Visions du Réel 2020: Sehtagebuch
Ein bizarrer Schönheitswettbewerb mit Holocaust-Überlebenden, eine Nacht mit zwei Drag Queens und ein kenterndes Schlauchboot im Mittelmeer: Notizen vom Schweizer Dokumentarfilmfestival, das dieses Jahr online stattfindet.
Filme zu streamen, um dann über sie zu schreiben, ist erstmal nichts Besonderes. Die goldenen Zeiten der Pressevorführungen, die in den Kinos der Großstädten durchgeführt wurden und bei denen es, so heißt es, Schnittchen, Kaffee und gelegentlich auch Kuchen gab, sind ohnehin vorbei, Filmstreams sind eine kostengünstige Alternative und zur Konvention für eine zeitgenössische Filmkritik geworden. Derweil jedoch sind Festivals die Orte, an denen man zusammenkommt und gemeinsam Filme schaut. Sie sind soziale Ereignisse, die Verknüpfungen herstellen: zwischen Menschen, Besuchenden wie Machenden, Produzierenden, Vertreibenden, zwischen den einzelnen Beiträgen, und nicht zuletzt zwischen verschiedenen Ausrichtungsorten, deren Distanzen per Tram, U-Bahn oder Bus überbrückt werden, während man mit Bekannten über das zuvor Gesehene diskutiert bis streitet, Empfehlungen oder Warnungen (das obligatorische „Hast du schon gesehen?“) ausspricht. Diese Schwarmbewegungen durch die Resonanzräume eines Festivals fallen während meiner Beschäftigung mit den im Rahmen des diesjährigen Visions du Réel online abrufbaren Filmen selbstverständlich weg. Zigarettenpausen habe ich dennoch gemacht.
Spilling the tea with Amber la Garce and Moon: Queens

Zwei Drag Queens bereiten sich für eine Nacht im Club vor. Während Amber sich schminkt und von der Angst spricht, sich manchmal auf den Straßen nicht sicher zu fühlen, hört Freundin Moon nicht zu – sie müsse ja schließlich noch entscheiden, welche Perücke heute von ihr ausgeführt werden soll. Queens begleitet das stylische Duo bei ihrer „sister time“ auf dem Weg vom Schlafzimmer zum Club, wo Gossip ausgetauscht und das letzte Grindr-Sextreffen nachbereitet wird. Die eigentlich unspektakuläre Route inklusive Tramfahrt, die in ihrer Alltäglichkeit neidisch macht, transformiert sich in der filmischen Miniatur von Youssef Youssef zum überdrehten Trip, rauschhaft und gefährlich.
Dabei sind nicht nur die Sprachhandlungen der Figuren in der Schweizer Produktion interessant, die kontinuierlich zwischen Englisch, Französisch und Deutsch switchen. Queens bearbeitet in den Performances, die hier gezeigt werden und als die sich das Auftreten von Amber la Garce und Moon beschreiben lassen, die grundlegende Frage nach dem Dokumentarischen. Was wird hier durch die Kamera, was von den vor ihr Agierenden hergestellt? Was ist einstudierte Reaktion? Youssefs Film zeigt eine vielstimmige Szene, die selbst zur Diskussion stellt, wer denn eigentlich wie Drag machen könne, und thematisiert diverse Formen von Solidarität, Freundschaft und Familie. Von außen betrachtet geht es dabei manchmal eher harsch als liebevoll zu. „You are a queen. You have to know it“, sagt eine der Schwestern einmal aufmunternd zu Amber. Ein größeres Kompliment kann es dort im Nachtclub nicht geben.
Die Geisterhaftigkeit des Spektakels: The Pageant

