Toronto 2020: Momente und Wahrheit
Zwei sehr unterschiedliche Filme über die Liebe und den Tod: Während François Ozons Summer of 85 in seine schwule Jugendliebesgeschichte lustvoll Erzählebenen einzieht, zielt Kornél Mundruczó in Pieces of a Woman verzweifelt auf die Dartscheibe des Melodrams.

Wer direkt mit dem tragischen Ende ins Haus fällt, die Erzählung unterbricht, um eine Zukunftsebene einzuziehen, der sucht erst mal nicht nach der Intensität des Moments. So geht Summer of 85 los: Das alsbald so weiche, unschuldige Jungsgesicht von Alexis (Félix Lefebvre) sehen wir zunächst verhärtet, mit Augenringen, auf der Polizeiwache. Alexis ist zugleich Erzähler, berichtet aus dieser zukünftigen Gegenwart, wie es so weit kommen konnte, dass es jetzt eine Leiche gibt. Erst nach dieser Vorwegnahme: eine Sommerliebe am Strand, das Glück kann beginnen.
Jede Intensität des Moments steht also unter einem düsteren Stern, durch die Liebe treibt von Beginn an ein Todestrieb. Das filmische Begehren des neuen Films von François Ozon ist dagegen eines der lustvollen erzählerischen Konstruktion, eines der literarischen Vermittlung eher als des unmittelbaren Affekts.
Hausgeburt der Hölle
Wer dagegen erst mal mit einer halbstündigen Plansequenz ins Haus fällt, die auch noch eine schmerzvolle Geburtsszene zeigt, der sucht genau nach diesem unmittelbaren Affekt, der will unter keinen Umständen etwas vorwegnehmen, um die Intensität des Moments nicht zu stören. So geht Pieces of a Woman los: Martha (Vanessa Kirby) liegt in den Wehen, ihr Mann Sean (Shia LeBeouf) ist überfordert, und die eigentlich für die Hausgeburt eingeplante Hebamme schickt unbekannten Ersatz, weil sie selbst verhindert ist. Eine Geburt wie ein Krimi, aber ohne echte Suspense: Denn dass eine solch aufwendige Sequenz am Anfang eines Films eher nicht mit einer glücklichen Familie endet, dürfte klar sein.
Schmerz, Überforderung und Beruhigung halten sich nur so lange die Waage, bis die Stimmung kippt. Irgendwann setzt ein Herzschlag aus, die Hebamme scheint selbst überfordert, ein Krankenwagen ist unterwegs. Weil wir uns zu diesem Zeitpunkt an den Schnittverzicht gewöhnt haben, sind wir jetzt mitgefangen, jede Sekunde zählt, und jede Sekunde, in der nichts passiert, in der wir tatenlos im Kinosessel sitzen, bedeutet nichts Gutes für ein gerade erst geborenes Kind.
Intimer Größenwahn

