Texte in architektonischen Räumen – Berlinale 2020

Berlinale 2020 / Encounters und Forum: Heinz Emigholz’ Die letzte Stadt ist ein Zettelkasten in Filmform, der zugleich mit Architektur gefüllt ist. Jonathan Perels Responsabilidad empresarial zeigt bedeutungsoffene Außenansichten von Fabriken und protokolliert dazu per Voice-over die Konzernverbrechen.

Heinz Emigholz hatte sich nach dem finanziellen Desaster von Der Zynische Körper (1991) notgedrungen dafür entschieden, keine Spielfilme mehr anzugehen. Die Architektur, bereits zuvor eine maßgebliche Protagonistin seiner Filme, rückte nun ganz in den Vordergrund. Zahlreiche minimalisierte Architekturdokumentationen entstanden, die meist völlig ohne Kommentar auskommen. Seit seinem Film Streetscapes [Dialogue] (2017) gibt es allerdings wieder Sprache und auch Darsteller – Jonathan Perel ist einer von ihnen und auch im Berlinale-Film von 2020 zu sehen. Der Argentinier, der sich etwa in seinem letzteren Langfilm Toponimia (2015) mit Planstädten der ultrarechten Militärdiktatur seines Heimatlandes beschäftigte, setzt in seinem neuen Film wiederum zum ersten Mal ein Voice-over ein. Zwei Filmemacher also, die sich mit architektonischen Situationen beschäftigen; vor dem gesprochenen Wort jedoch lange „zurückschreckten“. Die letzte Stadt und Responsabilidad empresarial sind dafür nun voll davon.

Alles driftet auseinander: Die letzte Stadt

Der Film beginnt da, wo Emigholz’ letzter „Spielfilm“, Streetscapes [Dialogue], gewissermaßen endete. Spielfilm in Anführungszeichen, da wir es schon dort mit einem eigentümlichen Erzählen zu tun hatten, in dem Figuren, oder besser Teile ihrer Körper, Texte in architektonischen Räumen vortrugen, statt Emotionen in Szene zu setzen. Ein von John Erdman verkörperter Filmemacher – autofiktionales Alter Ego Emigholz’ – und ein Analytiker, der politische Dokumentarist Jonathan Perel, unterhielten sich über depressionsbedingte Arbeitsblockaden, das Verständnis vom Filmemachen, die von nazistischen Altlasten geprägte Kindheit und das Leiden mit dem eigenen Körper. Der Blick ins Ich sollte Heilung versprechen, das heißt vor allem auch: wieder Filme machen zu können.

In Die letzte Stadt treffen sich beide Figuren in der israelischen Wüstenstadt Be’er Sheva wieder; diesmal als Archäologe (Erdman) und Waffendesigner (Perel). Nicht die Zukunft wollen sie mehr in den Griff bekommen, ihnen wird nun die Vergangenheit zum Problem. Der Archäologe, auch wieder ein Emigholz-Doppelgänger, möchte sich nur noch Steinen widmen, da ihm zwischenmenschliche Beziehungen kein Glück versprechen; „language destroyed everything“, sagt er einmal. Das Eigenartige ist nun, dass kaum je ein Emigholz-Film so viel Vertrauen in die Sprache hatte wie Die letzte Stadt (aus seinen Architektur-Dokus ist sie meist völlig verbannt). Eine Art Zettelkasten in Filmform, der zugleich auch mit Architektur gefüllt ist. Letztere gerät dabei manchmal ins Hintertreffen. Die Sprache hetzt den Film auf eigenartige Weise; das Einsehen in Formen fällt zunehmend schwer.

Während der Vorgängerfilm den Dialog noch linear entwickelte, driftet in Die letzte Stadt alles auseinander. Immer neue Figuren kommen hinzu, treten in anderen Rollen und plötzlich wechselnden Episoden wieder auf, der Waffendesigner verschwindet nach kurzer Zeit. Dafür unterhält sich Erdman alias Emigholz in Athen mit seinem (ihm gar nicht mal so ähnlich sehenden) jüngeren Ich über die gemeinsame Melancholie, Homosexualität und desaströse Familiengeschichte. Auch diese Konstellation wird bald fallen gelassen. In drei weiteren Städten – Berlin, Hongkong und São Paulo – mäandern die Gespräche weiter und zielen auf die großen Menschheitsthemen: Liebe und Tod, Familie und Tabus, persönliche und kollektive Schuld, Gegenwart und kosmologische Zukunft. Unmöglich, das in eine halbwegs schlüssige Wiedergabe zu zwängen – sonst hätte es auch nicht gefilmt werden müssen, würde Emigholz wahrscheinlich sagen. Dennoch ein paar Impressionen:

