Unkontrollierte Kraftfelder: Rotterdam Film Festival 2020

Das Programm in Rotterdam ist so heterogen wie das von futuristischen Bauten bestimmte Stadtbild. Über Midnight Movies in der Sektion Rotterdämmerung und andere Filme.

Die Innenstadt von Rotterdam wirkt teilweise so, als wäre sie um das Filmfestival herum gebaut worden. Alle Kinos sind zwar fußläufig erreichbar, aber trotzdem hat man nie das Gefühl, in einem Festival-Ghetto festzustecken. Denn auch wenn überall die weißen Fahnen mit dem stilisierten Tigerkopf im rauen Januarwind flattern, muss man immer nur ein paar Meter weitergehen, um in der Fußgängerzone, dem schönen, modernistischen Museumspark oder der mit Kneipen gepflasterten Witte de Withstraat zu landen.

Das Programm in Rotterdam ist dabei ähnlich heterogen wie das von wild zusammengewürfelten futuristischen Bauten bestimmte Stadtbild. Vermutlich kann man über mehrere größere Festivals sagen, dass man sich aus dem reichhaltigen Angebot komplett unterschiedliche Programme zusammenstellen kann. Das Besondere an Rotterdam scheint mir aber zu sein, dass diese Auswahl bis in filmische Bereiche vordringt, die man bei solchen Veranstaltungen oft gar nicht zu sehen bekommt.

Letztes Aufbäumen: Love’s Twisting Path

Ein gutes Beispiel dafür ist die neueste Regiearbeit von Sadao Nakajima, einem Veteranen des japanischen Studiosystems, der seit den 1960ern für die Firma Toei zahlreiche Yakuza- und Samuraifilme (chambaras) inszeniert hat. In die zweite Kategorie fällt nun auch Love’s Twisting Path: Der heruntergekommene Samurai Tajuro (Kengo Kora) wird hierin von der Barhostess Otoyo (Mikako Tabe) ebenso umworben wie von ein paar ehemaligen Kollegen, die seine exzellenten Kampfkünste gegen einen bösen Shogun mobilisieren wollen. Der fesche, aber immer etwas wehleidig grimassierende Samurai mit dem notorisch schlecht sitzenden Gewand sieht jedoch nur seinen eigenen Schmerz.

Es sind die letzten Tage der Edo-Zeit (1603–1868) in Kyoto. Für einen tuntigen Stoffhändler soll Tajuro Muster entwerfen. Er malt Orangen, weil er die einst pflücken musste, um über die Runden zu kommen – aber an die Kundinnen lässt sich so etwas nicht verkaufen. Mehrmals platziert Nakajima die Früchte am Rande des Bildes. Sie wirken wie ein poetisches, an die Malerei auf japanischen Wandschirmen erinnerndes Symbol dafür, dass Tajuro in dieser Welt keinen Platz hat. Seine Außenseiterrolle drückt sich vor allem in seiner künstlerischen Tätigkeit aus, die nicht zuletzt Resultat seiner Verweigerung des Samuraidaseins ist. Einmal sitzt Tajuro malend im Wald, während in der Nähe ein Kampf stattfindet. Jeder seiner dicken Pinselstriche wird gegen einen Hieb mit der Klinge geschnitten. Nakajima lässt dabei zwei Kunstformen eins werden. Die eine hat sich der Schöpfung verschrieben, die andere der Zerstörung.

Love’s Twisting Path, ein schöner, aus der Zeit gefallener Film, läuft in einer Reihe, die sich aktuellen Arbeiten von Regisseuren über siebzig widmet und das Besondere im Blick von alten Menschen auf die Welt sucht. Bei Nakajima ist dieses Besondere wohl die Bewahrung einer alten Tradition. Die Erzählweise ist sehr ausführlich; die nur bedingt dynamischen, oft in Totalen gefilmten Kampfszenen würde man so heute wohl nicht mehr inszenieren. Nur der sehr digitale Look bricht mit diesem Klassizismus. Aber gerade dieser sichtbare Einbruch der Moderne lässt Love’s Twisting Path nicht nur wie einen Film über das Ende einer Ära wirken, sondern auch wie das letzte Aufbäumen eines Kinos, das es eigentlich nicht mehr gibt.

Der Film ist exemplarisch für Rotterdam, weil hier sowohl asiatisches als auch Genrekino mehr Aufmerksamkeit bekommen als auf anderen Festivals. Nicht nur, aber häufig findet man solche Mitternachtsfilme in einer Sektion mit dem düsteren romantischen Namen Rotterdämmerung. Und dort sind nicht nur jene oft etwas aufgeblasenen Arthouse-Genre-Hybride zu sehen, wie sie auf solchen Festivals meist laufen, sondern auch richtige Mainstream-Produktionen.

