The Show Must Move On – Venedig 2024
Zwei Starvehikel zählen zu den besten Beiträgen der ersten Wettbewerbshälfte: Angelina Jolie als Maria Callas arbeitet sich an einer Frau ab, die ihren Körper der Kunst geopfert hat. Eine selbstironische Nicole Kidman wirft im Erotikthriller Babygirl die Frage auf, wer hier Macht über wen hat.

Der Festivalsonntag in Venedig: George Clooney sitzt mit Brad Pitt in der Pressekonferenz zu Wolfs und lobt Joe Bidens Rücktritt aus dem Wahlkampf als seltene Geste des Machtverzichts („It’s very hard to let go of power, we know that“). Sonst scheint er mit dem Stand der Welt ziemlich zufrieden zu sein: „I’m just very proud of where we are in the state of the world right now, which I think many people are surprised by and I think we’re all very excited by the future“. Sinngemäß also: Im Kino ist die Welt noch in Ordnung. Nicht zuletzt Deutschlands parallel ablaufende Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen stellten diese Aussage noch am gleichen Abend natürlich gründlich auf den Prüfstand.
Gegensätze ziehen sich an

Während Italiens Filmbranche mit einem Boykottaufruf derzeit Stimmung gegen die Filme von Amos Gitai und Dani Rosenberg macht (dazu mehr in Kürze), berichtete die Presse bisher vor allem über die Rückkehr der Promis an den Lido. Die Stars waren auch Anlass einer Petition, in der internationale Journalist*innen sich bei Festivalleiter Barbera über mangelnde Interviewmöglichkeiten beklagten. Das verwundert nicht, denn wer als Teil der Filmbranche nach Venedig reist, muss Reisekapital oder gute Medien als Auftraggeber mitbringen. Und die Medien bezahlen Journalist*innen nicht zuletzt für bekannte Gesichter. Neben George Clooney und Brad Pitt reisen dieses Jahr Stars wie Joaquin Phoenix, Lady Gaga, Daniel Craig, Cate Blanchett, Juliane Moore, Tilda Swinton, Jenna Ortega, Willem Dafoe, Tim Burton, Jude Law, Antonio Banderas, Angelina Jolie oder Nicole Kidman zwar an, lediglich der Joker-Cast wird jedoch zum Festivalende für Interviews zur Verfügung stehen. Für viele Kolleg*innen brachen hierdurch schlichtweg die erwarteten Aufträge weg. Ein Festivalbesuch, der viele Hundert Euro kostet, ist bei schlechter Auftragslage schnell mit roten Zahlen verbunden.
Bei derart kurz gedachten Agenturentscheidungen, die die prekäre Situation vieler Journalist*innen und Kulturarbeiter*innen ignorieren, zeigen sich die Branche und ihre Stars in einer koketten Weltfremdheit und in einem unerschütterlichen Pragmatismus. Da steht die Arbeitszeit superreicher Schauspieler*innen über dem Wohlergehen des Ökosystems Kino und dem öffentlichen Diskurs um die Filmkunst. Und doch: Gesamtgesellschaftlich betrachtet, ist das Festival in Venedig im Grunde ein zugänglicherer Ort als etwa Cannes, wo ausschließlich die Branche verkehrt – es ist ein Publikumsfestival mit öffentlichem (und noch dazu günstigem) Ticketverkauf, wo Fans im Kino die Filme und Auftritte ihrer Ikonen sehen können. Viele harren dafür bereits früh morgens am roten Teppich aus. Die Begeisterung der Kinogänger*innen am Lido ist ansteckend.
Ob sich jedoch alle im Festivalpublikum so gut wie Clooney vorstellen können, wie sich die Machtposition Joe Bidens von innen anfühlt? Oder ist das Publikum gar nicht gemeint, wenn er daran appelliert, wie gut „wir“ alle darüber Bescheid wissen, wie sich Machtverlust anfühle? Das System Kino lässt Lebensrealitäten kollidieren, wie könnte es anders sein in einer Milliardenindustrie. Während jedoch soziale Gegensätze in der Branche (und der Gesellschaft) zunehmend eskalieren, sind die Bilder auf der Leinwand kaum ohne sie vorstellbar. Zwei der Starvehikel des diesjährigen Wettbewerbs betrachten den gesellschaftlichen Status ihrer Figuren erfreulicherweise ganz genau. Und, zugegeben, diese zwei Filme zählten tatsächlich zu den besten der ersten Wettbewerbshälfte.
Angelina Jolie: Wie zum ersten Mal

