Vehemente Pärchenbildung – Visions du Réel 2020

Cláudia Varejão fasst den Begriff des Paares so weit, dass es kracht, während sich Jean-François Lesage der Ode an einen sehr speziellen Hut widmet. Außerdem: Kriegsspiele als Therapie. Neue Eindrücke vom Schweizer Dokumentarfilmfestival.


Digitale Beruhigungsoberflächen: My Own Landscapes

Ein männlicher Avatar schiebt sich durch die menschenleere Landschaft eines Computerspiels. Er rennt über Kies, vorbei an Bäumen und Büschen, die sich im Wind bewegen. Meeresrauschen mischt sich manchmal mit dem Knacken der Steine. Der Avatar läuft weiter, immer weiter, gesteuert von einer Person, die weiß, dass sie in dieser Welt nie auf eine andere Gestalt treffen wird, außer dieses Treffen wurde eigens programmiert. Die Figur rennt weiter; sie müsste gar nicht rennen, weil sie verfolgt wird oder es ein Spielziel auf Zeit gäbe, sie wird nur um des Rennens willen bewegt. Es ist merkwürdig friedlich, während der Kies weiter knackt.

In Antoine Chapons Kurzfilm My Own Landscapes geht es um Videospiele als Kriegstechnologie. Seit 2013 rekrutiert etwa das US-amerikanische Militär systematisch Kämpfende aus der Gamer-Community und schickt sie in reale Kriegsszenarien. Vorbereitet darauf werden sie wiederum über ein Videospiel, in dem sie taktische Manöver absolvieren und Missionen abschließen müssen – mit Virtual-Reality-Brille, ganz nah und live. Gestaltet wurden die Bäume, Felsen, Sträucher und Meere darin unter anderem von Cyril, aus dessen Bildschirmaufnahmen My Own Landscapes besteht und den Regisseur Chapon für den Film befragt hat. Die Interviewantworten spricht nun eine weibliche, ruhige Stimme aus dem Off. Während Cyril seinen Avatar durch die von ihm selbst designten digitalen Beruhigungsoberflächen bugsiert, spricht diese Stimme über einen Kriegseinsatz, der Cyril traumatisiert zurückgelassen hat. Das Spielen ist auch eine Form der Therapie. My Own Landscapes vermittelt ein Gefühl der temporären Beruhigung und skizziert dabei, wie in der tradierten Idee einer Freiheit, die an territoriale Ansprüche geknüpft ist (seien diese virtuell oder analog), zugleich auch bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit stecken.

Suche nach der anderen Hälfte: Amor Fati

Amor Fati beginnt mit einer Einblendung: „Each one of us is just the side of a coin whose halves have been separated“. Dem Zitat aus Platons Symposium zufolge sind die Menschen nach dem Erscheinen in der Welt getrennt worden, einmal in der Mitte ordentlich durchteilt, und fortan auf kontinuierlicher Suche nach der anderen Hälfte. Diese zu finden ist das ultimative Glücksversprechen. Alleine zufrieden sein, das ist in dieser streitbaren Lebens- und Liebeskonzeption unvorstellbar – die zudem nur eine einzige Person vorsieht, die Hälfte eben, die passt. Anschließend an Platon beschäftigt sich Cláudia Varejão in Amor Fati mit der Frage, was ein Paar ist und wo sich diese idealen Konstellationen finden lassen, weshalb der Film vehemente Pärchenbildung betreibt. Verschiedene Duos werden gezeigt, die Mutter und der blinde Sohn, zwei ältere Frauen in einer abgelegenen Hütte, das blondierte gay couple, das auch mal für ein Fotoshooting Hochzeitskleider anprobiert.

Lieblingsobjekt des Films sind zwei Schwestern, die zusammen ein Restaurant betreiben, ähnliche Kleidung tragen und denen auch beim Legen der Tarotkarten versichert wird: „For you being apart is like not being able to breathe.“ In ihrer Faszination für innige Beziehungen und Zuneigungen aller Art weitet Varejão den Begriff des Paares denn auch noch weiter aus; schließlich kommen Menschen hinzu, die mal mit Instrumenten (Violine, Cello, Klavier), mal mit Tieren (Pferd, Hund, Adler) hantieren. Der Dragkünstler Simão sieht gebahnt seiner Lieblingsschauspielerin in einem Schwarz-Weiß-Film zu – klar, auch ein Paar! Diese massive Setzung von Amor Fati wird wahllos, fängt alles ab, kann doch alles zum Paar werden, wenn es als solches betrachtet wird. Zum Glück gibt es da noch die Falten und Spuren in den Gesichtern von Einzelpersonen, die Varejão in Großaufnahme zeigt: Indizien dafür, wie schwer die Suche nach der anderen Hälfte ist, und wie wahnsinnig diese Person danach gesucht haben muss.

