Streaming-Tipps: Kellerfilme, Kaninchenfilme
Schneebälle, die an Fensterscheiben zerstieben, Trouble im Liebes- und Produktionsalltag, ein Hauch von Marienbad in Weimar: Über drei DEFA-Filme, die 1965 vom ZK der SED verboten wurden.
Die Wunden bleiben sichtbar: Berlin um die Ecke

Gleich bei mir um die Ecke, auf einem Dach in der Karl-Marx-Allee, im Hintergrund die Türme des Frankfurter Tors, hopsen zwei junge Männer auf einer Matratze herum und quatschen anschließend über ein Mädchen, das der eine gestern kennengelernt hat und heute wiedersehen will. In dem Tanzlokal, in dem sie als Sängerin auftritt, blitzt er in der nächsten Sequenz zunächst bei ihr ab, während sein draufgängerischerer Kumpel, eigentlich zur Unterstützung mitgebracht, eine andere klarmacht, sie in betörenden Großaufnahmen ihrem älteren Tanzpartner wegflirtet und dann kurz nach ihr im Hinterzimmer verschwindet. Ein abrupter Schnitt tauscht die Anzüge von Olaf (Dieter Mann) und Horst (Kaspar Eichel) wenig später gegen Arbeitermonturen aus, und ab geht’s in den Produktionsalltag, es geht um gefälschte Lohnzettel, übererfüllte Normen, ersehnte Modernisierung, Alt gegen Jung.
Produktionsalltag, kein Wort, das einen unbedingt teasert. Filme, die sich – ob in propagandistischer, konstruktiv kritischer oder offen konfrontativer Absicht – permanent mit dem Aufbau einer Gesellschaft auseinandersetzen, Figuren in der Spielhandlung – etwa in Szenen auf Plenen oder Betriebsversammlungen – in sehr spezifische Probleme dieses Aufbaus verwickeln, erscheinen einem Jahrzehnte nach dem Verschwinden dieser Gesellschaft oft schon im Vokabular fern und fremd. Zu ihrer Zeit aus dem Verkehr gezogene Werke bürden einem dann noch auf, nach den Gründen für ihr Verbot Ausschau zu halten; die Rezeption hat immer die Aufgabe im Schlepptau, ein Zeitalter zu entschlüsseln. Und doch vermag ein Film wie Berlin um die Ecke einen auch immer wieder hineinzuwerfen in die Welt lebenshungriger junger Erwachsener und ihren Versuch, sich im Realsozialismus weniger einzurichten als sich in ihn verstrickt und mit ihm konfrontiert ein Leben einzurichten.
Olafs Werben um die Sängerin Karin (Monika Gabriel) und die eskalierenden Probleme in seinem Metallbetrieb, diese beiden Plotlinien sind in Berlin um die Ecke nur sehr lose verbunden. Der Film behält auch nach seiner Fertigstellung 1990 etwas Schroffes, Fragmentarisches, die Wunden seiner Entstehung sollten laut Autor Wolfgang Kohlhaase sichtbar bleiben. Auf die von Kohlhaase und Regisseur Gerhard Klein im neorealistischen Stil gedrehte Berlin-Trilogie der 1950er Jahre (Berlin Ecke Schönhauser u.a.) ist dieser Film ein Echo jenseits des Mauerbaus; die dort noch erreich- und sichtbaren Versuchungen des Westens sind hier nur noch als Nachhall in Dialogen vernehmbar (z.B. über Kinobesuche), die Gesellschaft der DDR dafür nun ganz auf sich geworfen, der Generationenkonflikt unversöhnlicher, dank eines stets an Figuren und Augenblicken interessierten Zugangs aber nicht schematisch, und manchmal mit erstaunlichen Wendungen: Ausgerechnet mit dem herumbrüllenden Redakteur Hütte (Hans Hardt-Hardtloff), der Olafs Brigade in der Betriebszeitung denunziert und darauf von ihm niedergeschlagen wird, kommt es zu einer zaghaften Annäherung, beim Zuschauer zum Mitgefühl für ein vielleicht versehrungsreiches Leben. Auf dem berüchtigten XI. Plenum des ZK der SED 1965 wurde Berlin um die Ecke noch vor Fertigstellung verboten.
