Versuche einer sinnlichen Ethnografie – Berlinale 2020
Berlinale 2020 / Forum und Forum Expanded: Die Soundcollage Expedition Content übt sich in einer wenig aneignenden Form praktischer Ethnografie. In The Two Sights ist die spirituelle Verbundenheit zum Ort das alles Bestimmende.

Im Forum und im Forum Expanded liefen zwei dokumentarische Beiträge, die in ihre ethnografischen Beobachtungen eine radikal subjektive Ebene einziehen. Sie lehren nichts im eigentlichen Sinne über ihre (fremden) Welten, stellen dafür Erfahrungen her, die immer auch die Perspektive der porträtierten Menschen spiegeln. Deren persönliche Verbundenheit zum jeweiligen Lebensort entsprechen dabei uneindeutige Leinwand- und Klangphänomene. Es sind Versuche einer sinnlichen Ethnografie, die keinen schulmeisterlichen Kommentator mehr nötig hat. Das heißt letztlich, dass auch sie einem selbst etwas fremd bleiben.
Expedition Content entstand im Kontext des Sensory Ethnography Lab (SEL) der Harvard University, einem „Labor“ also, das eine experimentelle audiovisuelle Ethnografie verfolgt. The Two Sights, letztlich ein Ein-Mann-Projekt Joshua Bonnettas, ist mit Geldern einer Artist Residency in Schottland entstanden. Bonnettas (und J.P. Sniadeckis) vorhergehender, im Forum 2018 präsentierter El mar la mar war ebenfalls noch ein SEL-Projekt. Dem neuen Film merkt man diese Tradition deutlich an – Ausgangspunkt, Expedition Content und The Two Sights zusammenzudenken.
Die reine, ungefilterte Tonebene: Expedition Content

Anfang der 1960er Jahre brach eine Harvard-Peabody-Expedition nach Niederländisch-Neuguinea auf. Unter den Reisenden, die sich hier sowohl mit finanzstarken Stiftern als auch mit der hiesigen Kolonialmacht gemein machten, befanden sich der Filmemacher Robert Gardner und der Tontechniker Mike Rockefeller. Ein Film über das ritengeprägte Leben der Hubula, eines Volksstamms im Baliem-Tal des heutigen Westpapua, sollte dabei (neben Fotobüchern und ethnografischen Monografien anderer Beteiligter) herauskommen: Dead Birds (1964), heute ein Klassiker des ethnografischen Dokumentarfilms. Während Gardner knapp zwei Jahrzehnte später noch den ebenso berühmten Forest of Bliss (1986) drehte, verschwand Rockefeller im Zuge der Expedition. Er wurde für vermisst und vier Jahre später für tot erklärt. In Expedition Content hören wir ihn oft reden. Die Soundcollage ist daher auch ein Epitaph für diesen Mann mit der sanft jugendlichen Stimme, der seine einzelnen Aufnahmen minutiös katalogisiert und gut 36 Stunden solcher Field Recordings hinterlassen hat.
Aus diesen haben der Soundkünstler Ernst Karel und die in Westpadua ansässige Anthropologin Veronika Kusumaryati ihr Klangexperiment mit einigen wenigen Ausflügen ins Visuelle gestaltet (Dead Birds blitzt nur gegen Ende einmal kurz in seiner brüchigen 16mm-Materialität auf). Was können uns die archivierten Töne Rockefellers über die damaligen Expeditionsteilnehmer sagen, in welchem Verhältnis standen sie zu ihrem „Untersuchungsobjekt“, wie wirken solche Tonschnipsel, wenn man sie zweckentfremdet in einem finsteren Kinosaal ohne lichtbestrahlte Leinwand hört? Das lässt sich alles schwer beantworten – weiß man sich doch auf das Präsentierte teilweise keinen Reim zu machen. Prasselnder Regen, herumschreiende Kinder, sich über Jazzmusiker verständigende Expeditionsteilnehmer, zirpende Grillen, rituelle Gesänge – oder doch Wehklagen? Zwischendrin Rockefellers Ansage vor der jeweiligen Aufnahme: Krieg spielende Kinder in einem Feld, Mikro extra ins Gras gelegt, damit Insekten ebenso zu hören sind. Eine gewisse Interaktion zwischen dem Team und den Hubula lässt sich erahnen, sie kommentieren etwa die Observatoren in ihrer Sprache; auf der Leinwand laufen zum Teil die Untertitel mit. In Dead Birds fehlt diese Ebene komplett.
Sowieso scheint die Toncollage eine Art Revision des Films zu sein. Während Gardners mystischer Indien-Trip Forest of Bliss durch sein ausbleibendes Voice-over ein vollkommen rätselhafter Film ist, nimmt Dead Birds den Betrachtenden noch gewissermaßen an die Hand: Eine Reportagen-Stimme erklärt einem die Stammesriten, bestimmte Mitglieder werden namentlich genannt und psychologisiert, zeitliche Rahmen abgesteckt, die Erzählung hier und da durch allegorische Passagen aufgeladen. Was dabei völlig fehlt, ist die eigenständige Stimme der Porträtierten. Keine Interviewsituationen, Informationen lediglich aus zweiter Hand, nur vermeintlicher O-Ton, de facto aber Nachsynchronisation, sofern die Tonspur einmal nicht vom Narrator dominiert wird. In Expedition Content haben wir nun den umgekehrten Fall: die reine, ungefilterte Tonebene, die uns im Kinosaal mitunter irritiert (zumal weit weniger immersiv als andere Soundworks von Karel, z.B. Swiss Mountain Transport Systems (2011)), dafür fast keine Bilder. Vielleicht ist das eine weniger aneignende Form der praktischen Ethnografie?
Die Sprache gibt einen Rhythmus vor: The Two Sights

