Überwachen und Wundern: Ein Berlinale-Remix

Nach zehn Tagen Kino wuseln die Bilder noch ineinander, während manche Filme erst langsam miteinander ins Gespräch kommen. Versuch, ein bisschen Ordnung ins Chaos zu bringen, und andersherum.

Neue Frauen unter Einfluss: In The Intruder übersetzt sich ein Trauma in eine Körperinvasion und kann höchstens noch weggeträumt werden, in Shirley grinst Elisabeth Moss der Gastgeberin wunderbar debil ins Gesicht, während sie Rotwein auf den Teppich schüttet, in Anne at 13,000 ft ist eine Erzieherin so fies zur Kollegin wie zu jenen männlichen love interests, die ihre Intensität erst attraktiv und dann ballaballa finden. Dann lieber Fallschirmspringen! Drei weibliche Fahnenfluchten angesichts bis in den Suizid selbstsüchtiger, bis ins Intime kontrollsüchtiger oder einfach stinklangweiliger Kerle. Harmonie ist eine Strategie, die feministische Wahrheit liegt im Wahnsinn.

Die Gegenwart der Vergangenheit: Es gab ordentlich 19. Jahrhundert in der offiziellen Auswahl. In Kelly Reichardts Schelmenwestern bringt die First Cow erst den Hipster-Kapitalismus in den amerikanischen Westen und wird dann eingehegt, Cristi Puiu sperrt ein paar gestandene Europäer in ein Anwesen bei Malmkrog und lässt sie über Gott und die Welt philosophieren, während ersterer stumm bleibt und letztere untergeht, und All the Dead Ones spuken weiter: Die Sklaverei hat einen Rassismus erschaffen, der im Gegensatz zu ihr selbst nicht einfach abgeschafft werden kann. Mangelndes Geschichtsbewusstsein kann man der Auswahl nicht vorwerfen.

Postkoloniale Aneignungen, ins Leere laufend: Er müsse weiterziehen, er sei schließlich ein Mann, sagt der verzweifelte Ivorer Inza in After the Crossing, der nach Italien sein Glück in Frankreich versuchen will, zu seiner Freundin. Ein Versuch, profanen Zwang in romantischen Drang zu übersetzen, wie aus dem Kerouac-Lehrbuch. In Shine Your Eyes verschwindet ein Nigerianer mit akademischen Ambitionen, aber ohne das nötige Geld fürs Studium, in São Paulo, anscheinend durchgedreht beim Versuch, das Universum und seine Quanten zu verstehen, ein Universal-Hologramm zu erstellen. Die Postkolonialisierung des mad scientist als letzter Versuch, die Welt nochmal von vorn zu denken. Filme, die wissen: Die Romantik des Weiterziehens und des Neuanfangs muss man sich leisten können.

Selbstkritik zum Selbsterhalt des Auteurs: Toxische Männlichkeit scheint angekommen bei männlichen Autorenfilmern. Aber wo Philippe Garrel die weiblichen Opfer seines neuesten arschigen Cuties betrauert, um sie dann doch rechts und links neben der Leinwand liegen zu lassen, als Opfer eben, ist Hong Sang-soo konsequenter: Die Kamera fällt den Männern tatsächlich in den Rücken. Die beiden Filmtitel sind kein Zufall: The Salt of Tears stochert im Eigenen, wo The Woman Who Ran nach draußen flieht.

Liebe in Zeiten der Gentrifizierung: Lässt sich im jüngst wieder adelstreuen Berlin bald nur noch unter Wasser leben? Wo Undine war, ist jetzt jedenfalls ein Airbnb oder sowas. Flucht in den Mythos, oder doch in den Untergrund, wie im passend konfusen Funny Face? Christian Petzold hat einen konkreten Film über Undurchsichtiges in Berlin gemacht, Tim Sutton einen undurchsichtigen Film über Konkretes in Brooklyn. Hier schickt der Senat eine promovierte Historikerin vor, dort gibt‘s echte 1%-Repräsentanten, die Anzüge und Aktenkoffer tragen und laut „Money!“ durch ihre Limousinen schreien. Schöne stadtpolitische Rants in beiden Filmen, einmal als Probevortrag, einmal als Ausraster, nachdem die Knicks mal wieder verloren haben und man von den Nets trotzdem nichts wissen will.

