Streaming-Tipps: Von Showgirls, Stoffen und Spannern

Auf der Streamingplattform LaCinetek sind neben Klassikern des internationalen Autorenfilms für ein paar Euro auch ungehobene Schätze zu finden. Ein Streifzug durch weniger geläufige Regionen der französischen Filmgeschichte – und eine Zusammenschau dreier Paris-Filme.


Fenstersturz in der Haute-Couture-Welt:
Sein letztes Modell

Während der deutschen Okkupation 1944 in Frankreich gedreht, ist Jacques Beckers früher Film geradezu demonstrativ darauf aus, dem Zeitgeschehen aus dem Weg zu gehen. Schönheit ist hier das Programm; elegante Kleider, junge Models, großzügige Bürgerwohnungen und sommerliche Augenblicke im Jardin des Tuileries. Und doch setzt der Film sogleich mit dem Tod ein: Ein adrett gekleideter Mann liegt regungslos auf dem Pflasterstein, umschlungen hält er eine Schaufensterpuppe, die mit einem opulenten Brautkleid bestückt ist. Junge Frauen sammeln sich um das „Paar“; er sei tot, nichts zu machen, und sehe irgendwie glücklich aus. Dazu passt wohl, dass die Puppe unversehrt geblieben ist. Also so etwas wie ein „Happy-End“ gleich zu Anfang. Eine Rückblende erzählt uns nun, wie es zum fatalen Sturz aus dem Fenster kam.

Sein letztes Modell (Falbalas, 1945) entspinnt seine zunehmend eskalierende Liebesgeschichte in der Welt der Pariser Haute Couture (und Paul Thomas Anderson hat sie mit Sicherheit gesehen). Die inszenatorische Eleganz des Ganzen lässt an die schönsten Werke Max Ophüls’ denken. Häufig gleitet die Kamera sanft durch die geschmackvollen Wohnungen und Modestätten, der Schnitt bringt alles ins Fließen, macht dabei aber nicht auf sich aufmerksam. Ebenso wird in den zahlreichen Szenen, in denen sich die Menschen nur so tummeln, alles wohl choreografiert, aber keinesfalls aufdringlich arrangiert. Nichts, so hat man den Eindruck, soll hier vordergründig „Kunststück“ sein. Becker, den man eher nicht in den auteur-Olymp aufgenommen hat, duldet keine beliebig wirkenden Einstellungen und fühlt sich zugleich dem klassischen Erzählkino verpflichtet.

Das dandyhafte Modegenie Philippe Clarence (Raymond Rouleau) verführt Micheline (Micheline Presle), die Verlobte eines Freundes. Sie soll mit ihm durchbrennen, den Verlobten sitzenlassen. Als Micheline nicht mehr möchte, gerät das egozentrische Weltbild Philippes ins Wanken. Wie es für ihn ausgeht, haben wir anfangs erfahren. Das „emotionslos“ neben ihm liegende Mannequin, seine Ersatzbraut, sieht man zuvor schon häufig im Hintergrund seines Ateliers – wie das verkörperte Schicksal? – dastehen.

Neben dieser ziemlich mitreißenden Geschichte hat man den Eindruck, tatsächlich etwas über die Modebranche und ihre Abläufe zu erfahren. Etwa so, wie man nach Paul Verhoevens Showgirls (1995) auch meint, Las Vegas nun besser zu kennen.

 

Ausgestellte Perversion, spielerischer Schwindel?: A Dirty Story

Es ist wirklich eine versaute Geschichte: Ein Mann, Jean-Noël Picq, sitzt in A Dirty Story (Une sale histoire, 1977) mit Zigarette und Rotwein bequem in einem Sessel und trägt so charismatisch wie einnehmend die Geschichte vor, wie er vor acht, neun Jahren eine voyeuristische Obsession entwickelt hat. In einem Pariser Café fand er, nach gewissen Bemerkungen des Personals, das Spannerloch zur Damentoilette. Beim Hindurchsehen war er direkt mit der Scham der Frauen konfrontiert. Anfänglich bloße Neugier, entwickelte sich das Betrachten des weiblichen Geschlechts zur Sucht, ja zur „Wissenschaft“. Die Schaulust ging nun auch mit Bewertungen von anregend bis abstoßend einher, dann wurde verglichen, ob die jeweilige Vulva zur sonstigen Anmutung der Frau „passte“. Irgendwann hat er es sein lassen; dann schloss auch noch das Café, wie es auch bei Pornokinos manchmal passiert.

Das sei insgesamt eine Geschichte, die Frauen sich nur sehr ungern anhören, erklärt Picq den vor ihm sitzenden Bekannten. Je länger der inbrünstige Monolog – keine Spur des Bewusstseins davon, dass das irgendwie amoralisch wäre – geht, desto häufiger schalten sie sich ein und kommentieren ab und an. Die hörbare 16mm-Kamera misst dabei häufig ihre Gesichter ab (man meint auch Regisseur Jean Eustache selbst zu erkennen), schaltet zwischen Picq und den Zuhörenden hin und her. Irgendwie ist eine Spannung in der Luft, wie bei einer guten Gruselgeschichte.

