Vermessene Körper – San Sebastián Film Festival 2025

Nach dem Mitklatschen ist vor dem Film im spanischen San Sebastián. Leonard Krähmer hat sich dort Neues von zwei französischen Regisseuren angeschaut: Alice Winocours Couture bietet viele Stars beiderlei Geschlechts und eine tolle Musikauswahl. In Claire Denis’ The Fence sind die angestaubten Bilder die besten.

„O’zapft is!“, sagt Christian Sievers zu Gundula Gause, als ich kurz nach der Ankunft in San Sebastián den Hotel-Fernseher einschalte. Bislang habe ich nie darüber nachgedacht, dass das Oktoberfest und das Filmfestival von San Sebastián zur gleichen Zeit stattfinden. Ich frage mich, ob es einen Menschen gibt, für den das eine bedauernswerte Terminkollision darstellt. Eher nicht. Das heute journal sendet derweil kanonische Bilder von der Wiesn, nämlich genau zwei: 1. Fassanstich (in zwei Schlägen) durch OB Reiter, daneben grinst der unvermeidliche Söder. 2. Eine Horde verkleideter Männer sprintet zielstrebig in Richtung Besäufnis.

Dieses Symbolbild bayerischer Barbarei schießt mir unvermittelt in den Kopf, als mir am nächsten Morgen zu früher Stunde zahlreiche Jogger*innen auf der Strandpromenade entgegen hecheln. Vielleicht, weil die umliegenden Sitzbänke in den Stadtfarben blauweiß gehalten sind. Ansonsten haben Wiesn und Zinemaldia (so das baskische Wort für Filmfestival) wenig gemeinsam, außer dass beide dem mehr oder weniger kulturellen Sektor angehören.

Volksfeststimmung kommt in San Sebastián nur dann auf, wenn vor jeder Vorführung der Festivaltrailer läuft. Die hingehauchten Tonfolgen werden hier traditionell von beherztem, ironischem (?) Mitklatschen des Publikums begleitet. Es gibt wenig Variation, meist auf die 1 und die 3. Mit heute journal hat das nichts mehr zu tun, mit ZDF-Fernsehgarten schon deutlich mehr. Irgendetwas kann ich dem gegenseitigen Einheizen abgewinnen, wenn ich auch nicht weiß (und vielleicht besser nicht wissen will), was genau.

Überschminkte Wunden

Nach kollektivem Anklatschen im Kursaal dann also der erste Film. Couture von Alice Winocour spielt zur Pariser Fashion Week. Maxine Walker (Angelina Jolie), erfolgreiche Horrorfilm-Regisseurin aus den USA, soll einen Kurzfilm mit vampirischem Sujet für eine Outdoor-Show beisteuern. Danach will sie ihren lang geplanten nächsten Spielfilm drehen. Das Telefon klingelt permanent, der Umgang am Set ist rau, der frischgebackene Ex-Mann und seine Anwälte nerven aus der Ferne, Teenagertochter Eden isoliert sich zunehmend und geht nur selten ans Telefon.

Dass bei Maxine Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wird, macht ihren vollen Terminkalender nicht leerer, verleiht ihm aber einen anderen zeitlichen Index: den der Vergänglichkeit des eigenen Körpers. Jolie spielt die schambehaftete, existenzielle Verzweiflung inmitten einer Welt aus Oberflächen und überschminkten Wunden mit überzeugendem Tiefgang und einer Verletzlichkeit, die womöglich auch mit ihrer familiären Betroffenheit zu tun hat. Die stellenweise an Kolonialpraktiken gemahnende Vermessungen des weiblichen Körpers für maßgeschneiderte Outfits erscheinen in einem anderen Licht, wenn Maxines Onkologe (Vincent Lindon) die Brüste seiner Patientin mit pinken Linien für die OP markiert.

Winocour beschränkt sich nicht auf diesen emotionalen Kern, sondern erhebt den Titel (im französischen Original im Plural: Coutures = „Nähte“) zur Erzählstrategie. Immer wieder wechselt die Erzählperspektive, verschiedene Fäden werden zu einem zwar zusammenhängenden, aber auch überambitionierten Flickenteppich verwoben, der an einigen Stellen merklich ausfranst.

