Unkontrollierte Bilder: Pre-Code-Musicals
Die Zensur des Hays-Codes im Hollywood der 1930er Jahre betraf nicht nur Sex und Moral, sondern bedeutete vor allem das Ende einer Lust an der Form. Eine gestern zu Ende gegangene Reihe des Filmkollektivs Frankfurt zeigt Musical-Bilder, die noch nicht gemaßregelt wurden.

Der Blick in die Filmgeschichte ist immer ein Blick in eine Vergangenheit, deren Zukunft bereits bekannt ist. Möchte man tatsächlich etwas über vergangene Filme lernen, ist es manchmal gut, nicht die im Nachhinein zu Klassikern erklärten Filme anzuschauen, sondern eine Art Stellenlektüre im historischen Kinoalltag zu betreiben. Nicht als anti-kanonische Geste, sondern als Blick auf das, was das Publikum in einer bestimmten Zeit im Kino sehen konnte. Eine Reihe des Filmkollektivs Frankfurt versucht nun einen Einblick darin zu geben, was in der Pre-Code-Ära als Musical präsentiert wurde.
Der „Production Code“ der Motion Pictures Producers and Distributors Association, nach deren Gründer auch „Hays-Code“ genannt, wurde in den USA 1927 eingeführt. Ziel war es, heimische Filmproduktionen auf die Einhaltung der herrschenden moralischen und gesellschaftspolitischen Normen hin zu überprüfen. Doch erst im Juli 1934 wurde der Code durch die neu gegründete Production Code Administration auch konsequent angewandt. Es gab also eine Ära, mitten in der Großen Depression, in der dieser Code bereits über den Bildern schwebte, sie aber noch nicht kontrollieren konnte.
Wie etwas filmisch wird: Madam Satan (1930)

Die Filmreihe beginnt mit Madam Satan (1930) von Cecil B. DeMille, einer in zwei gänzlich unterschiedliche Hälften geteilten Komödie. Die Ausgangssituation ist einfach und kompliziert zugleich: Bob (Reginald Denny) betrügt seine Ehefrau Angela (Kay Johnson) mit dem Showgirl Trixie (Lillian Roth). Als Angela aus der Zeitung davon erfährt, behauptet Bob kurzerhand, Trixie sei die Ehefrau seines besten Freundes Jimmy (Roland Young). Die ersten ca. 50 Minuten spielen sich ausschließlich in Innenräumen ab, in denen Bob immer wieder versucht, seine Affäre vor seiner Frau, die längst Bescheid weiß, zu verheimlichen. Während die Männer sich trottelig verhalten, konkurrieren die Frauen auf spielerische Weise miteinander. Ausgehend von dieser Konstellation bringt der Film seine Figuren über Räume und Möbel wie etwa Schlafzimmer- und Schranktüren in Bewegung.
Die Verwechslungskomödie wird dann durch das Bild einer Fahrkarte von einem gänzlich anderen Setting abgelöst. Denn die zweite Hälfte spielt beinahe ausschließlich auf einer riesigen Party im Inneren eines Zeppelins, auf der Bob, Trixie und Jimmy nach und nach auftauchen, bis schließlich Angela in der Verkleidung der Madam Satan einen großen Auftritt hinlegt. Aus der Intimität der Innenräume und der Reduktion auf die vier Hauptfiguren wird hier auf einmal ein Massenspektakel, das schon eher an die epischen Filme DeMilles erinnert. Das Musical wird als Bewegung von Leuten, die exzentrische Dinge tragen und tun, zum Beispiel eine von einer Art Blitz-Gottheit gesteuerte Choreografie aufführen, zur wilden Tanz- und Ausstattungsschau. Dabei verschieben sich die Machtverhältnisse innerhalb des Bildes immer mehr. Bald ist es Angela, die die Bewegungen der Masse dominiert. Sie kontrolliert die Blicke nicht nur aller Personen, sondern auch den der Kamera. Der große Schlussakt, in dem endgültig das Chaos auf dem Zeppelin ausbricht, sorgt für die Versöhnung des Ehepaares und führt das Drama wieder zurück zu seinem Ausgangsort.