Gemeinsam verbotene Bücher lesen: Detention

Die taiwanesische, vor allem auf ein Teenagerpublikum zielende Videospiel-Adaption Detention von John Hsu war in ihrer Heimat ein Blockbuster und ist dabei doch eine recht eigensinnige Mischung aus Horror-Melodram und Vergangenheitsbewältigung. Die Handlung ist im Jahr 1962 angesiedelt, als Taiwan noch von China besetzt war, das Kriegsrecht herrschte und jeder, der als Regimegegner verdächtigt wurde, umgehend aus dem Weg geräumt wurde. In einem Gymnasium treffen sich heimlich ein paar Schüler mit ihren jungen Lehrern, um gemeinsam aus verbotenen Büchern zu lesen. Als mehrere aus der Gruppe spurlos verschwinden, machen sich ein Junge und ein Mädchen in dem geisterhaften Gebäude auf die Suche nach ihnen.

Obwohl fast die gesamte erste Hälfte von Detention unter dem Zwischentitel „Albtraum“ steht, lassen sich Traum und Wirklichkeit nie so ganz trennen. Die politischen Monstrositäten und persönlichen Abgründe formen sich etwa zu einem bedrohlichen Propaganda-Geschöpf, das an den Slender Man erinnert und seine nicht linientreuen Opfer zerfetzt. In der zweiten Hälfte werden dann solche rätselhaften Erscheinungen zumindest teilweise mit einem Liebesdrama über Eifersucht und Verrat erklärt.

Das verbrecherische Regime wird dabei zwar einerseits zu einer diffusen, tödlichen Macht stilisiert, andererseits bleibt aber auch kein Zweifel daran, dass persönliche Schuld die Ursache für die Gräuel ist. Wenn wir zunächst sehen, dass das Monster einen Freund aus dem Buchclub verschlingt und der gleiche Junge später noch einmal von einem Funktionär erschossen wird, dann widersprechen sich diese Bilder nicht. Vielmehr erschafft Detention einen filmischen Raum, in dem sich historischer Realismus und fantastisches Schreckensszenario durchdringen.

Ständiger Kampf um Souveränität: Gangs

Auch Lawrence Laus Gangs aus dem Jahr 1988 dreht sich um die turbulenten und unkontrollierbaren Gefühlswelten Jugendlicher sowie um Fragen nach Schuld und Verantwortung. Gezeigt wird der Film als Teil einer Reihe, die, ausgehend vom aufgeheizten politischen Klima im heutigen Hongkong, einige alte und neue Arbeiten über die zerrissene Identität der ehemaligen britischen Kronkolonie vereint.

Wenn der Nachwuchsgangster Big K (Ricky Ho) sich in seinem schäbigen Zuhause betont cool die Frisur aufföhnt, während seine Eltern wegen einer in seiner Tasche gefundenen Packung Kondome erregt auf ihn einreden, wirkt das zunächst wie eine Momentaufnahme aus einem ganz normalen Teenageralltag. Tatsächlich arbeiten Big K und seine Kumpels aber als Schuldeneintreiber für die Triaden. Für die Bosse sind sie nur Kanonenfutter, für die überforderten Eltern Prügelknaben, und den Rest ihrer Existenz bestimmen ewige Konkurrenzkämpfe mit anderen Jugendgangs. Auf jeden Vergeltungsschlag muss ein weiterer, noch brutalerer folgen.

Auch innerhalb der Clique entsteht ein unkontrolliertes Kraftfeld. Mal ist es spielerisch und witzig, wie sich die Jungs gegenseitig mit Streichen und dummen Sprüchen aufziehen, dann droht aber auch schon wieder die nächste Eskalation, die meist mit viel Gebrüll und einigen Fausthieben endet. Und je schlechter nach einem eskalierten Bandenkrieg die Umstände werden, desto mehr weicht das gegenseitige Mitgefühl dem reinen Egoismus. Spannend und unberechenbar bleibt Laus sozialrealistischer, in kalten Blautönen gehaltener Gangsterfilm auch, weil sich in ihm ständig die Sympathien verschieben. Der aufbrausende, immer nur alles kaputt machende Angeber zeigt plötzlich seine weiche, solidarische Seite, der ansonsten vergleichsweise vernünftige Big K verschachert in einem schwachen Moment seine Freundin für ein paar Scheine.

In die Reihe fügt sich der Film gut ein, weil nicht nur Hongkongs Geschichte ein ständiger Kampf um die eigene Souveränität ist, sondern auch die Jungen letztlich ohnmächtig den äußeren Einflüssen gegenüberstehen. Die Vision, die Gangs zeichnet und sich dabei in melodramatische Höhen schraubt, ist alles andere als optimistisch. Denn die ewige Fremdbestimmung in diesem Kreislauf der Gewalt führt hier einzig in die absolute Zerstörung.

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