Streaming-Tipps: Rohe Bilder und sanfte Farben
Zwei Fundstücke, historisch bedeutsam und wenig bekannt: Der dffb-Abschlussfilm Gölge (1980) steht für die Anfänge des deutsch-türkischen Kinos, der thailändische Santi-Vina (1954) brachte seinem Land erste Aufmerksamkeit der internationalen Filmwelt ein.
Tagträume und Fernsehabende: Gölge

Es beginnt mit einem schönen, musikuntermalten Tracking Shot durch eine Berliner Mietskaserne. Wie schwerelos fliegt die Kamera dahin, erst durch einen dunklen Flur, dann fix über den begrünten, sonnendurchfluteten Innenhof in ein anderes Haus hinein. Das hat etwas traumhaft Entrücktes, später werden wir von der Stadt eher triste Straßenzüge sehen. Doch zunächst schlängelt sich das Kameraauge noch ein düsteres Altbautreppenhaus hinauf, schließlich kommen wir mit zwei türkischen Mädchen in einer Wohnung an. Das Interieur ist hier eindeutig Vor-Achtziger (wie man Gölge (1980) die neue Dekade sowieso noch nicht anmerkt): gemusterte Tapete, altmodische Holzmöbel, Spitzendeckchen und ein Blumenstillleben an der Wand; insgesamt doch recht deutsch.
Hier lebt die vierköpfige türkische Familie auf engstem Raum zusammen. So eng, dass die achtzehnjährige Gölge und ihre jüngere Schwester nicht einmal ein eigenes Zimmer haben. Hausaufgaben werden genervt auf der Couch gemacht, dann wird dort auch ferngesehen und, nach dem Ausklappen, geschlafen. Manchmal liegt Gölge noch wach da und hört nebenan die Mutter beim Sex stöhnen. Wenn die im Nachthemd anschließend ins Bad flitzt, kneift die Tochter schnell und schamvoll die Augen zu. Auch sie sehnt sich nach Liebe, nach Bestätigung und Zärtlichkeit. Doch das liegt angesichts der stockkonservativen Vorstellungen ihrer Eltern in weiter Ferne. Einen Freund mit nach Hause bringen, undenkbar. Als sie einmal trickst und Schulfreunde auf einer Party trifft, lauert ihr der etwas schmächtige, aber doch einschüchternde Vater bereits auf der Straße auf. Es gibt Schläge, trotz der anwesenden Freunde.
Das Sinnliche ihres Körpers wird sowieso nur dann akzeptiert, wenn es sich in die Tradition einpasst. Auf einer trubeligen Großfeier stiehlt Gölge beim Tanzen hüftschwingend allen die Show, die Eltern werden dafür ausgiebig beglückwünscht. Dass sie, die akzentfrei Deutsch spricht, hingegen nach dem Abitur einmal Schauspielerin werden möchte, kommt für den Hauspatriarchen nicht infrage. Letztlich seien alle Schauspielerinnen Nutten, eine anständige Frau werde nicht Schauspielerin. So bleiben ihr – vorerst – nur erotische Tagträume sowie Modeschauen vor dem Spiegel; wie eine Film-noir-Femme-fatale zieht sie einmal an einer Fake-Zigarette und pustet den Qualm lasziv seitlich von sich weg. Elfi Mikesch hatte ein paar Jahre zuvor im tollen Ich denke oft an Hawaii (1977) ähnlich schöne Bilder für eine kämpferische Teenie-Traumwelt gefunden.
In ihrem informativen Text zu Feminismen an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) weist Madeleine Bernstorff Sema Poyraz’ Abschlussarbeit (die sie zusammen mit ihrem griechischen Kommilitonen Sofoklis Adamidis drehte) als Gründungsfilm des deutsch-türkischen Kinos aus. Erstaunlich, wie unbekannt er trotzdem zu sein scheint. Vielleicht liegt das auch daran, dass Gölge durchaus etwas „unbehauen“ wirkt. Rudimentär oder, besser, reduziert kommt einem seine Ästhetik und Erzählweise vor: wenig Schauplätze, dann auch noch in repetitiven Blickwinkeln – immer und immer wieder die beengten vier Wände, das Fernsehschauen, der besoffene Vater und die frustrierte Mutter – sparsamer Dialog, kaum Kamerabewegung. Auch die Laiendarsteller führen in ihren manchmal doch etwas hölzern aufgesagten Sätzen ungewollt Verfremdungseffekte ein. Das heißt: So schwebend-elegant wie zum Filmbeginn wird es später nicht mehr zugehen. Aber irgendwie ist das keine Schwäche, im Gegenteil. Man kann dem Film dabei zusehen, wie er versucht, eine Form zu finden. Und da haben diese rohen, direkten Bilder ihren Platz. Und sie sind dabei nie umständlich, nicht um mehrere Ecken gedacht. Dem Film fehlt angenehmerweise der „Kunstwille“, der sich, so ein subjektiver Eindruck, doch bei dem ein oder anderen dffb-Film der letzten Jahre etwas penetrant in den Vordergrund gespielt hat.
