Trust Your Mindstream! – exff 2021

„Don’t strain to read the film, as if there is a message.“ Der Regisseur Jerome Hiler sieht es nicht als Nachteil, wenn man sich in seinen Bilderkaskaden und Kollisionsmontagen verliert. Ihm und drei weiteren Filmemacher*innen widmete ein neues Experimentalfilmfestival in Frankfurt eine Werkschau.

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Krzysztof Kieślowskis Der Filmamateur (Amator, 1979) erzählt die Geschichte eines einfachen Arbeiters, der sich eines Tages eine Super-8-Kamera kauft, nach ersten Versuchen im Familienkreis und Auftragsarbeiten für seine Fabrik sehr schnell künstlerische Ambitionen entwickelt und anfängt, mit den Zeit und Raum manipulierenden Möglichkeiten der Montage zu experimentieren. Der Film gewährt dabei Einblicke in die kleinen Filmclubs der Provinz und in die Festivals der größeren Städte, die im Ostblock eine Kultur des Amateurfilms lebendig hielten.

Die Arbeiten der jugoslawischen Regisseurin Tatjana Ivančić, der die erste Werkschau bei den diesjährigen tagen des experimentellen films in Frankfurt am Main gewidmet ist, entstammen eben dieser Welt. Laut Petra Belc vom Kinoklub Zagreb, die die Reihe per Video einleitet, bewegen sich Ivančićs Filme zwischen Homemovie, Dokumentar- und Experimentalfilm, ohne es sich in einer dieser Kategorien bequem zu machen. Auf der Seite des Dokumentarfilms finden wir vor allem Studien der Flora und Fauna Jugoslawiens, auf der Seite des Experimentalfilms Momente, in denen das Flimmern der Wasseroberfläche die Aufmerksamkeit Ivančićs bannt und sie die Wechselwirkung von filigranen Lichtreflexen und Filmmaterial erforschen lässt (Bis zum letzten Tropfen, Do posljednje kapi, 1972), oder die Spiegelung des Stadtlebens und der Silhouette der Filmemacherin in den Schaufenstern der Drogerien Prags (Die Stadt im Schaufenster, Grad u izlogu, 1969). Zwischen Homemovie und Formexperiment hingegen ist ein Film wie Von 0 bis 2 (Od 0 do 2) angesiedelt, der schnell hintereinander montierte Geburtstage eines Kleinkindes zeigt, das vor unseren Augen gehen lernt. Diese Filme machen Gebrauch von den formalen Möglichkeiten der Montage, ohne das besonders als filmisches „Experimentieren“ herauszustellen. Besonders Ivančićs Musikeinsatz verrät großen Humor, aber auch ein Gespür für die Rhythmisierung und geschickte Re-Kontextualisierung scheinbar ephemerer Ereignisse. Ein sich in seinem Zoogehege fläzender Tiger wird durch verzerrtes Gebrüll auf der Tonspur zum Symbol schlummernder animalischer Kraft (Tagundnachtgleiche, Ekvinocij, 1973); der Bau einer großen Brücke über einer Meerenge und das lässige Spazieren der Arbeiter über dem schwindelerregenden Abgrund als Ausdruck des sozialistischen Triumphs über die Natur werden durch Wagners Walkürenritt subtil ironisiert (Der größte Tag, Najveći dan, 1979).

Diese kleine Werkschau bietet einen willkommenen Schlüssel für ein mögliches Verständnis des Experimentalfilms, wie es das exff präsentiert und das auch schon in Kieslowskis Film anklang: Die Grenzen zwischen einer als Hobby betriebenen Leidenschaft und künstlerischem Gestaltungswillen sind fließend, und nicht nur ausgebildeten Künstler*innen steht der Weg zum filmischen Experimentieren offen. Mit der Schulung des Auges und fortschreitender Beschäftigung mit dem Material treten aus den „bloßen“ Amateurfilmen schnell übergeordnete Ideen und formale Strukturen hervor, die die Filmemacher*innen manchmal in den Mittelpunkt des Interesses rücken, oft aber auch einem spielerischen Gestus der Freude am gefilmten Augenblick unterordnen.

