Systemwechsel am Imbissstand – Kurzkritiken vom DOK Leipzig 2019

Am Tresen wird noch das Neue Deutschland gelesen, hinter der Theke prangt schon das Langnese-Emblem – und im TV feiert der Staat seinen 40. Geburtstag. Texte von der Uni Hildesheim über Thomas Heises Imbiß-Spezial (1990) und zwei weitere Festivalbeiträge aus Leipzig.


Halb Traum (Deutschland 2019; Regie: Dandan Liu)

Dieser Film zeigt anhand dreier weiblicher Biografien, wie es um das Kunstschaffen als Arbeit, Berufung, Selbstverwirklichung in der Volksrepublik China steht. So bleibt für eine der drei Protagonistinnen nur das Fotografieren von Familienmitgliedern als letzte Selbstversicherung ihrer künstlerischen Kompetenz; für anderes lässt die Mitarbeit im familienbetriebenen Restaurant kaum Zeit. Die anderen haben sich von der Kunst ganz abgewendet. Ihre Aussagen kommen einer Ohnmachtserklärung gleich, sich im Leben nicht ganz einrichten zu können. Der Druck, Geld zu verdienen, ist zu groß.

Die drei porträtierten Frauen stehen in einem persönlichen Bezug zu der Filmemacherin. Sie alle haben sich als Kommilitoninnen an einer Pekinger Kunsthochschule kennengelernt, und das ist es, was den Film zwar nicht sonderlich originell, aber stark macht. Der Ernst, mit dem existenzielle Fragen in aller Ausführlichkeit reflektiert werden, geht einher mit der Beobachtung, dass hier alles vertraulich mitgeteilt wird.

Den Erzählungen zu folgen ist gerade deshalb interessant, weil sich die Regisseurin zu ihrem Projekt und zu den gefilmten Personen bekennt: zu ihrem abweisend bis trostlos gezeigten Heimatland, zu den alten Freundschaften, zu der Sinnsuche, die sie immer noch umtreibt. Als Zuschauer kommt man nicht umhin, überrascht zu sein, wie viele Parallelen diese Auseinandersetzung zu der Situation Kunstschaffender in Deutschland aufweist.

Vinzenz Damm

 

Family Relations (Iran 2019; Regie: Nasser Zamiri)

Haji Baba ist das Oberhaupt einer iranischen Großfamilie. Er ist durch und durch Patriarch: Widerworte werden nicht geduldet, ansonsten drohen Schläge für seine Söhne und Töchter ebenso wie für seine Frau Khadija. Mit seinen Kindern geht er nicht zum Arzt, egal wie schlimm sie sich verbrüht haben. Und nun will er ihnen auch noch ihr Erbe vorenthalten, zumindest, wenn man seinen elf Kindern glaubt.

Haji Baba selbst ist sich keiner Schuld bewusst. Die Söhne sind doch bloß undankbar und gierig. Selber schuld, wenn sie nicht gehorchen. Und es ist wirklich irritierend: Ist dieser skurrile alte Mann mit der hellen Stimme, der so liebevoll mit Pflanzen spricht, zahllose Gedichte zu rezitieren weiß und das Kamerateam ins Dorf ausführt, um vor seinen Nachbarn anzugeben, wirklich der Tyrann, der seine Frau mit einer Schaufel angegriffen hat?

Regisseur Nasser Zamiri lässt alle Beteiligten zu Wort kommen und deckt dabei einige Ungereimtheiten auf. Wer hier im Recht ist und wer nicht, wer lügt und wer übertreibt, bleibt offen. Die Themen häusliche Gewalt und patriarchale Machtstrukturen sind bedrückend, dennoch ist Family Relations immer wieder unerwartet komisch und virtuos. Zamiri hat die einzelnen Interviewsequenzen so geschickt miteinander kombiniert, dass sie perfekt aufeinander Bezug nehmen, sich deutlich widersprechen oder ergänzen. Und ganz nebenbei bieten die vielen kurzen Szenen auch einen intimen Einblick in das iranische Familienleben auf dem Dorf.

