Visions du Réel 2022: Brennende Grenzen
Auf dem Festival Visions du Réel in Nyon konnte man sich der Erhabenheit atomarer Verwüstung hingeben, von Piraten träumende Männer beobachten und IS-Kämpfern auf Augenhöhe begegnen.
Von der strahlenden Materie zur verworrenen Idee – Burial

Selten fügt sich Found Footage so nahtlos in die Welt eines Films ein: Das Unterwasser-Video einer umher wandelnden Anakonda in Brasilien steht am Anfang von Emilija Škarnulytės Filmessay und nimmt die Bewegung von Burial vorweg: Behutsam schleichend eignet sich der Kamerablick anschließend die Räume des Films an: die meiste Zeit das litauische Atomkraftwerk Ignalina, das in der sowjetischen Vergangenheit errichtet und in der EU-Gegenwart heruntergefahren wurde, nun Stück für Stück über mehrere Jahre in seine Einzelteile zerlegt wird. Burial versteht den Blick auf das langsam zur Ruine werdende Kraftwerk allerdings umfassender: Škarnulytės Film tastet sich nicht nur langsam durch das Geschwisterchen von Tschernobyl, sondern auch durch andere lost places, in denen die faszinierende Erhabenheit und Schönheit von Verwüstung und Verfall genauso greifbar wird wie bei der warm strahlenden Aufnahme eines sich in aller Ruhe vergrößernden Atompilzes.
Burial strebt von der Materie zur Idee: Konkrete, klar umrissene Orte werden erkundet, um sich von dort in sehr viel stärker verworrene Reflexionsräume über das Verhältnis des Menschen zur (atomaren) Technik zu bewegen. Eine antike Stadt, versunken im türkisblauen Wasser, ruft diese Beziehung im historischen Maßstab auf den Plan. Die Schaltzentralen der Atomkraftwerke samt ihren bunten Knöpfen, Anzeigen, Kontrolllämpchen und Skalen übersäen irgendwann die Leinwand als hinreißende Ornamentik. Wenn dann nochmal eine Anakonda das Bild betritt, auf diesen Mikrokosmen schlängelt, ihre glänzende Haut sich an die Schalter schmiegt, löst sich die visuelle Abstraktion auf und mahnt an die hautnahe Gefahr der Atomkraft, die so ein Technikpult aus der Ferne verwaltet.
Erinnerungen an Carsten Raus schönen Atomkraft Forever[LINK] werden wach, bei dem eine Haltung zur Atomkraft nie ohne eine andere, ihr widersprechende präsentiert wurde. Raus Film lieferte eine dialektische Diskursanalyse zur Atomkraft, Škarnulytės Film macht’s poetisch. Am Anfang wird zwar einmal in historischen Aufnahmen von dem guten und dem schlechten Atom, dem Uran der Energiegewinnung und dem der Zerstörung gesprochen. Ansonsten fechtet Burial diesen Widerstreit aber in der Bewegung von Bild und Ton aus. Am Schluss steht eine Häutung, und Škarnulytė schafft es tatsächlich, dass dieses Bild nie zur einfachen Metapher für das Loslassen alter Lasten wird, so wie überhaupt das Schlangenmotiv hier kaum von der Sünde kündet. Stattdessen entsteht ein visueller Spalt mitten im Bild, eine Grenze zwischen zwei auseinanderdriftenden Bewegungen, die von ein und demselben Wesen stammen.
Hunde, die längst wieder Welpen sind – Dogwatch