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Wo Ivančić in der Filmclublandschaft des Ostblocks beheimatet war, da ist James Edmonds als Brite und Wahlberliner ein Vertreter der kosmopolitischen Experimentalfilmszene unserer Tage. Somit hat für ihn analoges Super 8 einen ganz anderen Stellenwert als für Ivančić, für die es schlicht das nächstliegende und günstigste Arbeitsmaterial war. Edmonds’ Gebrauch des analogen Filmmaterials ist anzusehen, dass es für ihn eine gewisse sakrale Aura hat. Auch dank der Analogprojektion, vom Filmemacher selbst durchgeführt und mit einem Kassettenrekorder in Echtzeit akustisch begleitet, gleichen die kurzen Einstellungen von Gebäuden, Bäumen und Gegenständen kleinen Epiphanien, in denen die detaillierte Tiefenschärfe des kleinen Bildrahmens die Welt gleichsam als Inventar zerbrechlicher Miniaturen erscheinen lässt. Wo Ivančić mit Alltagsaufnahmen beginnt und zu formalen Versuchen gelangt, geht Edmonds den umgekehrten Weg, will aus formalen Beschränkungen ausbrechen, strebt nach Offenheit. Die ersten zwei Filme der Reihe, Fragments/Structures (2007/2015) sowie Inside/Outside (2008/2015), stehen in der Tradition des strukturalistischen Kurzfilms eines Kurt Kren, wo eine klare Formidee schon im Titel benannt und innerhalb weniger Minuten durchgespielt wird. Die Filme neueren Datums verraten ihr Geheimnis nicht so schnell, drohen ein wenig zu einer Abfolge schöner Einzelaufnahmen zu zerfallen, machen es schwer, die zugrunde liegende, lose Formidee zu rekonstruieren. Zentral ist für Edmonds die Funktion des filmischen Bildes als Markierung eines Hier und Jetzt. So dokumentiert A Return (2018) die Momente zwischen Abreise und Ankunft des Filmemachers in seiner Berliner Wohnung und die dazwischenliegenden Aufenthalte im Landhaus seiner Eltern. Durch die Parallelisierung dieser Momente entsteht eine Bestandsaufnahme eines Lebens zwischen zwei Entwürfen von Heimat und den damit verbundenen Gefühlen, die sich in der Zärtlichkeit für die das Elternhaus umgebende Natur ebenso wie für die Kleinigkeiten des bohemistischen Großstadtlebens visuell niederschlagen.

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James Edmonds ist ein Filmemacher, der aus einer zeitgenössischen Perspektive den besonderen Reiz des analogen Filmemachens in 8 mm sowie der dazugehörigen Vorführpraxis ausreizt. Dabei sind seine Filme, wie schon angedeutet, nicht frei von einem gewissen nostalgischen Fetischismus, in ihnen herrscht eine pastorale Atmosphäre vor, und moderne Technologie ist überhaupt nicht zu sehen.