Die beiden Hälften stellen zwei verschiedene Modi filmischen Ausdrucks dar. Der erste Teil versteht die Beziehung der Figuren zueinander als situatives und räumliches Verhältnis, während der zweite Teil einen visuellen und musikalischen Exzess produziert und so das Bild-Figur-Verhältnis auf gänzlich andere Art entwickelt. Beim Musical geht es immer um die Frage, wie sich etwas ausdrücken lässt, das mit Worten nicht zu beschreiben ist, kurzum: wie etwas filmisch wird. In DeMilles Film kann man zwei verschiedene Prozesse der Filmwerdung beobachten, die aus der gleichen Ausgangssituation etwas gänzlich Unterschiedliches machen.
Die gruselige Seite des Puppenspiels: I Am Suzanne! (1933)

Auch I Am Suzanne! (1933) lässt sich nicht auf eine einzige Form herunterbrechen. Der Film, als Starvehikel für die sehr kurze Hollywood-Karriere von Lillian Harvey gedacht, dreht sich um eine junge Tänzerin in einem Pariser Revuetheater, die bei einem Auftritt den Puppenspieler Tony (Gene Raymond) kennenlernt, der eine Puppe von ihr anfertigen möchte und sich dabei in sie verliebt. Ihr Manager „Baron“ (Leslie Banks), der sie emotional und ökonomisch erpresst, versucht diese Ehe zu verhindern. Aufgewühlt hat Susanne bei einem Auftritt einen Unfall und kann für lange Zeit nicht mehr tanzen, was sie dazu bringt, der Puppenspiel-Truppe beizutreten und sich ihrerseits in Tony zu verlieben.
Der Film wirkt wie eine Mischung aus The Red Shoes (1948) und Frank Capras The Miracle Woman (1931). Auf der Oberfläche fast kindlich, wird er in der Tiefe immer brutaler und gruseliger. Die Ökonomie des Revuetheaters, die vom Baron verkörpert wird, sieht Suzanne nur so lange als Star, wie sie ein bewegliches Subjekt ist. Sobald sie immobil wird, verliert sie ihren ökonomischen Status. Ihr Anschluss an die Puppen ist folgerichtig, denn diese ahmen menschliche Bewegungen nach, wie Suzanne erkennt, als Tony eine Skizze von ihr anfertigt, die ausschließlich aus ihren Arm- und Beinbewegungen besteht. Sie können ihr auf eine vermittelte Art ihre Mobilität und Subjektivität zurückgeben. Dieses Verhältnis gipfelt in einer Aufführung, die Suzannes Bühnenshow mit Puppen imitiert.

Zugleich ist die Romantik des Puppentheaters, die von Tony verkörpert wird, eine Falle und ein Abhängigkeitsverhältnis, in das Suzanne sich nun hineinbegibt. So erzählt dieser Film auch vom stetigen Kampf zweier Männer um die Kontrolle über eine Frau, der seinen Ausdruck in dem von beiden an verschiedenen Stellen des Films ausgesprochenen Satz „I am Suzanne!“ findet. Sie versuchen einzuhegen, dass nur Suzanne die Welt in Bewegung bringen kann und ohne sie Stillstand herrscht. Dieses Machtverhältnis wird am Ende, wie könnte es anders sein, auf der Bühne in einer großen Tanznummer aufgelöst, in der Suzanne ihre Autonomie in der Rückkehr zu ihrer eigenen Bewegung finden und anschließend eine gleichberechtigte Beziehung mit Tony eingehen kann.
Der Regel folgend, dass es keine schlechten Puppenszenen im Kino gibt, sind auch hier wunderschöne, sehr lange Puppenspielszenen die tollsten des Films, weil sie inmitten der formalen Versatzstücke des Musicals und des Dramas eine ganz eigene Materialität und Bewegung produzieren. Zugleich zeigt sich in ihnen auch die gruselige Gegenseite sowohl der Puppen wie der Beziehung von Tony und Suzanne. Denn Tony hat ein geradezu fetischisiertes Verhältnis zu seinen Puppen, die als kinematografisches Objekt immer gleichzeitig tot und lebendig sind und in ihrer Übertragung menschlicher Bewegungen etwas produzieren, das nicht ganz von ihnen, aber auch nicht ganz vom Menschen kommt. Symbolisch für dieses gruselige Verhältnis steht eine Torte, aus der mehrere Puppenbabys herauskommen, die Suzanne als Hinweis darauf versteht, dass sie eben solche gebären soll. Gegen Ende hat sie einen Albtraum, in dem sie glaubt, von den Puppen erst vor Gericht und dann um die Ecke gebracht zu werden. Grausamkeit in einem unbescholtenen Setting. Die Bilder scheinen hier noch nicht gemaßregelt zu sein.
Der schlimmste Mann bleibt übrig: It’s Great to Be Alive (1933)

