Vom Verlieben und Verlieren – Aus den Cannes-Nebenreihen

Cannes 2019: Eine Magenspiegelung, eine depressive Kuh, ein Waldbrand. Drei Ausschnitte aus drei Filmen und der Versuch, das Flüchtige zu verstetigen.

Anders als in Berlin sieht man in Cannes vorwiegend Filme aus dem Wettbewerb, einerseits weil sie meist viel versprechen, andererseits weil man über diesen Wettbewerb Bericht erstatten muss und viel Zeit für anderes nicht bleibt. Jene in den Nebensektionen, die nicht ohnehin von den Big Shots inszeniert sind, ziehen also nur, wenn Zeit übrig ist zwischen den neuesten Werken der großen Autorenfilmer, manchmal bleiben sie hängen, selten gelingt es mir, sie mit eigenen Texten zu würdigen. Und dann gibt es immer wieder Filme, die mich zwar nicht gänzlich überzeugen, aber Momente schaffen, die sich aufzuheben lohnen. Ein bisschen was wollte ich dieses Jahr also rausschneiden aus den Nebensektionen.

Sick, Sick, Sick (Sem seu sangue, Alice Furtado, Quinzaine des Réalisateurs)

Sich verlieben heißt, einen Rahmen um jemanden zu bauen, um den Off-Screen-Bereich getrost ignorieren zu können. Und dann sieht Silvia (Luiza Kosovski) zu Beginn von Sick, Sick, Sick nur noch den schönen Körper von Artur (Juan Paiva), in Zeitlupe, beim Schwimmen, beim Fußball, im Wald, wo sie das erste Mal miteinander schlafen. Das Begehren verstetigen: Immer wieder der Blick aus dem blassen Gesicht auf Arturs dunkelhäutigen Körper. Auch wenn Artur in der ersten Szene ein Liebesgedicht in der Schule vorträgt, findet das Verlieben vorwiegend auf der Bild-, nicht auf der Tonspur statt. Silvia ist das egal, aber der Film der brasilianischen Regisseurin Alice Furtado weiß, dass das ein Problem ist. „Du kennst mich doch gar nicht“, sagt Artur einmal.

Die Spritzen kann aber selbst die Verliebteste nicht ignorieren. Artur leidet an Hämophilie, er darf nicht verletzt werden, also steht die Sache von Anfang an unter keinem guten Stern. Und so stirbt Artur, und Silvia wird liebeskrank. Ihr Magen wird gespiegelt, und Sick, Sick, Sick spiegelt mit, eine ganze schöne Kamerafahrt lang, in Silvias Inneres hinein. Von da an ist der Film ein anderer, und leider kein besserer. Furtado hat, glaube ich, durchaus Interessantes zu sagen, vor allem darüber, wie der jugendliche Liebesschmerz die ganze Außenwelt mit Bedeutung auflädt, und wohl auch über Exotismus und Rassismus. Aber er verliert mich, sobald er sich nicht mehr verliebt, sondern nur noch leidet.

I Lost My Body (J’ai perdu mon corps, Jérémy Clapin, Semaine de la Critique)

In I Lost My Body von Jérémy Clapin, in den ich zufällig gestolpert bin, ohne auch nur zu wissen, dass es sich um einen Animationsfilm handelt, gibt es eine Szene, in der das Verlieben ganz ohne Bild auskommt. Ein Pizzabote, Naoufel, klingelt an der Tür eines Hochhauses und muss sich über die Gegensprechanlage erst mal für eine Verspätung entschuldigen, die nach seinen eigenen Berechnungen 20 Minuten, nach denen der Kundin 40 Minuten beträgt. Der Türsummer entpuppt sich als widerspenstig, dreimal erwischt Naoufel den falschen Moment für den entscheidenden Move, und dann lässt er es bleiben, die Pizza ist eh schon hinüber und kalt. „Du bist ziemlich scheiße in deinem Job, oder?“, fragt die Stimme aus der Anlage, und allein in dieser Frage ist schon der Übergang von wütender Kundin zu an ihm interessierter Frau enthalten, den sich Naoufel zurechtfantasiert.