Eine Biografie wie Maria Callas haben nur wenige in der Welt erlebt. Angelina Jolie gehört als Weltstar dazu und kommt der Callas in Pablo Larraíns Film Maria als Stellvertreterin des Publikums näher als jeder anderen ihrer Figuren zuvor. Vor Larraíns Kamera wird Jolie ganz unerwartet eine andere und zeigt darin, zum ersten Mal seit vielen Jahren, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, sich selbst. Während Larraín die Verfremdung liebt, die extravagante Montage, das Ausstellen der Illusion, verleiht Jolie seinem Film einen Realismus der anderen Art und eine unerwartete emotionale Nahbarkeit. Sie versucht sich freizuspielen von ihrer Rollengeschichte als Actionheldin, von ihrem öffentlichen Image als Schönheitssymbol, langjährige Ehefrau von Brad Pitt, perfekte Wohltäterin und Mutter. Sie arbeitet sich ab an Callas als einer Frau, die ihren Körper der Kunst geopfert hat, die statt ihres Karriereendes lieber ihr Lebensende in Kauf nahm, die ein Leben lang getrieben war, gegen Trauer und Trauma ankämpfte.
Wer im Film Originalaufnahmen von Callas sieht, sieht auch das Kokettieren der Diva mit der Kamera und ihre Verweigerung, sich öffentlich als verwundbar oder deprimiert zu zeigen. Die Trauer einer Privatperson, die Callas in Originalaufnahmen stets virtuos verbirgt, vielleicht nicht hätte zeigen können, selbst wenn sie es gewollt hätte, kann Jolie als Callas ganz im Gegenteil kaum verstecken. Jolie trägt in ihr Schauspiel eine spürbare Melancholie und Anspannung, die aus dem Rahmen laufen und die etwas preisgeben über die Schwere einer langen Karriere, über das Altern, ihre zerstörerische Trennung nach langer Ehe. Jolies Callas erscheint strenger und kontrollierter als das reale Vorbild. Fast fanatisch steigert sich die Schauspielerin in den Versuch, den Obsessionen und der Selbstzerstörung des Vorbilds gerecht zu werden. In ihrem Spiel unterscheidet sie sich ganz grundlegend von ihrer Figur. Jolie transformiert sich, aber wird nie die Callas. Larráin macht das zur Stärke seines Films und hilft einer Schauspielerin, auf neue Weise zu sich zu kommen.
No kiddin’: Nicole Kidman