Wir werden trotzdem alle sterben

Die Make-up Artistin (Ella Rumpf) schreibt nebenher ein Buch über ihren Arbeitsalltag, wird von ihrem Lektor aber nicht ernstgenommen (mir fiel es zugegeben auch schwer, was aber eher daran lag, dass ihre Beobachtungen unmotiviert per Voiceover eingestreut werden). Die Nachwuchsschneiderin (Garance Marillier) nimmt letzte Änderungen am ersten eigenen Kleid vor, "the dress that opens the show". Getragen werden soll es von der 18-jährigen Ada (Anyier Anei), dem new face aus dem Südsudan, die eigentlich Apothekerin werden wollte und nun auf Ruhm und Wohlstand in Europa hofft, sich dabei allerdings erst zurechtfinden muss im Modezirkus. Schön: das obligatorische „Laufenlernen“ im Hotelflur mit verstauchtem Knöchel. Schöner: die melancholische Geburtstagsparty mit Champagner und Françoise Hardys Mon amie la rose danach (auch sonst gute Musikauswahl dank Anna von Hauswolff). Der Fokus auf weibliche Perspektiven in einer letztlich männerdominierten Branche ist dabei zwar nicht unbedingt neu, aber deswegen nicht weniger wirkungsvoll.

Hinter Jolies Figur wirken einige anerzählte Nebenfiguren etwas verloren, insbesondere die männlichen. Schlimm ist das nicht, schließlich sind sie hochkarätig besetzt. Lindon, Marillier, aber auch Louis Garrel und Grégoire Colin. Sogar Aurore Clément hat einen Cameo-Auftritt. Zwischen Warte- und Behandlungszimmer versichert sie Maxine, dass alles gut werden wird. Man will es ihr glauben, wenngleich Lindon kraft seiner medizinischen Expertise zurecht später ergänzt: Wir werden trotzdem alle sterben, irgendwann.

Rot ist der Sand

Grégoire Colin und Vincent Lindon sind für mich eng mit Claire Denis‘ Kino verbunden. In ihrem neuen Film The Fence spielt keiner von beiden mit, dafür hat die Tochter des Letzteren, Suzanne Lindon, am Drehbuch mitgeschrieben, das auf dem Theaterstück Combat de nègre et de chiens (1979) von Bernard-Marie Koltès beruht. In der von Zäunen und Wachtürmen gesicherten Anlage eines europäischen Bauunternehmens irgendwo in Westafrika ist ein Arbeiter gestorben – Arbeitsunfall, angeblich. Alboury (Isaach de Bankolé), der Bruder des Toten, steht nun außen am Zaun und fordert Horn (Matt Dillon), den Chef der Anlage, dazu auf, ihm den Leichnam auszuhändigen, damit er ihn noch vor Anbruch des Tages ins Dorf bringen kann. Horn will nicht, Alboury lässt nicht locker.

Die Verhandlungen der beiden Männer vor und hinter dem Zaun ziehen sich über die ganze Nacht und beinahe die gesamte Laufzeit des Films. Inszenatorisch sicher kein Feuerwerk, zumindest keines unter freiem Himmel. Kameramann Éric Gautier findet das ein oder andere gute Bild, es bleibt aber ziemlich angestaubt theaterhaft. Wobei ausgerechnet die angestaubten Bilder die besten sind. Rot ist der Sand, durch den Cal (Tom Blyth) fährt, um Horns aus London eingeflogene Ehefrau Leone (Mia McKenna-Bruce) abzuholen, die später ähnlich verloren durch die Industrielandschaft wandelt, wie Monica Vitti in Antonionis Rote Wüste. Rot auch der Staub, den Cal schluckt, wenn er Bulldozer manövriert; roter Staub, der beim Duschen als rotes Wasser die Waden hinabfließt, das wie Blut aussieht und vielleicht Blut ist.

Wie so oft bei Claire Denis lässt sich The Fence als Männlichkeitsstudie lesen; Dillon passt da schon als Kinokörper ganz gut rein, auch wenn es ihm nicht gelingt, dass ich mich für Horn als Figur interessiere. Cal wiederum ist ein lächerlich impulsiver, ziemlich misogyner, vor allem aber enervierender Rüpel, der irgendwann Anzug trägt, weil Saint Laurent mitproduziert hat. Der Abspann besteht aus einer langsamen, für mein ästhetisches Bedürfnis dann doch versöhnlichen Fahrt, weg von Neokolonialismus und Umzäunung, ins Dorf, wo die Menschen leben. Geschäftiges Treiben, Staub, dazu eine dieser Tindersticks-Melodeien, die in Denis‘ Filmen so sicher sind wie das Mitklatschen des Festivaltrailers in San Sebastián.

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