Im Englischen werden hellseherische Fähigkeiten als „second sights“ bezeichnet; es ist eine der beiden Sehweisen, von denen der Filmtitel spricht. Denn Joshua Bonnetta – Regisseur, Kameramann, Schnittmeister und Tontechniker in einem – möchte uns hier sowohl ein ganz sinnlich-konkretes Landschaftsporträt der schottischen Hebriden als auch das Bild einer transzendenten Seelenlandschaft präsentieren. Die wunderbar lichtsensiblen 16mm-Bilder treffen dabei mit Tonaufnahmen zusammen, die den keltisch-archaischen Landstrich in Dialog mit ortstypischen Natur- und Arbeitsklängen, Legenden und Gesängen treten lassen. Lässt sich ein plastisches Bild von diesem kargen Kosmos geben, ohne dass man zugleich auch erzählt, wie dessen Bewohner*innen ihn fühlen und mythisch überhöhen? Ist man bereit, der ästhetisch sehr einnehmenden Logik von The Two Sights zu folgen, heißt das: nein.
Zum einen haben wir immer wieder die Horizontale betonenden Totalen, die schroffe Felsen, wolkenverhangenen Himmel, wuchtige Wellen und umherkreisende Möwen einfangen. Manchmal bewegen sich vereinzelte Figuren hindurch. Als Mönche am Meer könnte man sie sehen, zumindest lässt sich hier an eine romantische Bilderwelt denken (ansonsten interessiert sich der Film kaum für den dargestellten Menschen). Dann sind da aber auch kleine Details: fast schon halbabstrakte Wellenformationen, glitschige Gesteinsbrocken, Krebse mit ekelig langen Beinen, im Wasser glitzernde Sonnenreflexionen, die den gesamten Bildkader ausfüllen.
Separat aufgenommene Interviews der Inselbewohner*innen im teils unverständlichen Gälisch arbeiten zeitgleich am Mythos. Persönliche Katastrophen wurden vorausgesehen, etwa durch plötzlich aufblitzende Lichter – ein Gegenstand, den die Legenden mit dem Medium Film teilen. Von Geistern, Erscheinungen und märchenhaften Pferden ist die Rede. In einer der eigenartigsten und zugleich schönsten Szenen des Films stimmt eine sanfte Frauenstimme einen lang angehaltenen Ton an – sie nennt ihn sacral tone –, der seine visuelle Entsprechung im Vibrieren der Wasseroberfläche unterschiedlicher Meeresimpressionen findet. Hier geht alles ineinander.
Statt im Gestus eines klassischen ethnografischen Dokumentarfilms die ortstypischen Denk- und Handlungsweisen für den Betrachtenden mit Begriffen zu versehen, lässt sich Bonnetta von ihnen wortwörtlich durch den Film treiben. Der Sog, den das entfaltet, entspricht im Kinosaal dem merkwürdigen Verlust des Zeitempfindens. Manchmal ist es sogar eher zweitrangig, was eigentlich gerade gesprochen, gesungen oder gezeigt wird. Die Sprache gibt einen Rhythmus vor, wie auch die eingefangene Landschaft von einem natürlichen Auf und Ab – etwa der Abfolge der Wellen, dem Schaukeln der Boote – bestimmt wird.
Um Arbeit geht es dabei weniger; zwar werfen auch in The Two Sights Fischer ihre Netze aus, doch die spirituelle Verbundenheit zum Ort ist das alles Bestimmende. Dass diesem Monismus filmisch so eingeschränkt entsprochen wird, kann man fragwürdig, da allzu affirmativ, finden. Denn der Film liefert einem kaum Hintergründe zu den Hebriden und mystifiziert damit quasi doppelt. Das war im Grunde bereits in Bonnettas Vorgängerfilm, El Mar la Mar (2018, in Co-Regie mit J.P. Sniadecki), der Fall. Doch hier biss sich tatsächlich die ganze Naturmystik mit der Darstellung eines politischen Raums, dem hierdurch die Dringlichkeit abhandenkam. Die keltische Einöde eignet sich wahrscheinlich mehr zum Film-Mythos als das gewalttätige amerikanisch-mexikanische Grenzgebiet.
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