Trauma in Tiefenschärfe: Streaming-Tipps

Statt sich an den typischen Studiokulissen entlangzuhangeln, durchschreitet Stummfilmstar Douglas Fairbanks in Allan Dwans The Good Bad Man und The Half-Breed explosive Landschaften. Zwei frühe Western, die kaum einen Unterschied zwischen Vorder- und Hintergrund machen.

Was den Western zu mehr als einer bloßen Spielart des Actionfilms macht, die im historischen Setting bestimmte Figurentypen aufeinanderprallen lässt, ist das merkwürdige Eigenleben der vorgefundenen, vom Film unabhängig existierenden Handlungsorte. Sicher gibt es auch Pappmaché-Western, Fritz Langs tollen The Return of Frank James (USA 1940) etwa, aber das Gros vor allem der frühen Western nutzt doch den vorfilmischen (Natur-)Raum in besonderer Weise aus. Täler, Wälder, Flüsse und Felsen werden zu Gravitationszentren von eher parabelhaften Konflikten – zwischen Natur und Mensch, Gesetz und Individuum, Vater und Sohn.

Landschaften des Westerns

Trotz der historischen Settings wirkt vieles gegenwärtig; die Landschaften standen vor einem halben oder ganzen Jahrhundert schon so ähnlich da, nur die hindurchreitenden Typen sind Behauptungen. Manchmal drängt sich der Handlungsraum so stark in den Vordergrund, dass man sich später nur noch an diesen und nicht mehr an die in ihm entfalteten Plots erinnert. Nach dem Schauen eines Westerns schlage ich manchmal nach, wo genau ein Film gedreht wurde und hoffe, dass es da immer noch so aussieht. Bei anderen Genres ist mir das eher egal, dort scheint die Welt widerstandsloser von der filmischen Welt aufgesogen zu werden.

Bei Allan Dwans Stummfilm-Western The Good Bad Man und The Half-Breed (beide USA 1916) gibt es eben solche Bildrahmen sprengenden Landschaften, die einen nach dem Filmende nicht mehr loslassen: die kargen Täler des Joshua Tree National Parks und die Mammutbaum-Wälder des Calaveras Big Tree State Park. HENRI, das Streaming-Angebot der Cinémathèque française, präsentiert die beiden Filme des Hollywood-Routiniers und Vielfilmers derzeit kostenlos in tollen Restaurierungen. Dwan hat, so ist es in Peter Bogdanovichs unterhaltsamem Interviewbuch Who the Devil Made It: Conversations with Legendary Film Directors (1997) zu lesen, von den 1910er bis 60er Jahren über 400 Filme gedreht, von denen heute ein Großteil als verloren gilt. In The Good Bad Man und The Half-Breed arbeitete er mit dem ersten großen Star des noch jungen Hollywoods zusammen: Douglas Fairbanks. Dieser gibt in beiden Filmen Außenseiter, zwei von Grund auf verschiedene, die sich aber gleichermaßen der Sympathie des Publikums sicher sein konnten. Auch der an den Rand Gedrängte gehört zum Motivschatz des Genres: Das Land scheint zwar endlos weit, aber es ist nie Platz für alle da …

Just Passin’ Through: The Good Bad Man

„Passin’ Through“ (Douglas Fairbanks) ist auf Raubzug, allerdings nicht, um sich selbst zu bereichern, sondern um seine Beute Halbwaisenkindern und Witwen zugute kommen zu lassen. Eine Art Robin Hood also – die Figur, die Fairbanks einige Jahre später ebenfalls unter der Regie Dwans spielen wird (USA 1922), und die dessen Vorliebe für großherzige Gesetzlose besonders unterstreicht. Die edle Motivation von Passin’ Through scheint durch seine Vergangenheit begründet: Auch er ist ein Halbwaise, der ohne Vater aufwuchs. In einer Rückblende in der Filmmitte erfahren wir, dass dieser von jenem Mann hinterrücks erschossen wurde, mit dem der Sohn nun in der Gegenwart in Konflikt gerät. Kaum richtig in einem kleinen Städtchen im Joshua Tree angekommen, verfällt Passin’ Through der reizenden Amy (Bessie Love), die wiederum vom größten Schurken weit und breit, genannt „The Wolf“ (Sam De Grasse), begehrt wird. Der Verursacher seines Familientraumas ist also auch sein Rivale in der Liebe; dramatischer kann man eine Rachegeschichte kaum aufziehen.