Ein sich auch körperlich liebendes Bruderpaar, der eine Streifenpolizist, der andere Priester, das sich innig in einem absurd designten Beichtstuhl küsst (die Mutter ist happy darüber). Ein politischer Disput zwischen einer Chinesin und einer Fake-Japanerin (eigentlich eine Deutsche – die können besonders gut ihre kollektive Schuld leugnen) über die monströsen Verbrechen der japanischen Faschisten vor und während des Zweiten Weltkriegs. Eine exaltierte Galeristin zu Gast bei einem in einem Verschlag wohnenden Kosmologen, der langatmige Gedankenspiele über die Möglichkeiten außerirdischen Lebens anstellt. Und dann natürlich noch die Städte selbst in gekippten Kameraperspektiven: Straßenzüge der Megacitys Hongkong und São Paolo, wo sich Touristen nicht hinverirren; schön geschwungene Treppen und begrünte Wohnkomplexe; die Akropolis und die Karl-Marx-Allee. Emigholz hat übrigens seinen nächsten „Spielfilm“ schon fast fertig.

Schlichtes Konzept, bestechend gradlinig: Responsabilidad empresarial

Brecht merkte einmal sinngemäß an, dass das bloße Fotografieren einer Fabrik keine Erkenntnis über die Bedingungen ihrer Funktionsweise bereithalte; es bedürfe einer künstlerischen Aneignung, einer erst herzustellenden Perspektive, um die hinter ihrer Fassade liegenden Strukturen sichtbar zu machen. In Jonathan Perels Responsabilidad empresarial (2020) gibt es zahlreiche solcher Fabrikanlagen, samt ihren abweisend fensterlosen Fassaden, ihren hohen Mauern und Zäunen, dem aus ihnen aufsteigenden Rauch. Hinein und hinaus fahrende Fahrzeuge im Dämmerlicht; Arbeiter betreten und verlassen so die Fabrik – und wie wir erfahren werden, wurden sie in vergangenen Zeiten dabei mitunter festgenommen oder entführt.

Wie ein Detektiv observiert Perel, eine leicht wackelige Handkamera haltend, aus seinem in Unschärfe verschwimmenden Autoinneren heraus diese Komplexe. Das monumentale Scope-Format sorgt dafür, dass der Raum sich mit Alltäglichkeit füllt. Immerzu das Rauschen der anliegenden Straßen und vorbeigehende Passanten, die vom investigativen Treiben des Filmemachers nichts ahnen. Diese Fabriken, in denen Grauenhaftes geplant und ausgeführt worden ist, stehen da, als wären sie nicht weiter der Rede wert. Das dezidiert politische Anliegen des Films ist es, der Zuschauerin zu vergegenwärtigen, dass dem nicht so ist.

Denn zu diesen letztlich bedeutungsoffenen Außenansichten kommt ein von Perel selbst eingesprochenes Voice-over hinzu. Dessen Ausgangspunkt, genauer dessen kondensierter Quellentext, ist eine 1200 Seiten starke wissenschaftliche Studie, die die 2015 amtierende Regierung (bald danach abgewählt) in Auftrag gegeben hat. Ihr Inhalt: Die Verstrickung und aktive Kooperation der argentinischen Großindustrie mit der ultrarechten Militärdiktatur von 1976 bis 1983. Diese bot den Unternehmen – unter ihnen auch internationale Autobauer wie Mercedes-Benz und Fiat – einen willkommenen Anlass, sich ihrer Gewerkschaftsführer, Arbeitsratsmitglieder, allgemein der arbeitspolitisch engagierten Angestellten zu entledigen. Schwarze Listen kursierten; Entführungen, Folter, Mord und Profitmaximierung waren das Resultat. Der gemeinsame Kampf gegen die „Subversion“ wurde vom Regime etwa mit der Verstaatlichung der Konzernschulden aufgerechnet. Während die Strafverfolgung der Militärs im postfaschistischen Argentinien eine Reihe von Tätern zur Rechenschaft zog, steht dies bei den Wirtschaftsvertretern noch weitgehend aus.

Man kann trotz allem nicht sagen, dass Perel uns hier Agit-Prop oder ein (moralisierendes) Lehrstück vorsetzt. Nüchtern protokolliert der Kommentar die jeweiligen Konzernverbrechen, die Einstellungen folgen in ruhiger Abfolge dem nach Regionen gegliederten Aufbau des Referenztextes. Jede der zweiunddreißig Firmen bekommt ihre Einstellung, eingeleitet vom jeweiligen Firmenlogo. Oft existieren die Fabriken und Firmensitze noch, manche sind verfallen oder heißen anders. Man könnte sagen, Responsabilidad empresarial gehe von einem allzu schlichten Konzept aus, habe im Grunde nur eine Idee. Oder aber, eben diese sei bestechend gradlinig durchgezogen.

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