Ungeborene Zwillinge – Abgelehnte Filmmusik

Kinematheken widmen sich in ihren historischen Programmen allzu selten einem Aspekt, der das Kino seit Einführung des Tonfilms entscheidend mitprägt: die Filmmusik. Eine Reihe im Filmmuseum Frankfurt schafft nun nicht nur Abhilfe, sondern geht noch einen Schritt weiter. Ein Gespräch mit Kurator Sebastian Schwittay.

„The Replacement Business - Alternative und abgelehnte Filmmusik aus Hollywood“ präsentiert bereits seit Anfang Januar und noch bis Ende März Filme, deren Musikkonzept während der Produktion verändert wurde. Gezeigt werden die Release-Fassungen der entsprechenden Filme – begleitende Vorträge von Filmmusik-Experten verschaffen jedoch einen Eindruck der alternativen Versionen, die nie realisiert wurden. Sebastian Schwittay hat die Reihe zusammengestellt und ist Teil des Filmkollektivs Frankfurt.

Lukas Foerster: Wie Du in Deiner Einleitung zur Reihe schreibst, ist die Musik ein entscheidender Bestandteil der emotionalen Erfahrung eines Films und in gewisser Weise seiner Identität. Insofern bedeutet es einen ziemlich weitgehenden Eingriff ins Werk, die Musik auszutauschen. Die Fälle sind natürlich unterschiedlich, aber auf welcher Basis wird eine solche Entscheidung im Allgemeinen gefällt?

Sebastian Schwittay: Die Gründe für einen ‚score replacement‘ sind vielfältig. Zum Beispiel kann mangelhafte Kommunikation zwischen Regisseur und Komponist eine Rolle spielen, wie im Falle von Alien (1979), bei dem Ridley Scott weite Teile von Jerry Goldsmiths Erstkonzept verworfen hat, nachdem die Musik bereits aufgenommen worden war. In solchen Fällen wurde regelrecht aneinander vorbei gearbeitet. Die Entscheidung kann allerdings auch vom Studio ausgehen. Nach enttäuschenden Test-Screenings gerät häufig die Musik ins Visier der Produzenten, insbesondere wenn die vom Testpublikum ausgefüllten Fragebögen auf ein „Problem“ mit der Musik hindeuten. Nach einer Testvorführung von Wolfgang Petersens Troy (2004) wurde Gabriel Yareds Musik vom Publikum als „zu altmodisch“ kritisiert, was schließlich zur Ablehnung seines groß angelegten Scores im Stil der 1950er führte.

Nicht selten kommt es im Zuge eines solchen Musiktauschs zu einer völligen Neuausrichtung des Films. Das betrifft musikalische Figurencharakterisierungen wie auch Genre-Verortungen. Elmer Bernsteins abgelehnte Musik zu Walter Hills Last Man Standing (1996) verortet den Film etwa in einer klassischen Western-Tradition, während Ry Cooders Saxophon-lastiger Ersatzscore die Erzählung näher an den Film Noir rückt. John Coriglianos abgelehnte Musik zum Mel-Gibson-Thriller Edge of Darkness (2010) spendiert der Figur der ermordeten Tochter ein wunderschönes Thema, das am Ende in ein Musical-ähnliches Tableau mit Solo-Sopran (!) mündet; Howard Shores eher funktionale Ersatzmusik hält sich mit komplexer Figurenausleuchtung hingegen sehr zurück.

Letztlich – und das möchte die Reihe neben anderen Aspekten erfahrbar machen – haben Filme mit abgelehntem Score eine Art ‚ungeborenen Zwilling‘. Sie mögen gleich aussehen, haben aber aufgrund der verschiedenen Musikkonzepte teils völlig unterschiedliche Persönlichkeiten. Wenn die abgelehnte Musik aufgenommen und veröffentlicht wurde (oder wenn es gar verschiedene offizielle Musikfassungen des Films gibt), haben wir das Glück, beide ‚Zwillinge‘ kennenlernen zu können.