Für die Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Halina Reijn lehnt sich Nicole Kidman im A24-Film Babygirl ebenfalls aus dem Fenster. Sie wirft dabei mit ihrem gewohnt körperbetonten Spiel noch gezielter als Jolie die Frage auf, welche Rollen für Schauspieler*innen ihrer Generation im Hollywood der Gegenwart verfügbar sind – und welche nicht.
Im Film gibt Kidman die erfolgreiche, sexuell unerfüllte Unternehmerin Romy, die eine BDSM-Affäre mit ihrem rund 30 Jahre jüngeren Praktikanten Samuel (Harris Dickinson) beginnt. Wenn dieser seine Chefin mit aufmüpfigen Sätzen und frechen Sprüchen verführen will, dazu herausfordert, ihre Fassade fallen zu lassen, oder sie dazu abkommandiert, auf allen vieren vor ihm zu kriechen, können beide das zunächst selbst kaum ernst nehmen – und lassen es dann doch geschehen, mit ungeahnten Folgen. Kidman und Dickinson loten die Nuancen der Affäre mit großem Feinsinn und viel Humor aus, während sich aus dem Altersunterschied und der beruflichen Stellung ihrer Figuren ein Spiel entspinnt, das bald auf das soziale Umfeld der beiden übergreift.
Reijn spielt im Film dramaturgisch ganz gezielt mit Grenzüberschreitungen und Absurditäten, die sich durch sämtliche Begegnungen des ungleichen Paares ziehen, und findet darin eine eigentümliche Poetik und Aufrichtigkeit ebenso wie einen Ernst, der zunehmend berührt. Auch bildpolitisch treibt sie hier geschickte Spiele, zeigt Sexzenen erst ganz gemäß den Studiokonventionen ohne Nippel und tiefe Einblicke, später völlig anders. Mit Babygirl unterstreicht die Regisseurin in ihrem dritten Langfilm die Möglichkeit eines progressiven Mainstreams und demonstriert dem A24-Publikum überraschend weise, dass Erzählungen über Geschlechterpolitik nicht queer oder experimentell sein müssen, um scharfsinnig und subversiv zu sein. Kidman gibt sich als Figur ähnlich verwundbar und orientierungslos wie einst in Dogville (2003), darf aber für Reijn eine deutlich nuanciertere (und gutherzigere) Frau spielen. Was dabei überrascht, ist, wie direkte Anspielungen auf Kidmans Äußeres immer wieder Einzug in den Film finden – etwa wenn Romys Tochter ihre Mutter nach einer Gesichtsstraffung mit einem toten Fisch vergleicht oder wenn Samuel meint, sie sehe aus wie eine Mutter und sei eigentlich nicht sein Typ. Kidman nutzt ihren Ruhm tatsächlich für Seitenhiebe auf Starallüren, darstellerische Freiräume trägt sie mit, vor Selbstironie hat sie keine Angst.
Geschickt lassen Reijn und ihr Cast (auch Antonio Banderas setzt als überforderter Theaterregisseur wichtige Akzente) soziale und politische Haltungen zwischen den Generationen aufeinandertreffen und verleihen dem Film Schritt für Schritt immer weiter neue Ebenen, bis die Frage freiliegt, wer in heutigen Gesellschaften und bis in die Familien hinein Macht über wen hat, haben könnte, haben sollte – und welche Vorstellungen von Macht heute eine junge, angeblich progressive Generation eigentlich prägen. Gerade auch Kidman mit ihrer Rollengeschichte der sperrigen Regisseur*innen und Stoffe unterstreicht diese Frage. Die Messlatte für den Mut bei der Rollenwahl hält sie jedenfalls für die junge Schauspielgeneration weiterhin reichlich hoch.
Den Systemwandel beschwören

So unterschiedlich Kidmans und Jolies Karrieren und Künstlerinnenpersönlichkeiten sind, verbindet sie doch ihr herausgehobener Status in einer extrem konservativen US-Filmindustrie. Einer Branche, die gerne mit jungen Frauenkörpern wirbt, dabei insbesondere in den USA unübertroffen prüde ist und in der Rollenangebote für Schauspielerinnen mit dem Alter rapide abnehmen. Einer Industrie, in der Filme wie Wonder Woman (2017) schon als radikal gelten. Als Aushängeschilder dieser Filmbranche, die sie über die Jahrzehnte zu Ikonen stilisiert und vermarktet hat, gehen Jolie und Kidman natürlich Risiken ein, wenn sie gegen die Gesetze und Codes des Studiosystems oder gegen ihr eigenes Image anrennen – und müssen sich gleichermaßen kontinuierlich entwickeln, um nicht entbehrlich zu werden.
Als Kidman 2018 in Karyn Kusamas Film Destroyer auftrat, mutete das beinahe an wie ein Protest. Sie hatte stark abgemagert, ihr Erscheinungsbild und ihre Körpersprache beinahe bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Figur: brutal, verbittert, gebrochen, gewaltvoll, zynisch. Ein Cop wie im New Hollywood. Nach Projekten mit Stanley Kubrick, Lars von Trier und Yorgos Lanthimos schien ihr Eigensinn auch weiterhin ungebrochen. Dass Jolie als Vertreterin des konservativen Studiokinos nun einen ähnlichen Versuch wagt und in Maria mit einem europäischen Autorenfilm ausschert, weckt Hoffnung und zeigt, dass der Wille zur Veränderung weder eine Frage des Geburtsjahrs noch ausschließlich an Hollywoodstudios gebunden ist – denn was mit den Studios nicht funktioniert, kann heute auch in den USA längst ohne sie klappen. Kleinere Firmen wie A24 oder Blumhouse beschwören mit sozialkritischen Stoffen und ästhetischer Experimentierfreude den Systemwandel und versuchen, sich weiter zu etablieren. Ob das gelingt, entscheiden nicht zuletzt die Kidmans und Jolies, wie Joaquin Phoenix unlängst zeigte, als er die neue Indieproduktion von Todd Haynes und Christine Vachon kollabieren ließ. Genug Stoff für Interviews gäbe es.
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