Im Kinosessel sitzen, oder eben: auf den Laptop starren. Das Festival von Toronto findet in diesem Jahr zwar auch physisch statt, die Pressevorführungen sind aber in den digitalen Raum ausgelagert. Vielleicht sind es also auch die Rezeptionsbedingungen, die mich die ausgestellte Konstruktion vom Summer-of-85-Anfang dem Erfahrbarmachungseifer vom Pieces-of-a-Woman-Anfang vorziehen lassen. Denn virtuos inszeniert ist die Hausgeburt der Hölle zweifelsohne, und wie Vanessa Kirby ganz bei sich bleibt, diese Szene trägt, obwohl Shia LeBoeuf sie ganz gern stehlen würde, ist ziemlich beeindruckend.
Beeindruckt war ich einst auch sehr von Kornél Mundruczos Weißer Gott (Fehér isten, 2014), der in einer atemberaubenden Massenszene von Hunden endet, die sich Budapest untertan machen. Seinen in der Polit-Parabel erprobten inszenatorischen Größenwahn trägt Mundruczo mit Pieces of a Woman gewissermaßen ins Intime. Die halbstündige Extremsituation, die wir gemeinsam mit Martha und Sean durchstehen, soll uns an ihr Schicksal schweißen, die gezielten Stromschläge der Plansequenz sollen noch so lange nachwirken, dass wir bis zum Ende unter Spannung stehen, selbst wenn nach der Schock-Exposition die Schnittfrequenz ansteigt, selbst wenn wir schon bald nicht mehr der Kamera Benjamin Loebs ausgeliefert sind, sondern dem Drehbuch Kata Wébers, das die Nachwehen der Höllenerfahrung zeigt, mit denen Martha und Sean natürlich je für sich allein zu kämpfen haben.
Bei Ozon dagegen beginnt die eigentliche Geschichte, die auf Aidan Chambers’ Roman Dance on My Grave von 1982 basiert, auf dem Wasser: Endlich sind Ferien, Alexis leiht sich ein Boot und fährt aufs Meer, aber ein Sturm zieht auf; am Horizont und in seinem Leben, denn wer ihn retten wird, ist David, die zukünftige Leiche, in etwa so stellt Alexis ihn uns im Erzähler-Voice-over vor. David taucht aus dem Nebel auf, souverän auf einem eigenen Boot, wissend, wie man gekenterte Boote umdreht – und, klar, wie man Jungs umdreht. Benjamin Voisins Gesicht ist spektakulär: lang, aber nicht hager, mit viel Spielraum für Gesichtszüge, eine rohe Sanftheit, überall Ecken und Kanten, abgerundet nicht zuletzt durch die vollen Lippen. David ist für Alexis ein einziges vollmundiges Versprechen, das erst aufgeschoben, dann eingelöst, schließlich gebrochen wird.
Pfeile neben der Scheibe
Tolle Mütter gibt’s in beiden Filmen: Bei Ozon spielt Valeria Bruni Tedeschi die von David wie in Trance. Ihr unbeirrbarer Wahnsinn hat wohl was mit dem kürzlichen Tod von Davids Vater zu tun, beschleunigt aber vor allem die Affäre der beiden Protagonisten: Arbeite doch in meinem Laden, Alexis, ach, endlich ein Freund für meinen David. Die vielleicht ahnungslose, vielleicht allwissende Güte der Elterngeneration erinnert (wie das Period-Pieceige des Films, wie die Sonnenflut, wie das nichtssagende, weil ganz und gar körperliche Einverständnis der Jungs) an Luca Guadagninos Call Me By Your Name. Bei Mundruczo spielt Ellen Burstyn, mittlerweile 87, Marthas Mutter, eine Matriarchin, wie sie im Buche steht: hasst den proletarischen Schwiegersohn, will ihrer Tochter vorschreiben, wie sie zu trauern hat, übernimmt das Horn der Hebammen-Hexenjagd, der sich ganz Boston verschrieben zu haben scheint.
Auch in Pieces of a Woman gibt es also tolle Szenen, aber ein wenig ist es, als würden Mundruczo und Wéber eher verzweifelt auf eine Dartscheibe werfen, deren Mitte mit „Melodram“ beschriftet ist, aber nie so richtig treffen. Was übrig bleibt, ist ein Schlachtfeld voller Pfeile, die mal mehr, mal weniger Punkte geholt haben. Nah am Zentrum landen Kirby und ihre Figur Martha: Unbeirrt und pragmatisch sucht sich diese ihren Weg zurück ins Leben, während um sie herum alle zerbrechen. Aber einige Pfeile landen dafür auch neben der Scheibe: Sean baut an einem Brücken-Großprojekt mit, auf das ganz Boston stolz sein soll, und seine Erklärungen zu Reibung und Katastrophe bieten sich als Metapher fürs Zwischenmenschliche dann doch ähnlich offensichtlich an wie die allmähliche Überbrückung des Flusses als erzählerische Struktur. Shia LaBeouf spielt zudem ein wenig zu sophisticated den schlichten Blue-Collar-Dude.
Allzu menschlich unsichtbar

So fühlt sich Summer of 85 letztlich direkter, echter, lebensnäher gerade deshalb an, weil die Konstruktion so viel sichtbarer ist, so viel genauer mit Affekten aufgefüllt werden kann als jene von Pieces of a Woman, die stets meint, sich verstecken zu müssen. Ein bisschen steckt das Problem von Mundruczos Unterfangen schon in der gänzlich ungeschnittenen Geburtssequenz: Weil die Kamera in einem solch engen Innenraum letztlich die Bewegungen der Figuren nachahmen muss, um ihnen auf den Fersen zu bleiben, wird sie zu einem Körper, der allzu menschlich erscheint und daher zunehmend Mühe hat, unsichtbar zu bleiben.
Bei Ozon dagegen versteckt sich nichts, ist alles von vornherein geformt, und doch bleibt am Schluss, wenn auf dem Grab endlich getanzt werden darf, viel mehr übrig. Auch weil der Schluss kein Schluss ist, da ist Summer of 85 ganz explizit. Alexis fährt wieder aufs Meer hinaus, auf zu neuen Ufern, weil keine einzelne Geschichte ein ganzes Leben bestimmt, so in etwa heißt es im Voice-over, während Pieces of a Woman, der seine Geschichte fürs Ganze hält, mit einem Epilog endet, der nicht von dieser Welt zu sein scheint. Vielleicht ließe sich das so fassen: Ozon behandelt den einzelnen Moment als etwas, das irgendwo herkommt und irgendwo hingeht, während Mundruczo uns in ihn einzuschließen sucht, als läge in ihm schon die ganze Wahrheit.
Zu unserem ersten Bericht vom Toronto Festival 2020 geht es hier.
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