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Jede herrschende Klasse setzt ihr Recht als Naturrecht: Das Kaninchen bin ich

Dass sie Paul wirklich liebt, wird Maria bewusst, als er sie aus dem Off mit Schneebällen bewirft, die an der Fensterscheibe vor ihr zerstieben. Die vorahnungsvolle Szene ist eine der bildsprachlich exponierteren in Kurt Maetzigs Film, dem neben Spur der Steine bekanntesten der zwölf „Kellerfilme“, die nach ihm auch „Kaninchenfilme“ genannt wurden. Zunächst einmal ist Das Kaninchen bin ich eine recht klassisch erzählte Liebesgeschichte, die doch sehr schwungvoll beginnt: Noch bevor der Hauptplot in Gang kommt, handelt der Film eine Affäre Marias mit ihrem Sportlehrer ohne viel Aufhebens ab und zeigt mit durchaus sarkastischem Blick auf die feine Funktionärsgesellschaft, wie sie als Kellnerin im „Alt-Bayern“ in der Friedrichstraße einen zudringlichen Typen nach dem anderen abwimmelt. Auch wenn es wohl leichter wäre, mit ihnen zu schlafen, damit sie Ruhe geben, bemerkt die 19-Jährige lakonisch berlinernd im Voice-over.
Auf den ersten Blick verguckt sich Maria (Angelika Waller) dann im Theaterfoyer in den galanten Paul (Alfred Müller), mit dem sie in einer Reihe flott montierter Spaziergänge durch Berlin-Mitte auch zusammenkommt. Dummerweise ist der deutlich ältere Mann nicht nur verheiratet, sie erkennt in ihm auch rasch den Richter, der ihren Bruder wegen staatsfeindlicher Hetze ins Zuchthaus gebracht hat (es bleibt offen, worin genau sein Vergehen bestand). Ihr selbst wurde deshalb das Slawistikstudium verboten. Die Möglichkeit einer Vorteilsnahme verwirft Maria schnell, sie liebt Paul wirklich, das ist das Problem, und in der hieraus entstehenden Konfliktkonstellation ist Das Kaninchen bin ich auch ganz Melodram, das einen emotionalen Höhepunkt findet, als Pauls Ehefrau (Irma Münch) statt seiner in der Datsche auftaucht, in der Maria als dessen vermeintliche Cousine einquartiert ist. Sie hat ein Luftgewehr dabei.
Doch obwohl es Maria, die aufsässig, aber nicht unbedingt nonkonformistisch ist, immer auch um ihr Recht auf ein privates Glück geht, ist dieses eben für sie – und wäre es fürs Publikum unübersehbar gewesen – auf Gedeih und Verderb verbandelt mit der in der Tat himmelschreienden Ungerechtigkeit einer Willkürjustiz. Die schon längst offenkundig ist, als Maria dann auch noch Zeugin eines mit ihrem Bruder vergleichbaren Falles wird, in dem viel milder geurteilt wird. Paul philosophiert über positives Recht und Naturrecht und dass jede herrschende Klasse ersteres als ihr letzteres setzt – „auch wir, aber mit größerem Recht“. Als er von der Arbeiterklasse anfängt, unterbricht ihn Maria. Kaum möglich indes, das Problem allein in ihm verkörpert zu sehen: Dass er ein charakterschwacher Karrierist ist, ist offensichtlich, dass es stets die Parteilinie ist, die seine Korrumpierungsrichtung bestimmt, nicht übersehbar genug, als dass der Film nach Meinung des ZK auf ein Publikum hätte losgelassen werden können.