Diese Freiheit der Form führte auch zu Filmen, die bei aller Offenheit und Radikalität ihren eigenen Zusammenhang aus dem Blick verlieren, so wie It’s Great to Be Alive (1933). Zu Beginn wird der Pilot Carlos (Raul Roulien) von seiner Verlobten Dorothy (Gloria Stuart) aufgrund diverser Affären verlassen. Als er einen Flug über den Pazifik unternimmt, stürzt er ab und lebt fortan auf einer einsamen Insel. Während seiner Abwesenheit bricht auf der Welt eine Pandemie aus, an der alle Männer sterben. Nur Carlos überlebt und wird als letzter Mann auf der Welt in allerlei absurde Situationen gebracht.
Der Film beginnt ebenfalls als eine Art musical comedy, verwandelt sich dann aber in ein rasantes Sci-Fi-Spektakel, in dem immer wieder gesungen und mit diesem Gesang gearbeitet wird. Die Utopie der männerfreien Welt ist keine wirkliche, denn aus Fortpflanzungsgründen sind die Frauen ständig auf der Suche nach einem Mann. Die Umdrehung liegt hier darin, dass der schlimmste aller Männer übrigbleibt und in Spiegelung des Anfangs, an dem alle weiblichen Figuren ihn anhimmeln, Carlos zum passiven Schauobjekt gemacht wird. So gibt es eine Auktion, auf der er höchstbietend verkauft werden soll, oder zum Schluss eine große, UN-ähnliche Versammlung, auf der alle Staaten der Welt über ihn verhandeln. Über die gesamte Zeit hält der Film aber nicht so richtig Schritt mit seinen Bildern und ächzt unter der Last seiner zweifelsohne abgedrehten Geschichte. Beim Ineinanderschieben der Genrestücke geht etwas verloren, aus der Reibung des Musicals, der Sci-Fi-Bilder und der Komödie entstehen schöne Einzelmomente, die sich aber untereinander fremd bleiben.
Die Bühne ist backstage: Murder at the Vanities (1934)

Den Abschluss der Reihe macht ein Backstagemusical von Mitchell Leisen, das in den letzten Tagen der Pre-Code-Ära veröffentlicht wurde. Dabei fühlt sich Murder at the Vanities (1934) über den gesamten Verlauf wie eine sehr gute Folge der Hulu-Serie Only Murders in the Building (2021–) an. Während auf der Bühne ein Musical aufgeführt wird, geschieht hinter ihr ein Mord, der im Verlauf der Aufführung nach allerlei Verwirrungen aufgeklärt wird.
Der Backstage-Bereich des Theaters ist die eigentliche Bühne. Der Film lebt von dieser Gegenüberstellung des Innenraums, in dem sich das große Drama abspielt, und der öffentlich sichtbaren Bühne, auf der das Drama verarbeitet wird. Die Differenz zwischen beiden Szenarien löst sich aber insofern auf, als dass beide ohne das jeweils andere nicht voranschreiten können. Die Musicalnummern werden wieder in eine neue Form überführt, weil sie nicht so sehr dem Ausdruck von Gefühlen dienen, sondern bewegliche Bildelemente sind, die die Kriminalhandlung immer wieder unterbrechen. Gesungenes und Gesprochenes treffen als Ausdrucksformen aufeinander und erzeugen Spannung im jeweils anderen: Wird der Mord aufgeklärt? Kann die Show beendet werden?

Wie im ganzen Programm zeigt sich auch bei Leisen, dass Pre-Code nicht bloß eine Zeit des Unmoralischen und der offenen Sexualität gewesen ist. Vielmehr finden in diesen Filmen Aushandlungen darüber statt, was ein Musical für Bilder produzieren und wie weit man es mit der formalen Freiheit treiben kann. Sie reflektieren ihre eigene Film- bzw. Musicalwerdung, indem sie verschiedene, nicht immer kompatible Formen des filmischen Ausdrucks miteinander kombinieren und Differenzen nicht auflösen, sondern sich von ihnen treiben lassen. Die gesellschaftlichen Normen des Hays-Codes existieren zwar bereits, aber es scheint so, als wären die Formen dieses Kinos noch nicht davon gefangen genommen worden. Das Musical ist nur ein vager Ausgangspunkt für alle gezeigten Filme, die ihm etwas hinzufügen, was mal mehr, mal weniger zusammenfindet. Genres und auch filmgeschichtliche Epochen haben kein festes Set an Regeln, sondern mit jedem Film entsteht ein neuer Diskussionszusammenhang, öffnet sich eine neue Perspektive auf das Kino.
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