Kostenfrei zu sehen auf der Website der dffb
Unaufgeregtes Landleben, schrillere Melodram-Ambitionen: Santi-Vina

Eine gewisse Sanftheit durchzieht die Bilder des ersten auf 35mm gedrehten Farbfilms aus Thailand (1954). Und gleich nach ein paar Einstellungen dieses Liebes- und (gegen Ende vor allem auch) Glaubensdramas wird klar: Santi-Vina ist nicht bloß ein Farbfilm, sondern ein wirklich farbenprächtiger Film. Aber anders als in den amerikanischen Technicolor-Melodramen der Zeit gibt es hier keine übersteuert irrealen Paletten: Wenn etwa buddhistische Mönche einen Pfad mit knorrigen Bäumen entlangschreiten, stechen ihre gelb-orangenen Roben innerhalb der herbstlichen, von Brauntönen dominierten Umgebung zwar hervor. Das sind jedoch nur kurz aufblitzende Momente, meist gibt es feine Übergänge zwischen den unaufgeregten Pastelltönen. Die Figuren und Gegenstände fügen sich ebenso harmonisch in die Bildrahmen ein; oft steht die Kamera statisch da, dann spielt sich kontrolliert etwas mittig vor ihr ab. Diese gewisse Strenge, das völlige Fehlen von Spontaneität in Thavi Na Bangchangs Film erinnert mitunter an die Bildformeln des japanischen Regisseurs Yasujirō Ozu. Auch in Santi-Vina werden gerne kleine Details betont oder Blicke in die Weite gegeben, die für sich selbst, das heißt für ihre pure Schönheit stehen dürfen. Da sind filigrane Blumenschiffchen bei einer Fluss-Zeremonie oder die im Wind wehenden Halme einer weiten Hügellandschaft, in der auch majestätische Tempelanlagen hochragen. Abseits dieser Einschübe plätschert die Story – eine verhinderte Liebe im bäuerlichen Setting – vor sich hin. Es gibt zwar ein paar kurze Momente der Eskalation, doch selbst die kommen eher gehemmt, wie in Zeitlupe daher. Das Einzige, was aus dieser Harmonie ausschert, ist die Musik. Merkwürdig opulent ist sie über die Bilder gelegt und gibt ihnen manchmal eine Dramatik, die sie selbst gar nicht zeigen. Stimmiger sind da eigentlich die Einsätze, in denen die Figuren selbst singen, tanzen oder musizieren – hier hat man den Eindruck, einen quasi dokumentarisch-folkloristischen Kern greifen zu können. Vielleicht zeigt sich aber gerade beim Score eine Art Kompromiss zwischen dem Unaufgeregten, das das Landleben vorzugeben scheint, und den schrilleren Melodram-Ambitionen einer mehr westlichen Spielart? (Die Produktionsfirma von Santi-Vina, Far East Film Ltd., wurde vom Kameramann des Films, Ratana Pestonji, sowie dem Amerikaner und ehemaligen Twentieth-Century-Fox-Drehbuchautor, Robert G. North, gegründet; inwieweit diese Filmtraditionen vernetzende Kooperation Einfluss auf die Anmutung des Films hatte, ist in Corona-Zeiten schwer zu recherchieren.)
Es ist jedenfalls bemerkenswert, wie sorgfältig der Film in allem ist, um doch eine so simple Geschichte zu erzählen. Alles kreist um das beschwerliche Leben des blinden Bauernjungen Santi, später dann zunehmend um seine Liebe zu Vina. Der Titel des Films verdichtet das also schon: Santi und Vina gehören zusammen. Santi wächst bei seinem Vater auf, die Mutter kam bei einem Steinschlag vor Jahren ums Leben. Da der Junge – geschlagen vom Schicksal, jedoch reinen Herzens – dem armen Vater nicht weiter zur Last fallen will, begibt er sich in die Obhut eines alten buddhistischen Mönchs. Und der Pfad zur Erleuchtung birgt auch die Hoffnung, einmal wieder sehen zu können. Der Alte predigt auch deshalb, den weltlichen Verlockungen zu entsagen. Eben diese sind es aber, die, nach einem Zeitsprung, den erwachsenen Santi vor allem umtreiben … Vina, die bereits als Mädchen stets zu ihm stand, ist nun die liebende Dorfschönheit geworden (und, etwas kurios: inmitten aller Bäuerlichkeit dabei perfekt geschminkt und frisiert). Anfangs mit der Zärtlichkeit überfordert, gibt sich bald auch Santi seinen Gefühlen hin. Doch das Dorf ist gegen die beiden. Die Heirat mit einem Blinden, einem, der nichts wert sei, scheitert an den Traditionen; einen Ersatz-Bräutigam findet man ausgerechnet im größten Scheusal weit und breit. Nun wird Santi-Vina also noch zum lovers-on-the-run-movie, um dann – einiges hatte uns schon darauf vorbereitet – zum großen Konflikt zwischen Diesseits und Jenseits hin einzubiegen. Ohne es auserzählen zu wollen, ein eher turbulentes Finale für einen Film, der sich, wie gesagt, schön Zeit lässt.
Kostenfrei und in ansprechender Qualität zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Film Archive Thailand.
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