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Ein Prost gegen die Macher: Denk bloß nicht, ich heule

Manchmal bricht Peter (Peter Reusse) in freudloses Gelächter aus. Zum Beispiel beim Anblick einer pädagogischen Karikatur am schwarzen Brett seiner Schule, die einen prototypischen Gammler einem Musterjugendlichen gegenüberstellt. Von der Schule geflogen ist er schon vor Filmbeginn, die bei der Entscheidung gefallenen Worte „reaktionäres Element“ und „asoziales Element“ rezitiert er verbittert anklagend, für die Versuche seiner Umgebung, ihm mit Aufbauvokabular zu belehren oder zu umschmeicheln, hat er nur gallige Zynismen übrig. Das vom Vater geerbte Geld verprasst er für Pralinen und ein sündhaft teures Kleid fürs eben erst aufgegabelte love interest Anne (Anne-Kathrein Kretzschmar) und meint, ein Millionär müsse in der Gegend vor Langeweile sterben. Das ZK witterte in der schlaksigen Gestalt Sartre’schen Existenzialismus, monierte, nicht unzutreffend, dieser Held habe kein Zuhause, sei völlig beziehungslos, kenne weder Vergangenheit noch Zukunft, sei einfach da – um dann zur gänzlich falschen bzw. auf sie selbst zurückfallenden Conclusio zu kommen: „Die Schöpfer des Films kennen unser Leben nicht.“
Von den hier vorgestellten Filmen ist Frank Vogels Denk bloß nicht, ich heule der „auteuristischste“, formal modernste, inhaltlich unversöhnlichste. Eingefangen sind Peters Streifzüge durch Schule, Stadt und Landwirtschaft von Kameramann Günter Ost in schwarz-weißem Cinemascope, in tiefenscharfen, symmetrieverliebten Totalen, die den Gegenden in und um Weimar einen Hauch von Marienbad geben. Die die Goethe- und Buchenwald-Stadt aber auch als echoreichen Geschichtsraum erkunden, wohl am provokantesten bei einem Spaziergang Peters und Annes über die monumentale (darin selbst zwiespältige) Architektur der KZ-Gedenkstätte, bei dem sie Kinderreime schmieden und sich über Schule und Zukunft unterhalten. In einer verfallenen „Nazifesthalle“ (auf dem Gauforum) kommt es dann zur finalen Konfrontation mit Schuldirektor Röhle (Herbert Köfer). Zwar beschützt ihn Peter dort vor der von ihm selbst angestifteten, westernartig inszenierten Attacke seiner halbstarken Kumpels, doch im anschließenden Gesprächsversuch (fast alle Gespräche im Film bleiben erfolglose Versuche) findet die Verständniskluft zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration, anders als bei Olaf und Hütte in Berlin um die Ecke, keine Brücke.
Denk bloß nicht, ich heule ist ein Coming-of-Age-Film, der einen eingefrorenen Zustand festhält, der einen jungen Mann zeigt, dem als Auflehnung gegen die von ihm überall konstatierte Heuchelei selbst nur noch die Repetition seiner Abgrenzungsgesten bleibt. Ein reaktionäres Element aber sind weder Peter noch der Film. Der Schulrauswurf des einen wie das Verbot des anderen vielmehr Zeugnisse der Borniertheit einer Führung, die nicht verstehen wollte, woran die Leute, die sie für sich gewinnen wollte, verzweifelten. Das freudlose Gelächter hat Peter von seinem Vater (Harry Hindemith) übernommen, einem Kommunisten, der aus der Partei geworfen wurde. „Ihr denkt wohl, ich bin schon tot“, sagt der zur Eröffnung, nur um sich dann vor den Augen vor Ehefrau und Sohn zu Tode zu trinken, dabei in einer Protestsuada jeglichem geistlosen „Machertum“ eine Absage erteilend. „Das Wichtigste im Leben ist zu leben“, lauten seine letzten Worte, die Peter später im Film noch einmal wiederholt. Zwischendurch rückt Direktor Röhle, beispielhaft für den spröden Humor des Films, das schiefhängende Lenin-Bild in seinem Büro wieder gerade.
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Auf filmfriend und alleskino sind neben den genannten noch weitere DEFA-Verbotsfilme zu sehen. Längere Texte zu allen Filmen gibt es hier: Andreas Kötzing / Ralf Schenk (Hg.) Verbotene Utopie. Die SED, die DEFA und das 11. Plenum. Berlin: Bertz + Fischer 2015.
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