Von Räumen als Durchgang: Ein Bericht von der Duisburger Filmwoche (2)
Die Duisburger Filmwoche sucht intime Zugänge zu größeren Zusammenhängen. Im zweiten Teil des Festivalberichts porträtieren zwei Filme die Insel Lampedusa und eine Psychiatriestation als komplexe Räume der Aushandlung.

Nicht nur aus Kuba, auch aus Lampedusa darf man nicht einfach raus, wenn man zu denjenigen gehört, die es geschafft haben, anzukommen. Lampedusa im Winter ist einer von vielen Filme der Duisburger Filmwoche, die nicht von einer Figur oder einem Thema ausgehen, sondern von einem Ort. Karin Becker, Silvia Wolkan und Aline László zum Beispiel haben für ihren 30-minütigen Pistoleros eine alte Western-Stadt in Spanien besucht, in der einst Sergio Leone drehte. Heute kommen weder Regisseure noch Touristen, man stirbt eher vor Langeweile, und auch der morriconeske Soundtrack des Films kann diesem Ort kein Leben mehr einhauchen. Rudolf Domke wiederum hat sich dem Leben in einer Kolonie angenähert, die Russlanddeutsche in Paraguay gegründet haben – und deren Existenz heute bedroht ist. Im Zentrum von Dem Leibe dieses Todes steht eine tiefreligiöse Familie mit einem gutmütigen Patriarchen, der sich nicht gänzlich abschotten, sondern auch den paraguayischen Einheimischen das Evangelium näherbringen möchte. Der älteste Sohn wird bald 18. Er weiß noch nicht, was er dann macht. Fast beiläufig spricht er von einer Jobsuche in Kanada. Ein genuschelter Ausgang.
Solidarität am Rande Europas

Während diese beiden Filme Porträts hermetischer Räume sind, Blicke von außen auf Eingeschlossene, interessiert sich Lampedusa im Winter für die Insel als Durchgangsraum. Der Name ist zu einem Schlagwort für den afrikanischen Teil der sogenannten Flüchtlingskrise geworden, aber der Wiener Jakob Brossmann hat glücklicherweise nicht einfach einen „Film zum Thema“ gemacht. Er nähert sich dem Alltag in einem zum Schlagwort gewordenen Ort, besucht die lokale Radiostation, beobachtet die kommunale Politik, interviewt streikende Fischer und natürlich auch die afrikanischen Flüchtlinge, die auf dem Außenposten Europas angekommen sind. Kern des Films ist diese doppelte Zeitlichkeit: die Insel als Heimat, auf der Menschen seit ihrer Kindheit leben, und die Insel als Tor, das so schnell wie möglich durchschritten werden soll. Diese Konfrontation wird dabei jedoch nicht einfach in die Begegnung der Einheimischen mit den Fremden übersetzt. Besorgt sind die Bürger Lampedusas nicht wegen der Flüchtlinge, sondern erst einmal, weil jene Fähre ausgebrannt ist, die sie vom Festland aus versorgt.
So gibt es zwar auch hier Momente, in denen die streikenden Fischer die eigene prekäre Situation und das Leid der Flüchtlinge gegeneinander ausspielen, doch in der Regel hält man hier als eine Gemeinschaft zusammen, zu der auch die Geflüchteten gehören. Die Bürgermeisterin erklärt einer Gruppe von 30 Flüchtlingen, die Lampedusa noch nicht verlassen dürfen, warum sie nicht mehr für sie tun kann, und entschuldigt sich für die europäische Migrationspolitik. Ein Insulaner hat ein Museum errichtet mit all den privaten Gegenständen, die angespült und in Schiffswracks gefunden wurden. Am Ende will ein Fischer vor der Kamera ein Gedicht vortragen. Im Publikum wird geschmunzelt. Dann ist es aber sehr schön, es handelt von einem weinenden Meer und den vielen Toten, die es beherbergt, von denen, die eine neue Heimat gesucht haben und jetzt jenes Meer als Heimat haben, das sie eigentlich nur durchqueren wollten.
So nah, dass es schmerzt