Filmmusiken entstehen relativ spät im Produktionsprozess und sind gewissermaßen, neben dem Schnitt und teuren Nachdrehs, die letzte Möglichkeit, einen Film noch zu "retten". Ist die Filmmusik da vielleicht manchmal ein naheliegender Sündenbock für Dinge, die an anderer Stelle in einer Produktion schiefgelaufen sind?

Komponisten wie Elliot Goldenthal (Heat, Alien³) würden hier widersprechen. Er meint, dass selbst die beste Filmmusik keinen misslungenen Film retten könne. Andererseits ist es ein offenes Geheimnis, dass Jerry Goldsmith im Laufe seiner Karriere oft angeheuert wurde, um einen eventuell durchschnittlichen Film mit dem besonderen Qualitätssiegel einer Goldsmith-Musik schmücken zu können. Und natürlich ist es so, dass Filmmusik eins der letzten „Stellräder“ ist, mit dem man die Ausrichtung eines Films beeinflussen kann – siehe das oben genannte Troy-Beispiel. Geschieht dies jedoch überstürzt und „in letzter Minute“, kann unter Umständen eine besonders charaktervolle Version eines Filmes verhindert werden.

In mehreren Filmen der Reihe scheint der ursprüngliche Score durch konventionellere oder poppige Musik ersetzt worden zu sein. Gibt es auch den umgekehrten Fall, also dass ein neuer Score musikalisch avancierter ist als der abgelehnte?

Tatsächlich ist es so, dass avancierte oder ambitionierte Ansätze besonders Gefahr laufen, abgelehnt zu werden. Eins der auffälligsten Beispiele unserer Reihe ist Craig Safans avantgardistischer Score zu Wolfen (1981), der durch eine deutlich traditionellere Partitur von James Horner ersetzt wurde.

Ein Gegenbeispiel wäre vielleicht Hitchcocks Frenzy. Ohne auf einer musikalischen Ebene komplexer zu sein als Henry Mancinis ‚rejected score‘, setzt die Musik von Ron Goodwin clevere kontrapunktische Akzente, etwa wenn sie im triumphalen „Main Title“ noch nichts von der Düsternis der folgenden zwei Stunden preisgibt und eher an ein prachtvolles royales Drama denken lässt. Die Musik führt das Publikum auf eine falsche Fährte. Auf einer dramaturgischen Ebene ist das tatsächlich spannender als – wie Mancini – direkt mit der Tür ins Haus zu fallen.

Die meisten Filme der Reihe stammen aus den 1970er und 1980er Jahren, der jüngste aus dem Jahr 2004. Gibt es auch aktuelle Beispiele abgelehnter Filmmusiken aus den letzten Jahren, die Dir bekannt sind?

Zunächst muss gesagt werden: das Phänomen des ‚score replacements‘ zieht sich durch die gesamte Hollywoodgeschichte. Es gibt in Hollywood den berühmten Ausspruch unter Komponisten, dass man kein echter Filmkomponist sei, solange man nicht mindestens einmal abgelehnt wurde. Es ist Teil des Business und passiert ständig, daher auch der Titel der Reihe: „The Replacement Business“.

Eins der jüngsten Beispiele ist Michael Manns Ferrari (2023). Elliot Goldenthal, mit dem der Regisseur bereits bei Heat und Public Enemies zusammengearbeitet hatte, wurde nach einigen Monaten aus dem Projekt entlassen. Daniel Pemberton schrieb eine eher zurückhaltende Ersatzmusik, was darauf schließen lässt, dass Goldenthals Ansätze zu avanciert waren. Leider werden wir diese wahrscheinlich nie zu hören bekommen, da es – nach aktuellem Kenntnisstand – keine Recording Sessions gab.

Aber, und das ist das Trostpflaster für jeden betroffenen Komponisten: er kann die abgelehnten Kompositionen in vielen Fällen weiterverwenden. Alex North hat aus seiner Musik zu 2001: A Space Odyssey jahrzehntelang „recycelt“ – sei es im Vatikan-Drama The Shoes of the Fisherman (1968) oder im Disney-Fantasyfilm Dragonslayer (1981). Bei aller künstlerischen Ambition zeigt sich hier letztlich eine gewisse Pragmatik. Und die ist in Hollywood überlebensnotwendig.

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