungen und expressives Licht begleitet. Besonders eindrücklich ist nicht zuletzt der Ton, der immer wieder das noch kommende Grauen antizipiert. Das Klappern der Schreibmaschine – wie Gewehrsalven; eine hängende Schallplatte – die Züge in die Vernichtungslager. Der weite Weg will gar nicht so wirken, als sei er ein quasi dokumentarisches Faktum (mit adäquat zurückgenommenem Formwillen etwa); es sind dafür die propagandistischen „Dokumentarbilder“, die als monströs entlarvt werden.

Den Tod ein Stück weit bezwingen: Die letzte Etappe

Am Anfang geht es Schlag auf Schlag: Ein Paar steht an einer Straßenkreuzung eng beieinander; plötzlich ruft jemand angsterfüllt „Razzia!“, Passanten beginnen durcheinander zu rennen. Von rechts tauchen Wehrmachtssoldaten im Bild auf. Der Mann versucht, an die Häuserwand gedrückt, die Frau hinter sich zu verbergen, doch es hilft nichts; alle werden in einen heranfahrenden LKW gezwängt. Dann erscheint der Vorspann mit einer Fotografie, deren Motiv sich wie kaum ein zweites in die kollektive Bilderwelt eingebrannt hat: die Zuggleise und das backsteinerne Eingangstor von Auschwitz-Birkenau. Es sind wahrscheinlich nicht mehr als ein, zwei Minuten vergangen; die restliche Spielzeit wird diesen Ort kaum je mehr verlassen.

Vor alledem hatte uns eine Texttafel vermittelt, dass die Regisseurin des polnischen Films, Wanda Jakubowska, selbst im Lager interniert war. Ihr Überlebenswille, so ein Zitat, war nicht zuletzt auch darauf gerichtet, die auf ihren Erfahrungen fußende letzte Etappe drehen zu wollen. Doch nicht bloß das authentisch Erlebte dieses Albtraums aus schäbigen Baracken, Zwangsarbeit, schlammigem Appellplatz, herumliegenden Toten, Schikane, Folter und Erschießungen ist hier wichtig, sondern auch, dass es zugleich der tatsächliche Ort des so schwer (be-)greifbaren Grauens ist, der ins Bild kommt.

Lediglich drei Jahre nach Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee sehen wir diesen Schauplatz und seine Maschinerie in aller Ausführlichkeit – und haben damit Teil an einer drängenden Wahrheitssuche wie auch gespenstischen Aneignung mittels Kamera. Die Frage, ob Auschwitz filmisch „wiederbelebt“ werden darf, eine Frage, die spätestens seit Claude Lanzmanns Shoah (1985) unumgänglich ist, stellt sich dem Film nicht.

Die letzte Etappe ist bei all seinem unmittelbar aufgefassten Authentizitätsbestreben jedoch weit davon entfernt, irgendwie Exploitation zu sein. Wenn Menschen abseits der Gaskammern sterben – diese sind, vermittelt durch den rauchenden Schornstein am Horizont, quasi permanent gegenwärtig, jedoch nie von Nahem oder im Inneren –, deutet das Bildfeld die Morde nur indirekt an und gibt nie die Leichen selbst preis. Es scheint, als wolle der Film den Tod auch ein Stück weit bezwingen. Was eigentlich im Vordergrund steht, ist die Hoffnung.

Im späteren Filmverlauf gibt es immer wieder Nahaufnahmen von erwartungsvollen Frauengesichtern, die ihre Blicke zu den dröhnenden Fliegern am Himmel richten, das nahende Kriegsende ankündigend. Diese Frauen sind häufig anmutig und schön. Ein Zugeständnis ans Kino, dem die permanente Anwesenheit ausgemergelter Körper zu radikal ist, oder ein Statement, selbst hier noch den Opfer Würde zu verleihen? Einige von ihnen stechen dramaturgisch aus der Barackengemeinschaft hervor, eine Lagerärztin, eine Dolmetscherin und eine Mutter, deren Neugeborenes sogleich ermordet wird. Interessanterweise ist jedoch keine von ihnen eine Hauptfigur – die eigentliche Protagonistin, so könnte man sagen, ist die Solidarität zwischen den Insassinnen.

Und sie haben sich nicht nur gegen die SS, so gut es geht, zu behaupten, sondern auch gegen die perfide Hierarchie innerhalb des Lagerbetriebs: Ressentiments zwischen Polinnen und Russinnen, Kapos, die prügeln, Lager-Älteste, die ihre eigene Haut retten wollen und dabei gnadenlos nach unten treten. Ungewöhnlich schonungslos und plastisch scheint das hier verhandelt zu sein; dagegen ist die Perspektive der Täter hölzern. Wenn die etwa in ihren obszön opulenten Privatwohnungen agieren, passiert das ganz nach Drehbuchformeln. Aber das ist vielleicht auch verständlich: In ihre Köpfe, so hat man den Eindruck, konnte man sich nicht wirklich eindenken.

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