„[D]enn wenn es wahr ist, dass es kein Vergnügen ohne Schmerz gibt, gibt es keine Arbeit ohne Stolz. Und dann arbeite ich hart genug, um zu glauben, dass ich mit all dem noch meine Würde hatte.“ Danach bricht der Film plötzlich ab; der Abspann scheint nach halber Spieldauer auf. Man ist erstmal ähnlich irritiert wie bei Hong Sang-soos Einmal fremd, einmal vertraut (Right Now, Wrong Then, 2015), wenn man sich vorab nicht informiert hatte. Nun der zweite Kurzfilm, diesmal auf 35mm: wieder ein Zimmer, wieder einige Personen, die einem Mann beim Monolog zuhören. Diesmal ist es der bekannte Darsteller Michael Lonsdale, der sich selbst spielt. Das heißt: Mit kleinen Verschiebungen läuft nun die Szenerie nochmal ab!

In Internetkritiken ist zu lesen, die Episode mit Picq, ein Gelegenheitsdarsteller und Weggefährte Eustaches, sei eine Dokumentation; die andere ihr spielfilmmäßiges Reenactment (eigenartig: hier wird die Lonsdale-Episode stets zuerst beschrieben, bei LaCinetek bildet sie den Abschluss). Aber stimmt das so? Letztere wirkt jedenfalls gebauter und kameratechnisch arrangierter. Aber wo soll man die (Gattungs-)Grenze ziehen? Es scheint eher darum zu gehen, dass man selbst durch ein – rechteckiges – Loch guckt. Die ausgestellte Perversion bereitet Lust, und dass man dabei vielleicht einem spielerischem Schwindel aufsitzt, zusätzliche.

 

Dem Operettenrepertoire entsprungen: Mit einem Lächeln

In Mit einem Lächeln (Avec le sourire, 1936) kann der Strahlemann Maurice Chevalier sein Markenzeichen so richtig ausspielen: Gefühlt permanent grinsend schlängelt sich der Chansonsänger und Paradedarsteller galanter Lebemänner durch kleine und große Intrigen des Pariser Showbizz, dabei stets auf seinen Vorteil bedacht. Und er kriegt eigentlich immer, was er möchte; steigt, anfangs wie Chaplins Tramp völlig mittellos, in Paris ankommend, von einem Posten zum nächsthöheren auf.

Ganz zu Anfang lernt dieses an sich ungebildete Landei Victor auf einem Freisitz Gisèle (Marie Glory) kennen. Nachdem er einen Großbürger für ein Mittagessen mit dem Showgirl um fünfhundert Francs erleichtert hat, quartiert er sich vom Restgeld im selben Hotel ein, in dem auch die hübsche Varieté-Tänzerin wohnt. Später werden sie ein Paar; sie ein mäßig talentiertes Sternchen, er der neue Direktor des Tanztheaters. Um dort hinzukommen, mussten einige Existenzen zerstört werden, jedoch nie mit Gewalt, sondern stets durch einen cleveren, als Anekdote sich eignenden Schachzug. Egoistisch und sadistisch ist das manchmal schon, aber immer leichtfüßig vorgetragen. Was es vielleicht noch düsterer macht? Das Glück liege für jeden bereit, man muss es nur finden, meint Victor – und dafür brauche es eben vor allem dieses Lächeln. Wie diese Gaunergeschichte einen dabei zum Komplizen macht, das erinnert durchaus an Thomas Manns großen Schelmenroman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull.

Chevalier kehrte erst zwei Jahre zuvor aus Hollywood zurück, wo er etwa bei Lubitschs Operettenfilmen seinen „französischen Charme“ versprühte. Auch der Regisseur Maurice Tourneur, ein Stummfilm-Pionier der 1910er Jahren und Vater des genialen B-Filmers Jacques Tourneur, hatte bereits eine Hollywood-Karriere hinter sich. Dort war er wohl vom Starkult zunehmend angewidert gewesen. Ironischerweise dreht er nun hier mit Chevalier ein klassisches Star-Vehikel. Ähnlich wie der Marlene-Dietrich-Film Das Schiff der verlorenen Menschen (1929), Tourneurs Beitrag zum triebdurchsetzten Kammerspiel-Film der Weimarer Republik, besticht Avec le sourire neben seiner souveränen Darstellerführung vor allem auch durch die Liebe zum Detail. Alle Räume, vom bourgeoisem Salon und Vestibül bis hin zum Klassen- und Büroraum, sind glaubhaft und ansprechend arrangiert; alles fügt sich schön ins kulissenhafte Gesamtbild ein. Es ist eine hermetische, weltfremde Welt, die uns hier gezeigt wird. Was zum Gefühl passt, dass die Geschichte einem Märchen aus dem Operettenrepertoire entsprungen sein könnte.

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Kommentare zu „Streaming-Tipps: Von Showgirls, Stoffen und Spannern“


Andreas Schindel

Vielen Dank für die Streaming-Tipps. Behaltet das unbedingt bei!


Michael

Sehr gerne und wir versuchen es!






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