The Good Bad Man entfaltet diesen Konflikt in gerade einmal 50 Minuten, und ohne irgendwelche Abzweigungen zu nehmen. Die Story ist dabei vielleicht nicht die nuancierteste, aber ihre Bebilderung (übrigens haben beide Dwan-Western beim Digitalisat von HENRI keinen beigefügten Score) durchaus besonders. Da ist die Liebesgeschichte, die ihren vielleicht schönsten Moment in einer Szene hat, die an die berühmte Bildkader-im-Bildkader-Sequenz aus John Fords The Searchers (USA 1956) erinnert. Passin’ Through und Amy stehen auf der Veranda, beide lächeln sich an, es funkt. Die Kamera – sie wird in beiden Dwan-Western von Victor Gone with the Wind Fleming geführt – ist innerhalb des Hauses positioniert und filmt die beiden in einer Halbnahen so, dass der dunkle Rahmen der Eingangstür das Bild auf die beiden Bildzentrierten hin verengt. Spektakulär ist die Tiefenschärfe dieser Einstellung: Detailreich sehen wir nicht nur die beiden, sondern auch das staubige Tal, das mitsamt der es umschließenden Berge das Bildfeld hinter ihnen ausfüllt. Man kann sich kaum entscheiden, wo man hingucken möchte.

Eine andere Einstellung zieht ebenfalls ihren Reiz aus der hierarchielosen Durchmessung des Raumes, bei der die Landschaft von einem funktionalen Handlungsort zu einem poetischen Schauspiel avanciert: Im finalen Shootout registrieren eine Reihe von (Super-)Totalen das Schlachtengetümmel aus der Ferne. Die weißen Rauchschwaden der Gewehrsalven ziehen geschmeidig über die Steppenszenerie. Man nimmt dieses Gewusel mehr als formschöne Mensch-Natur-Choreografie wahr, als dass man sich für die persönlichen Dramen interessieren würde, die sich da gerade in Schusswechseln entladen.

After all, you are an Indian“: The Half-Breed

Mit Fairbanks verbindet man heute vor allem, auch wegen des erwähnten Robin Hood, das ebenso akrobatische wie elegante Entlanghangeln an pompösen Studiokulissen sowie sein breites Grinsen. Als „Halbblut“ Lo Dorman bedient er nichts davon. Er ist, entgegen seiner üblichen Rollen, ein melancholischer, mehr in sich gekehrter Held, kein Showman (was ihm das zeitgenössische Publikum wohl übel nahm). The Half-Breed steht generell eher dem Melodrama als dem Spektakel nahe.

Wie bereits in The Good Bad Man kreist alles um ein familiäres Trauma, das wir vorgeführt bekommen, bevor die Story in die Gegenwart switcht: Lo ist Sohn einer amerikanischen Ureinwohnerin und eines ihm unbekannten Weißen. Als der Vater das frischgeborene Kind verleugnet und auch der Indianerstamm die Mutter verstößt, stürzt sich diese aus Verzweiflung in den Tod. Aufgezogen von einem Einsiedler, wird Lo, als auch dieser stirbt, sogleich vom Land verscheucht. Indianer seien nicht zum Eigentum berechtigt, sagen die Siedler. Das ist nur der Anfang einer Reihe von Diskriminierungen, die er als Nicht-Weißer erfahren wird. Dwans dritte Zusammenarbeit mit Fairbanks kauft man seine anti-rassistische Message wirklich ab; immer wieder wird in den Texttafeln die Ideologie der white supremacy kritisiert und karikiert.

Von der Wildnis aus zieht es den Verstoßenen in die Stadt. Und dort warten sowohl Bedrohungen als auch Verheißungen. Verheißungsvoll ist die sich gleich mit zwei Frauen anbahnende Romanze, bedrohlich speziell der örtliche Sheriff (Sam De Grasse), der ebenfalls ein Auge auf die Dorfschönheit Nellie (Jewel Carmen) geworfen hat und – große Dramatik – letztlich gegen den eigenen Sohn rassistische Ressentiments hegt. Nun kommt neben der Gefühlswelt auch die Präsenz des realen Ortes eindrücklich ins Spiel: Das andere Love-Interest, die Schaustellerin Teresa (Alma Rubens), versteckt sich wie Lo im nahegelegenen Mammutbaum-Wald vor dem Zugriff des Gesetzes.

Es ist eine Szenerie, die der ikonischen Sequenz aus Hitchcocks Vertigo (USA 1959) kaum in etwas nachsteht. Die Stämme ragen monströs aus dem Bildfeld heraus, als vertikales Strukturelement geben sie immer wieder Blicke in den Bildmittel- und -hintergrund frei, die wieder durch eine erstaunliche Tiefenschärfe ermöglicht werden. Es ist ein Labyrinth, in dem die Leidenschaften aufeinandertreffen. Dort wird dem Sheriff ein Messer in den Rücken gerammt und ein Waldbrand entfacht, dessen kontrastreiche Nachtaufnahmen wie expressionistische Holzschnitte anmuten. Ohnehin vermitteln die Wälder in The Half-Breed etwas Erhabenes. Die unberührt undurchsichtige Natur scheint hier einmal kaum für Bedrohung zu stehen – wahrscheinlich gerade auch deswegen, weil es mit dem zivilisatorischen Fortschritt der Städter wirklich nicht weit her ist.

Beide Filme kann man auf der Seite der Cinémathèque française streamen:

The Good Bad Man (1916)

The Half Breed (1916)

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