Postmigrantisches Deutschland, this time for real: In Futur Drei kommt es zu geflüchtet-queer-provinziellen Verkettungen vor einem Background namens Deutschland, das im radikal nicht-menschelnden Berlin Alexanderplatz konsequent von unten in den Blick genommen wird. Heimat gibt‘s nicht zu Hause, und auch nicht in der Herkunft, weiß auch Uisenma Borchu im deutsch-mongolischen Schwarze Milch, weil man zu Hause immer von dort ist, wo man längst nicht mehr hingehört. Postmigrantisch heißt, als Normalität zu fassen, was sonst, selbst wohlmeinend, als Abweichung gefasst wird, nicht multi-, sondern eher anti-kulturell, filmisch vielleicht außerdem: Miseren nicht nur beschreiben, sondern aktiv verdrängen. Das bessere Leben muss schon jetzt auf die Leinwand, selbst wenn es sich angesichts reaktionären Widerstands vorerst nur im Futur 3 fassen lässt. Irgendwo vor dem Gefängnis wartet schließlich ein Kind.

Unterdrückte Tränen: Zwei Beiträgen gelingt es, feministische Debattenschlagworte in filmische Erfahrungswelten zu übersetzen, und dafür brauchen Kitty Green und Eliza Hittman nicht mehr als zwei erzählerisch perfekt gerahmte Gesprächssituationen: In The Assistant begreift eine junge Frau im Gespräch mit dem Personalchef, dass Strukturen etwas anderes als Regeln sind. In Never Rarely Sometimes Always kehrt die Gewalt als Fragebogen bei der Beratung zurück. #metoo und Pro-Choice werden zu einem Bild: Eine Frau sitzt am Tisch, ein Inneres wird sichtbar, nicht als bestimmbare Emotion, nicht als Ausbruch, sondern als ein Kampf mit sich selbst, zu dem die Welt sie gezwungen hat.

Produktion und Verweigerung: Schöne Dokumentarfilme in den Nebensektionen. Wieso ist der scheinbar direktere Draht zur Welt kein Ausweis des exzentrischen Genies mehr, sobald etwas im Spiel ist, was man gemeinhin Behinderung nennt? Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist, sollte man doch eigentlich meinen. Jetzt oder morgen, fragt dagegen Claudia, die vielleicht mal ihr Leben auf die Reihe bekommen sollte, oder das Leben sie. Featuring: Mariah Carey und Whitney Houston als letzte, die noch an den österreichischen Traum glauben, und ein Mansplaining politischer Schönheit.

Retro-Revolutionäres: Die B.Z. schrieb einst empört über den ersten Jahrgang des Forums, sein Schwerpunkt habe auf dem „ausnahmslos mit Linksdrall versehenen politischen Film“ gelegen. Und jo: Allein dreimal Porträts von schwarzen Aktivist*innen aus den USA, toll darunter vor allem The Murder of Fred Hampton: Scharfe Rassismusanalyse gepaart mit leidenschaftlicher Agitation für einen farbenblinden Sozialismus, wer so schnell denken kann wie der Chicagoer Anführer der Panthers, kann sich seines Lebens wohl wirklich kaum sicher sein. Überhaupt beim Wiedersehen mit den politischen Filmen von 1971 das Gefühl, nicht nur da draußen auf einmal in der Defensive, sondern auch da drinnen schon mal weiter gewesen zu sein.

Die Jugend von heute: Die Nackten Tiere kommen erstaunlich gut klar im engen 4:3-Rahmen und müssen sich trotz aller Widrigkeiten gar nicht erstmal selbst finden, wie etwa jener Schmetterling, der nicht nur seinen Kokon verlassen, sondern leider auch sein Milieu verraten muss. Ein bisschen studentisch fühlen sich beide deutsche Coming-of-Age-Filme an, aber einer baut eine untergründige Spannung auf, die sich nicht entladen muss, und der andere hat ein paar schöne queerselige Momente. Der kanadische Goddess of the Fireflies dagegen ist niemals erratisch, sondern durch und durch jugendlich und verwechselt das nicht mit Freiheit.

Schließlich das wilde erwachsene Leben, inszeniert: If It Were Love liebt nicht nur den Techno, sondern auch die Wünsche, Ängste und Hoffnungen, die er erfüllen oder in die Flucht schlagen soll. Man nimmt sich immer mit, in den Club und in die Aufführung und sonstwohin, ein so schlichter wie komplexer Sachverhalt, den der Film umkreist, während er eigentlich nur Theaterproben begleitet. If it were love? It might just be. Wer lieber säuft als tanzt, hat es hoffentlich in Bloody Nose, Empty Pockets geschafft, der beste Platz ist dort nämlich tatsächlich an der Theke, und an welchem Punkt zwischen Fiktionalem und Dokumentarischem sich das Ganze abspielt, ist spätestens egal, als die Überwachungskameras nur noch Wunderkerzen sehen – und das Kino seine beiden Sinne mal gleichzeitig erfüllt.

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