Häufig kommt Amor Fati ohne Dialoge und das gesprochene Wort aus – und tatsächlich ist das eben irgendwann auch das Problem des Films. Denn so richtig scheint sich Varejão für die Protagonist*innen nicht zu interessieren, müssen sie doch in erster Linie als Bilder funktionieren. Besonderes Augenmerk legt die Regisseurin auf Ähnlichkeit, weshalb die schrulligen Schwestern mit dem geteilten Modestil gleich nochmal besonders herausgestellt werden. Genauer hingeschaut wird da nicht unbedingt, nachgefragt schon gar nicht. Die Einstellungen sind kurz, ab geht es zum nächsten Paar. Amor Fati lässt sich als Beispiel dafür fassen, wie es sich anfühlt, wenn Filme einen Rahmen um Personen ziehen, wenn diese etwas auf der Leinwand bedeuten sollen, dass sie vielleicht gar nicht sind. Dieses Gefühl passt dann aber wieder ganz gut in eine Reflexion darüber, wie soziale Beziehungen gelegentlich funktionieren.

Über das Verlieren: Prière pour une mitaine perdue

Ein Fundbüro der öffentlichen Verkehrsbetriebe im winterlichen Montréal. Busausweise und Schlüssel wurden auf den Fahrten liegen gelassen, weshalb die Suchenden den Schalter des Fundbüros aufsuchen und ihre Verluste beklagen. In Kisten kramen sie sich durch das von anderen Gefundene, bis hoffentlich das Eigene wiederentdeckt wird. Eine Handtasche wird vermisst, ebenso der Pass mit dem Foto der verstorbenen Eltern, verschiedene Geldbörsen, ein Hut; dieser eine Hut, der doch so gut passte, und dessen Fehlen seine ehemalige Besitzerin eindrücklich beschreiben kann. Er war perfekt, sagt sie. Endlich hätte sie ihn gefunden gehabt, diesen Einen, habe sie bei der Anprobe gedacht.

In Prière pour une mitaine perdue (zu deutsch etwa „Andacht für einen verlorenen Halbhandschuh“) zeigt Jean-François Lesage diese kleinen Dramen, die sich am Schalter des Fundbüros entspinnen, als Miniaturen in Schwarz-Weiß. Ausgehend von den verschwundenen Gegenständen macht er dabei einen vielstimmigen Chor des Verlustes sichtbar. Verschiedene Geschichten stehen hier nebeneinander und werden um kürzere Interviews mit Bewohner*innen der verschneiten kanadischen Millionenstadt ergänzt, in denen auch mal über das Glück gesprochen wird, manche Dinge verloren zu haben, die man garantiert nicht zurückhaben will (Beispiel der Passantin: Ex-Freund). Prière pour une mitaine perdue ist ein mitunter charmantes Stadtporträt, dessen „Wie das Leben so spielt“-Modus durch den jazzigen Soundtrack unterstrichen wird. Gleichzeitig aber ist sein Grundton eher melancholisch, wenn nicht gar ziemlich traurig. Nicht zuletzt, weil die verlorenen Objekte meist für größere Zusammenhänge stehen, wie sich in den Gesprächen mit den Personen vom Schalter offenbart: die letzte Trennung, Sterbefälle in der Familie, der Wegfall von Bewegungsfreiheit, das eigene Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Über all das wird in unterschiedlichen Menschengruppen am Küchentisch oder im Wohnzimmer gesprochen, mit Angehörigen, Freund*innen, Gästen, während draußen der Schnee auf Montréal fällt und es drinnen für die Personen noch gemütlicher macht – Prière pour une mitaine perdue stimmt angesichts der aktuellen Weltenlage wehmütig, will man doch mit am Tisch sitzen.

Auf der Website des Festivals kann man sich einige Filme kostenlos ansehen.

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