Mit den Arbeiten Jerome Hilers hat das exff auch eine Werkschau im Programm, die die Tradition, in der Edmonds steht, zu beleuchten ermöglicht. Hiler entstammt der New Yorker Avantgarde der 1960er und 70er Jahre und war, wie einem Interview auf der Festivalwebsite zu entnehmen ist, sein ganzes Leben lang damit zufrieden, als Undergroundkünstler zu wirken, dessen Filme nur in performativen Live-Kontexten vor kleinen Gruppen Gleichgesinnter gesehen werden konnten. Dort wurden die Filme spontan neu zusammengesetzt und mit mehreren Projektoren nach aleatorischen Prinzipien überblendet. Erst an seinem Lebensabend scheint Hiler, heute Mitte siebzig, das Bedürfnis überkommen zu haben, sein Archiv zu sichten und seinem Material eine definitive Form zu verleihen. Und so kommt es, dass alle Filme, die beim exff zu sehen sind, zwar erst im Laufe der letzten zehn Jahre abgeschlossen wurden, jedoch Material enthalten, das bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Wir haben es hier mit einer selten anzutreffenden Form autobiografischer Arbeit zu tun. Vergleichbar etwa mit einem Erinnerungsroman, der aus alten Tagebuchnotizen zusammengesetzt wurde, nimmt sich Hiler die Freiheit, tief in frühere Lebensphasen einzutauchen, und bemüht sich, die Essenz seines damaligen Lebensgefühls zu beschwören. Anders als Tagebuchfilmer wie Jonas Mekas bedient er sich dabei aber nicht einer sequenziellen Methode, in der die Ereignisse sich chronologisch entfalten und von einem Kommentar eingeordnet werden, sondern einer Kollisionsmontage, bei der Einstellungen nach einem Prinzip des visuellen Kontrapunkts angeordnet werden: Nicht der Inhalt der Einstellung ist entscheidend, sondern ihre Kontrastwirkung zu den angrenzenden. So kann etwa auf den Blick aus einem New Yorker Apartment ein Schwenk durch Baumkronen oder eine Wüstenlandschaft folgen, auf das Bild einer lachenden Frau an der Schreibmaschine die Überblendung von Lichtreflexen in einem Gewässer.

Das Ergebnis sind Filme von erstaunlicher Länge und Komplexität, die einer stetigen Metamorphose unterworfen sind: Nie ergeben sich ihre formalen Prinzipien aus einem anfangs festgelegten Konzept, sondern sind gewissermaßen von Einstellungsfolge zu Einstellungsfolge mal subtilen, mal sprunghaften Veränderungen unterworfen. In the Stone House (2012) etwa beginnt mit einem Gespinst schwarzer Linien, die durch Zweige auf schneebedeckten Boden geworfen werden. Sobald es sich die Zuschauerin in einem „abstrakten“ Betrachtungsmodus bequem gemacht hat, sieht sie Personen, die fröhlich durch selbige Schneelandschaft spazieren, wodurch der Film vom abstrakt-formalistischen Ende der Skala unvermittelt in den indexikalischen Modus des Tagebuchfilms übergeht. Solche enormen Sprünge zwischen Abstraktionsstufen, Zeiten, Orten und Stimmungen sind kennzeichnend für Hiler, der sich von diesen Kontrast- und Kontrapunkteffekten eine größtmögliche Intensität der einzelnen, in den Einstellungen festgehaltenen Eindrücke verspricht. Beim Zuschauen hat das den eigentümlichen Effekt, dass man sich schon nach wenigen Minuten in dieser ständig wandelnden Kaskade von Bildern verlieren, den Motiven nur für Sekunden oder höchstens Minuten folgen kann. Hiler sieht in diesem Effekt jedoch keinen Nachteil. Er ermuntert uns: „Try your best to enjoy the simple act of watching a film. Don’t strain to read the film, as if there is a message that I’m hiding from you for some reason. I'm actually your friend and I trust your mind-stream.“

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In seinem Gedicht Kellomäki von 1982 beschreibt der russische Dichter Joseph Brodsky den Aufenthalt in dem gleichnamigen Städtchen an der finnisch-russischen Grenze und versenkt sich in die Stimmung einer Landschaft von Meer, weiten Wiesen, Felsen und einsamen Holzhütten, die eine eigene Form von Weltwahrnehmung erzeugt: „Doch hier ist das Heizen, das Hacken von Holz eine Kunst / – die Axt versagt, wird stumpf. So dass, umgekehrt im Ernst- / fall manch ein Haus mit der Rückwand den Winter wärmt / und des Abends im bläulichen Glas der Veranda sogar noch Blumen zum Wachsen bringt.“ Der Aufenthalt in den nördlichen Gegenden Europas, wo ein gewisser archaischer Wind weht, die Übergänge zwischen Natur und Kultur nicht fixiert zu sein scheinen und nur eine roh behauene Holzwand die bläuliche Weite und den Permafrost vom Körper des Menschen abhält, ist auch die Welt, in die Dore O.s Kaldalon (1971) eintaucht.