Schönheitswettbewerbe sind absurde, zumeist sexistische Veranstaltungen. In Little Miss Sunshine, dem vielleicht breitenwirksamsten Beispiel für die filmische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen, sprengt eine ganze Familie eine solche Zeremonie. Während in dem fiktionalen Feelgood-Movie von Valerie Faris und Jonathan Dayton ein kleines Mädchen im Zentrum der Betrachtung wie Bewertung steht, handelt es sich in Eytan Ipekers Dokumentarfilm The Pageant um Frauen zwischen 70 und 90: Überlebende der Shoah, für die die International Christian Embassy Jerusalem seit 2012 jedes Jahr in Haifa einen eigenen Schönheitswettbewerb ausrichtet. Regisseur Ipeker entlarvt, wie die evangelistische rechte Organisation das Gedenken für eine ultranationalistische Politik benutzt, die Biografien der Frauen hinsichtlich ihrer Verwertbarkeit abklopft. Während draußen vor der Veranstaltungshalle Fotos aus Konzentrationslagern ausgestellt werden, wird drinnen eine schmissige Ballade mitsamt LED-Lichtshow performt; neben den Hobbys einer Teilnehmerin (Kreuzworträtsel) wird bei ihrer Vorstellung in Sachen Schönheitskönigin auch erwähnt, wann sie welche Verwandte aufgrund der Verfolgung verloren hat.
Ipekers Film betont die Geisterhaftigkeit des Spektakels noch durch sphärisch-gruselige Musik, filmt aber auch den Stadtraum, der sich der Inszenierung durch die Organisation entzieht, und nähert sich immer wieder den Geschichten von Sophie Leibowitz, Anna Grinis, Shoshana Kolmer und den anderen Überlebenden. Vorbereitungen, Proben, Abläufe werden gefilmt, ein Behind-the-Scenes der Unerträglichkeit. Insbesondere über Kataloge und lange Namenslisten, aus denen Bewerberinnen anhand bestimmter Merkmale ausgesucht und mit Nummern versehen werden, stellt Ipeker dabei bewusst Assoziationen her, die erschaudern lassen. Aus den Lautsprechern schallt zur Preisverleihung mit Krone und Konfetti Roy Orbisons Pretty Women. Super Freak von Rick James, wie in Little Miss Sunshine, wäre vielleicht passender. Zwar stellt The Pageant seine Protagonistinnen selbst nicht als freakig aus, wohl aber den Zusammenhang, in dem sie in Szene gesetzt werden.
Unübersichtliche Bilder: Purple Sea

Es sind Finger zu sehen, die gegen das Glas der Kameralinse drücken. Manchmal lassen sich Köpfe mit Haaren erahnen. Dann Füße, Wasser, eine Bluse mit Schmetterlingsmuster flattert vorbei. Zu schnell verändern sich die Umgebung und die Position der Person, die filmt, um „alles“ sehen und erfassen zu können, und gleichzeitig nicht schnell genug, um „nichts“ zu sehen. Purple Sea ist ein unordentlicher Film, im ganz buchstäblichen Sinne, die Zuschauenden selbst müssen ihn anhand eigener Systeme sortieren; schlichtweg weil er sein Szenario zeigt, das sich Ordnung und Übersicht entzieht. Amel Alzakout filmt ihre eigene Flucht aus Syrien per Boot, und auch, wie dieses vor der Küste von Lesbos kentert. Die Aufnahmen, aus denen sie gemeinsam mit Khaled Abdulwahed einen Film gemacht hat, sind Zeugnis des Wartens auf Hilfe, Beweisstücke für das, was im Mittelmeer schon lange passiert und schon immer humanitäre Katastrophe war, die sich im Angesicht einer weltweiten Pandemie und der Schließung nationaler Grenzen noch einmal verstärkt.
Alzakouts Stimme liegt als Voice-over über den Point-of-View-Bildern ihres damaligen Erlebens, von dem auf visueller Ebene vor allem Farben haften bleiben: das Orange der Rettungswesten, die Farbe von Haut, und wie sie aussieht, wenn sie dicht an die Kamera kommt, Rottöne, Schwarz, das bedrohliche Blau des Meeres. Darüber spricht Alzakout Texte, die zwischen innerer Reflexion der konkreten Situation, den Erinnerungen und Ängsten, dem Denken an Familienangehörige sowie Fabeln, Poesie und wütendem politischem Kommentar changieren. Zugleich verweist Alzakouts Sprechen auf die Interaktion mit den Mitreisenden und Mitgestrandeten während des Treibens im Meer, und so stets auf das, was außerhalb des Bildausschnitts liegt, sich gelegentlich mit der nächsten Welle den Weg dort hineinbahnt. Der akustische Stream of Consciousness des Voice-over wird immer wieder durch Sounds der Situation gebrochen: Wellen, Trillerpfeifen, Rufe, wie das Wasser gegen die Kamera platscht oder sie umspült. Purple Sea ist ein herausfordernder Film, in dem Alzakouts Stimme das ist, was beständig ist.
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