Ist ja kein Problem, wenn bei der Einsatzübung in voller Camouflage-Montur und mit Gewehr in der Hand das Kommando nicht so richtig funktioniert, wenn die Schusswaffe nicht mitspielen will, oder noch nicht so ganz klar ist, wo jetzt nochmal zwölf Uhr ist. Das alles würde in der Realität sowieso nicht vorkommen, sagt der instructor mit fast schon tröstender Geduld. Gleich die erste Szene fasst das Arbeitsleben der drei Protagonisten von Gregoris Rentis’ Film Dogwatch ganz gut zusammen: Yorgos, Costa und Victor arbeiten als Privatsoldaten auf Frachtschiffen, deren Route entlang der Küste von Somalia verläuft. Ein paar Jahre lang haben die Piraten hier alles in Angst und Schrecken versetzt, die Reedereien gezwungen, militärisches Schutzpersonal anzuheuern, um Räubereien abzuwehren. Inzwischen aber kommt das kaum noch vor – eigentlich gar nicht, wenn das Personal an Bord ist, erklärt Costa.
So sind die stets gestählten und tätowierten Männer in Dogwatch zur Impotenz verdammt: andauerndes Training, ständiges Bereitmachen für einen Gegner, der dann doch nicht kommt. Einen Job machen, dessen Ertrag nie spürbar wird. Rentis nähert sich diesen Schattenboxern in einem hochglänzendem Dokumentarstil, mit Bildformat, Licht und Farbgebung als Spielfilm-Reminiszenz. Die audiovisuelle Inszenierung schmiegt sich der performativen Inszenierung an: Das Schiff, der Schießstand, ein Club in Sri Lanka, werden zu Bühnen für ein Theater, in dem ein Drama namens Virilität aufgeführt wird. Alle Schüsse gehen ins Leere, kaum eine Frau, die Mann antanzen kann. „Gute Nacht“, wird zum Kameraden im Nachbarsbett gesagt, nackt aneinander reiben tut Mann sich nur in der Diskothek als Bro-Performance. Ständig schert man sich gegenseitig die Haare, als würde ein Simson den anderen kastrieren. Dogwatch beobachtet Hunde, die schon lange zu Welpen geworden sind, wieder ganz in den Jungenfantasien aufgehen: Bei den Übungen darf sogar mit echten Waffen Soldat gespielt werden, um ein paar Filipinos in der Rolle von Geiseln zu retten, ansonsten steht man seufzend an der Reling und träumt von der goldenen Ära der Piraten.
Fragen zum Schluss – Rojek

Ständig bricht dieser Film auseinander, zerfällt in zwei Teile – aber tut er das wirklich? Die Aufnahmen einer brennenden Steppe des kurdischen Teil Syriens jedenfalls legt eine selbstreflexive Ebene nahe: Eine dünne, aber hell lodernde Grenze teilt das Land in schwarze Asche und trockenes Gras. Zaynê Akyols Rojek hat so einige von diesen übergroßen Bildgewalten parat, in denen die Kamera über die karge Landschaft und die Ruinen des inzwischen wieder der Gewalt des Islamischen Staats entrissenen Gebiets schwebt. Wenn eine Drohne in diesem Film ihren transzendenten Blick beisteuert, dann schwillt ein dröhnendes Stampfen im Sound an, das die mächtigen Bilder aufpeitscht. Spätestens wenn kurdische Freiheitskämpferinnen mit schwer bewaffneten Jeeps wie wild über Stock und Stein rasen, ähnelt Akyols Kurdistan-Dokument dem Australien George Millers.
Jeder Schnitt auf diese Bildwelten ist eine Zäsur, denn die meiste Zeit zeigt Rojek scheinbar einfache Interviewkonstellationen. Nach der Befreiung des Areals durch die kurdischen Freiheitskämpfer*innen sind die Gefängnisse voll von ehemaligen IS-Kämpfern und -Unterstützer*innen. Akyol hat für ihren Film Zugang zu den Inhaftierten bekommen, begegnet ihnen mit der Kamera auf Augenhöhe, befragt sie zu ihrer Rolle im Gefüge. Was dabei zustande kommt, ist ein ausführliches Porträt über Aufbau und Funktionsweise dieser Organisation: Von den Soldaten über die Übersetzer für Verhöre bis zur Medienabteilung berichtet jeder mal mit mehr, mal mit weniger Reue über die Gewalt, die sie über dieses Land hereinbrechen ließen. Schon mutig, von solchen Berichten wieder auf die alles überfliegende Kamera zu schneiden, die das kurdische Syrien mitunter wie eine stets verfügbare Miniatur aussehen lässt. Oder zu beobachten, wie das Land verbrennt, Menschen hilflos versuchen, das Feuer auszutreten, aber jeder Funke neue Flammen setzt, nachdem im Interview die immer neu aufflammende Gefahr des IS wie eine Hydra beschrieben wurde.
Wie ist die Beziehung zwischen den beiden Bilderwelten des Films zu verstehen? Soll unterstrichen werden, was in den Interviews so eindrücklich aus erster Hand geschildert wird? Geht es darum „die ZuschauerInnen an den Bildschirm zu fesseln“, wie es die Ankündigung des Festivals behauptet, oder darum, sich eine einfache Übersicht über die Kargheit zu verschaffen, wie es die Regisseurin in einem Q&A nach dem Film erklärt? Es waren schöne (Kirsten Johnsons Cameraperson), merkwürdige (Mitra Farahanis À vendredi, Robinson) und auch ärgerliche Filme (Simon Lereng Wilmots A House Made of Splinters) in diesem Visions-du-Réel-Jahrgang zu sehen: verschiedenste Ansätze, die dann doch einte, anschließend nicht mehr allzu viele Fragen übrig bleiben zu lassen. Rojak ist mein letzter Film des Festivals und hat diese Seherfahrung im Alleingang noch einmal auf den Kopf gestellt.











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