Das Rohmaterial setzt sich aus Aufnahmen zusammen, die bei einer Reise nach Island entstanden sind. Wo bei Hiler oder Edmonds ähnliche Motive trotz aller formalen Abstraktionstendenzen noch als Momentaufnahmen fungieren, da ist O. bemüht, die Verankerung in einem konkreten Hier und Jetzt vollkommen aufzulösen. Sie erreicht das einerseits durch eine Teilung des Bildes in der Mitte. Anders als in einem konventionellen Splitscreen sind die Differenzen zwischen linkem und rechtem Bild jedoch oft nur marginal; so sehen wir etwa die gleiche Einstellung eines Motivs zweimal, leicht zeitversetzt. Damit verschwimmen diese Komposit-Einstellungen zu leicht fluktuierenden, psychedelischen Tableaus, aus denen sich immer wieder geometrische Formen von symbolträchtiger Kraft hervorschälen. Die desorientierende Wirkung dieser Technik wird noch durch eine repetitive Montage unterstützt, die man nur extrem nennen kann. Immer gleiche Motive, Personen, die durch die Landschaft streichen, Berge und Gewässer ziehen so oft am Zuschauer vorbei, dass er geradezu körperlich in O.s imaginäre Geografie hineingezogen wird. Wie in Brodskys Gedicht spannt diese sich zwischen den Affekten von Kälte und Geborgenheit auf, die Hütte in der Mitte der Landschaft muss die ganze Welt des Films von innen her erwärmen und bewohnbar machen.

Wie Masha Matzke von der Deutschen Kinemathek in ihrer Einführung erklärt, wurden Dore O.s Filme Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre von der linken Filmkritik verkannt, da sie nicht zum politisierten Zeitgeist passen wollten, sondern einen lyrischen Eigenweg einschlugen. Diese Marginalisierung O.s ist schon aufgrund der technischen Meisterschaft ihrer Filme höchst erstaunlich. Die leuchtenden Blau- und Erdtöne, die sorgfältige Komposition von reichen, an die klassische Spielfilmform angelehnten Kadern, die komplexen Choreografien von Rückprojektionen und Überblendungen sowie die Fähigkeit, in kürzester Zeit eine einzigartige, mystisch-evokative Filminnenwelt zu erzeugen, all das ist weit von der „kleinen Form“ des Experimentalfilms entfernt, von der O.s Œuvre einzig in der Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann Werner Nekes ein Beispiel gibt: jüm-jüm (1967) ist eine amüsante Miniatur, die eine einzige simple Idee durchspielt. Man sieht O. zu tribalisierender Trommelmusik mit der Schaukel vor einem Phallus-Gemälde hin und her schwingen, das sie immer wieder auf verschiedenen Höhen schneidet. Demgegenüber sind ihre Hauptwerke jeweils große künstlerische Statements. Ob okkulte Dekonstruktion eines Spießeridylls in einer Villa mitten im Nirgendwo (Lawale, 1969) oder fieberhafte Mediation über den voyeuristischen Blick des Kinos auf den Körper der Frau (Blindman’s Ball, 1988), vereint sind diese Filme in einem Streben nach einem Ausdruck von etwas Unaussprechlichen. Durch die gleichförmig dahinfließenden, zumeist improvisierten Soundscapes, die an die Experimente der frühen Minimal Music um La Monte Young erinnern, sowie durch die splitterhafte Andeutung narrativ-symbolischer Elemente inmitten einer hypnotisch-zirkulären Montage versetzen sie die Zuschauerin in eine ständige Erwartungshaltung, die sich als Affekt des Erhabenen und Rätselhaften manifestiert. Diese Haltung findet ihren idealen Ausdruck in den Kunstwörtern und kryptischen Formulierungen, mit denen O. ihre Filme betitelt. Für die Gefühle, die diese Filme wachrufen, müsste eine Sprache erst noch erfunden werden.

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