Auch Constantin Wulff widmet sich einem Durchgangsraum, den die einen gewissermaßen bewohnen, während er für andere notwendig gewordene Station ist. In der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie eines österreichischen Krankenhauses ist seine Kamera sehr nah dran, manchmal so nah, dass es schmerzt. Wenn Jugendliche um die richtige Formulierung für ihre Gefühle ringen; wenn das Personal einen Verdacht auf Kindesmisshandlung hat, aber nicht eingreifen kann; wenn die Pfleger eine Fixierung vorbereiten und die Gürtel schon mal enger schnallen. Den Schwerpunkt legt Wulff aber nicht auf solche Ausnahmesituationen, sondern, ganz in der Tradition Frederick Wisemans, auf die Innenansichten einer Institution. Nicht die Patienten, sondern die Ärzte und Mitarbeiter stehen im Zentrum von Wie die anderen.

Zu Beginn spricht eine Ärztin einen Befund in ihr Diktiergerät und nennt eine Unzahl an möglichen Diagnosen, allesamt mit Kennziffern, die sie von einer überdimensionierten Tabelle abliest. Die Szene gibt vor, worum es im Folgenden auch gehen wird: um die Begegnung zwischen dem psychischen Leiden Einzelner und seiner institutionalisierten Benennung, Kategorisierung und Handhabung. Wulff liegt dabei keineswegs an einer Verurteilung der Psychiatrie, im Gegenteil: Allesamt sind das engagierte Ärzte und Psychologen, denen Patienten wie Filmzuschauer begierig zuhören. Und doch müssen sie immer wieder Entscheidungen treffen, Macht ausüben, Diffuses benennen. Das wird auch in dem Maße schwieriger, in dem psychische Erkrankungen Eingang in den öffentlichen Diskurs finden. Eine Ärztin vermutet, eine Mutter bringe selbst große Worte wie Asperger ins Spiel, weil sie sich von der klinischen Deutlichkeit eine geringere eigene Schuld erhofft. Schön ist dann, wie der Chefarzt das Kind, um das es geht, von dieser Vermutung freispricht: „Der hat doch a Schmäh, der ist doch ironiefähig.“
Subtile Machtkämpfe

Schlau ist Wulffs Entscheidung, diese Dialektik von Symptom und Diagnose nicht direkt zu illustrieren. Die Fälle, über die das Team in seinen Sitzungen redet, betreffen nicht die Menschen, die wir als Zuschauer kennenlernen. Die Erkenntnisse bleiben vage, hängen in der Luft, finden sich in den Zwischenräumen, eher in den Pausen der Therapiegespräche als in den Aussagen. Am Ende gibt es einen regelrechten Showdown. Da steht eine junge Frau – deren Arm mit Narben vom Ritzen übersät ist, der es gerade aber besser geht – kurz vor ihrem 18. Geburtstag und soll entscheiden, ob man sie vorsorglich schon mal bei der Erwachsenen-Psychiatrie anmeldet, um bei einem möglichen Rückfall schneller helfen zu können. Sie will das nicht, der Therapeut hält es aber für richtig, und der Dialog wird zu einem subtilen Machtkampf. Es geht hier nicht um die Behandlung einer Patientin, sondern um einen komplexen intersubjektiven Prozess. Wie viele andere Filme der diesjährigen Duisburger Filmwoche ist Wie die anderen nicht an einfachen Erklärungen interessiert, nicht an Urteilen und auch nicht am bloßen Abbilden. Das Welt-Verstehen findet nicht durch Vereinfachung statt, sondern durch Verkomplizierung. Weil es sich eben, wie man im stark vertretenen Filmland Österreich sagen würde, nicht so einfach ausgeht.
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