Draußen regnet’s, und so bleibt Naoufel im Foyer des Hochhauses, und die Stimme bleibt bei ihm. Der Pizzabote fragt nach der Aussicht dort oben im soundsovielten Stock, will ein wenig träumen, sucht aber auch schon nach Anhaltspunkten, den Körper zur Stimme ausfindig zu machen, die Kundin zur persönlichen Königin zu machen. Das Begehren verstetigen: Auch hier verliert mich der Film, als Naoufel das, was nur Gegensprechanlage war, ausfindig macht, verfolgt, Gabrielle kennenlernt, ohne sich ihr erkennen zu geben. Und eigentlich geht es in Clapins manchmal bemüht poetischem, meist aber sehr sweetem Film um eine abgetrennte Hand und die Abenteuer, die sie auf dem Weg zurück zu ihrem Besitzer erlebt.

Fire Will Come (O que arde, Oliver Laxe, Un Certain Regard)

Es gibt keine Liebe bei Oliver Laxe. Aber es ist wunderbar, während eines Festivals mit ungewöhnlich vielen Zombies, Geistern und anderen Wiedergängern die Übergänge zwischen Mensch, Tier und Maschine einmal allein im Bild verwischt zu sehen, ohne sie erzählt und erklärt zu bekommen. In der ersten Einstellung von Fire Will Come sehen wir hohe Bäume in einem dichten Wald, die einer nach dem anderen plötzlich zusammenzucken und zu Boden gehen. Weil wir nur ihren oberen Teil und damit nicht die Ursache der Bewegung sehen, muten sie an wie angeschossene Tiere im Todeskampf. Erst später weist ein Schnitt auf den Bulldozer hin, der ihre Stämme penetriert. Weil wir weit genug weg sind, um keinen Menschen in der Fahrerkabine sitzen zu sehen, mutet er an wie ein Tier auf der Jagd. Menschliche Naturzerstörung als animalischer Kampf.

In Fire Will Come geht es dann um Amador (Amador Arias), der vor Jahren in der galizischen Steppe ein Feuer gelegt hat und nun aus dem Gefängnis kommt, zurück zu seiner Mutter geht, ihr mit den Tieren hilft. „Er ist ein armer Wicht“, tuschelt man über ihn, und dass er es schwer gehabt habe. Mehr werden wir nicht erfahren, weil Fire Will Come einer jener typischen Festivalfilme ist, in denen wenig gesprochen wird und jedes Bild erklärt, wie sorgsam es ausgesucht wurde.

In der tollsten Szene des Films geht es um eine verstimmte Kuh, die in einem Bach stehen bleibt und sich nicht zum Weitergehen überreden lässt. Eine Veterinärin kommt Amador zu Hilfe, bindet die Hörner der Kuh an ihren Pick-up-Truck und zieht sie aus dem Bach. Auf der Rückfahrt macht die Frau das Radio an, Leonard Cohens „Suzanne“ läuft, und sie fragt Amador, ob die Musik ihm gefalle, und Amador antwortet, ja, er verstehe aber den Text nicht, und die Veterinärin sagt, dass man Texte ja auch nicht verstehen müsse, um Musik zu verstehen. Und dann wechseln wir mit einem abrupten Schnitt von den Vordersitzen auf die Ladefläche, von den Menschen zur Kuh, während „Suzanne“ vom innerdiegetischen Radiotrack zur pompösen Filmmusik wird. Cohen singt jetzt ganz für die Kuh, die verträumt in die Landschaft blickt und vielleicht die Musik versteht, ohne den Text zu verstehen.

Am Ende, das sagt ja schon der Titel, wird wieder ein Wald brennen. Ob Amador ein Wiederholungstäter ist, bleibt offen, denn es geht Laxe nicht um Figuren und ihre Motivationen. Ein Leben unter dem Radar und ein Feuer, das eine ganze Region in Atem hält, stehen für eine Verknüpfung von geringem Aufwand und großem Effekt, verbinden den ärmstmöglichen Wicht mit dem infernalischsten Bild. Am gelegten Waldbrand entzündet sich eine andere Frage als die, wie sich das Begehren verstetigen lässt: nämlich wie man überhaupt vorkommt in dieser Welt.

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