Lisa Schlegel

 

Imbiß-Spezial (DDR 1990; Regie: Thomas Heise)

Die Kamera vollzieht eine langsame Schwenkbewegung in einer Bahnhofsunterführung. Menschen verteilen sich in diesem abgesteckten Raum. Zugleich referiert die Bewegung auf ein zweites Bild, das der Überwachungskamera. Eine doppelte Blickführung durch zwei verschiedene technische Operationen im selben Raum. Bereits in den ersten Minuten wird der Zuschauer zur Reflexion über das gefilmte Bild eingeladen.

Die Kamera rückt nun den „Imbiß“, als gesellschaftlicher Sammelpunkt der DDR-Bevölkerung das Sujet dieses Films, in einem Standbild in den Blick. Zeitlich ist diese Bestandsaufnahme in den Tagen der „Wende“ zu verorten, gedreht wurde 1989 kurz vor dem 40-jährigen Jubiläum der DDR. Die biografischen Schilderungen aus dem Off, als Tonspur über die Nahaufnahmen der Angestellten gelegt, berichten von dieser Umbruchsphase, in der die staatliche Berichterstattung zu Kultur und Politik sowie die routinierten Arbeitsvorgänge sich nicht mit den Zweifeln, Hoffnungen, Widersprüchen und Suchbewegungen decken, die in den Aussagen anklingen.

Vor und hinter dem Imbiss-Tresen wird noch das Neue Deutschland gelesen, hinter der Thekenkulisse prangt bereits das Langnese-Emblem. Die vertikalen Linien des Markenlogos werden grafisch gerahmt und durch die Fäden eines Türvorhangs akzentuiert. Sorgfältig kadrierte Bilder stecken einen Rahmen ab, in dem Aussagen und Handlungen sich frei entfalten können.

Am Ende folgen grelle Farbaufnahmen der Staatsfeierlichkeiten und ein Bericht zum dortigen Verhalten von Störenfrieden. Thomas Heise kommentiert diesen meinungspolitischen Schlagabtausch mit dem Blick auf eine Markenwerbung: „Aus Ideen werden Märkte“ (Deutsche Bank). Welche Zukunft werden alternative und idealistische Gestaltungsideen in der deutsch-deutschen Geschichte haben?

 

Elodie Sacher

Schön, ein Zuhause zu haben; schön zu wissen, hier gehör’ ich hin; schön zu wissen, dass wir uns so gut verstehen. Die Kamera schwenkt durch die Unterführung vor dem Imbiss und zeigt dann den Imbiss aus der Perspektive der Unterführung. In der nächsten Einstellung ist die Küche hinterm Tresen zu sehen, die Nachrichtensprecherin berichtet von der Öffnung der Grenzen zur ČSSR und von den Protesten zum 40. Jahrestag der DDR.

Wovon Generationen deutscher Arbeiter nur träumen konnten, ist in unserem Vaterland Wirklichkeit geworden! Blick aus der Küche zum Tresen, es ist kurz still in dem sonst sehr geräuschvollen Film. Ein Angestellter steht an der Kasse, nichts passiert. Ist hier noch alles okay? Die routinierten Arbeitsabläufe zeugen davon, dass der bevorstehende Umbruch noch nicht im Alltag angekommen ist. Dennoch werden in den Aussagen Widerstände und Zweifel sichtbar: Was hier läuft, das geht nicht mehr; auch der Würstchentopf ist zum Überlaufen voll. Dann ist die Perestroika am Apparat, es geht um Warenverkehr, und die Verfügung über die Verbreitung der Produktionsmittel soll die freie Meinungsäußerung ermöglichen.

Eine andere Einstellung zeigt einen Angestellten alleine im Imbiss sitzend, den Rücken zur Menge, die fragend hineinschaut, doch der einsame Angestellte trällert ein Heimatlied. Ein Gang die Treppe aus der Unterführung hoch. Schnitt. Am Ende die Bilder der Proteste zum Jahrestag, plötzlich bekommt das Geschehen Farbe, aber trotz allem bleibt eine gewisse Ratlosigkeit. In der letzten Einstellung eine Reklame: „Aus Ideen werden Märkte – Deutsche Bank“.

Hannah Tatjes

Diese Texte entstanden im Rahmen des Seminars „Fragen an den aktuellen Dokumentarfilm“ der Stiftung Universität Hildesheim.

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