Streaming-Tipps: Der Cowboy im Zimmer

Warum bei jedem noch so kleinen Streaming-Tipp beschämt Corona-Assoziationen bauen, wenn das auch ganz schamlos geht? Drei Filmempfehlungen für die Quarantäne, von der inneren Apokalypse über den Rausch der Einsamkeit zur großen Verdrängung.


Quarantäne als innere Apokalypse:
It’s Such a Beautiful Day

Was vor dem inneren Auge so alles abgeht, wenn’s in der Welt nicht mehr viel zu sehen gibt: Bill werden auf einmal die Routinen bewusst, die seinen Alltag ausmachen, das Geschirrspülen zum Beispiel, oder auch nur die Bewegung, mit der er den Schlüssel nach Betreten des Hauses auf den Tisch wirft. Das Leben, ein Parcours des Gewöhnlichen. Bill ist nicht mehr als ein paar Striche, aber die inneren Werte zählen in Don Hertzfeldts It’s Such a Beautiful Day, und die innere Welt. Während der sozial distanzierte Bill, der Kontakt nur noch mit einer Ex-Freundin und mittelmäßig interessierten Verwandten hat, langsam den Verstand verliert, strömt allerlei in diese Welt hinein: Kindheitserinnerungen, Träume, sich verselbstständigende Fernsehbilder. Ästhetisch bricht der Film dann aus den klaren Zeichnungen aus, farbige Found-Footage-Tupfer, Fotografien, Texturen aller Art nehmen immer mehr Fläche ein, und der Film wird zur Kartografie eines Gehirns.

Dramaturgisch besteht It’s Such a Beautiful Day aus Phasen des Durchdrehens, die sich zu verstörenden Klang- und Bildcollagen ausweiten, wiederkehrenden Zusammenbrüchen und Phasen der Erholung. Im dritten Teil – der Film besteht aus dreien, die ursprünglich mal autonome Kurzfilme waren – hat Bill seinen Frieden gefunden, erkennt das Schöne im Profanen, selbst in seinem Badteppich, und wandert über die Erde, während die Menschheit längst nur noch eine entfernte Erinnerung ist. „The world is clumsy, and beautiful, and new.“ Die Erkenntnis des Films selbst hat aber nichts mit Hippiekitsch zu tun: vielmehr damit, dass noch das Subjektivste –viel tiefer nach drinnen als hier geht’s nicht – Teil an einem radikal Unpersönlichen hat. It’s Such a Beautiful Day ist eine Feier jenes Viralen, das uns nicht an die Lunge will, sondern ans Herz geht.

Verfügbar bei Vimeo

Quarantäne als Rausch der Einsamkeit: Bildnis einer Trinkerin

Trinken ist ja noch erlaubt, und zumindest einer unangeforderten Umfrage im eigenen Freundeskreis zufolge hat der Shutdown des öffentlichen Lebens nicht gerade zu einer Super-ich-wollt-doch-eh-schon-lange-mal-Abstinenz geführt. Einige von denen, die es sich leisten können (überhaupt richtet sich ja schon die Textsorte der Streamingtipps eher an die Corona-Privilegierten unter uns), haben, weil Uhrzeiten an Wirkmacht eingebüßt haben, das Day Drinking für sich entdeckt. Zum Glück (noch) nicht ganz so zwanghaft wie die namenlose, aber von Tabea Blumenschein gespielte Protagonistin von Ulrike Ottingers Bildnis einer Trinkerin, die mit dem erklärten Ziel nach Berlin reist, sich zu Tode zu trinken. Mitnehmen wird sie eine obdachlose Alkoholikerin. Ottinger wollte mit dem Film nicht zuletzt darauf aufmerksam machen, dass Alkoholismus ein schichtunabhängiges Phänomen ist, das ein schichtspezifisches Stigma nach sich zieht.

Ich gebe es zu, ich habe Bildnis einer Trinkerin, den es derzeit im Arsenal 3 zu sehen gibt, noch nicht einmal zu Ende geguckt. Aber erstens hat das nichts mit dem Film zu tun, sondern mit falscher Einschätzung mentaler Fitness, zweitens verhindert schon das neuartige Heimkino-Dispositiv eine Immersion im engeren Sinne, und drittens reicht ja nun wirklich schon eine halbe Stunde dieses Films, um ihn zum Sieger des dieswöchigen Arriving-in-Berlin-Subgenre-Duells zu küren. Denn Berlin ist hier aufregendes Reich des Zwangs und eben nicht das langweilige Reich der Freiheit von Unorthodox. Und selbst wenn die stilisierte Ästhetik von Ottingers Film manchmal ähnlich neurotisch daherkommt wie das Vorhaben ihrer Protagonistin, retten schon bald eine Albernheit, eine plötzlich auftauchende Nina Hagen oder auch nur der nächste Drink das Geschehen vor dem Austrocknen. Das Lexikon des internationalen Films monierte einst den “unpräzisen Einsatz der filmischen Mittel”, aber sowas passiert halt, wenn man nüchtern urteilt.

Nur noch kurz verfügbar bei arsenal 3

Quarantäne als große Verdrängung: Mulholland Drive

Als ich dann noch schnell das MUBI-Portal checken will, heißt’s auf einmal: Mulholland Drive! Und als Hintergrund diese bitterste aller Kinoszenen, selbst wenn der Club Silencio kein Kino ist, aber natürlich ist er es irgendwie doch: die Einsicht in die große Illusion, und danach wartet nicht einmal ein gutmütiger Zauberer, sondern nur das unbarmherzige Reale, das Betty/Diane hier endgültig und im wahrsten Sinne des Wortes den Schlaf raubt.

Vielleicht müßig, einen solchen Film zu empfehlen, den „man“ ja irgendwie kennt, der ja irgendwie „Kultfilm“ ist, der aber gerade das nicht verdient, weil er Traum nicht mit Surrealismus verwechselt und sein psychoanalytisches Kapital nicht einfach in ein Ticket ins beliebig Fantastische investiert. Kein Mindfuck, sondern Liebesdrama, Hollywood-Abrechnung und ein ewiger Showdown zwischen psychischen Instanzen. Eigentlich ist Mulholland Drive nur ein einziger, von vornherein zum Scheitern verurteilter Verdrängungsversuch, damit schon wieder conditio corona: So sehr wir nicht dran denken wollen mögen, so lange wir uns mal wieder ablenken, irgendwann steht ein Cowboy im Zimmer und weckt uns auf, erinnert an den Zustand der Welt. Für Hoffnungsvolles müssen wir wohl schon in anderen Dimensionen denken: Also vielleicht auch mal wieder Zeit für Interstellar, den es bei Netflix gibt, und seine be(un)ruhigende Relativität. Wie viel Zeit da draußen in der Welt wohl vergangen sein wird, wenn die Quarantäne hier drinnen irgendwann vorbei ist?

Verfügbar bei MUBI

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