Streaming-Tipps: Architekt barocker Modellwelten

Der Regisseur Janusz Majewski begann seine Karriere als Fachmann für das Unheimliche. Später erweckte er Landschaften und Milieus der untergegangenen polnischen Vorkriegszeit in großen Kostümfilmen zum Leben. Über drei seiner Filme, die auf YouTube vefügbar sind.


In jeder Szene wird jemand an der Tür belauscht: Jealousy and Medicine 

Man stelle sich vor, Alfred Hitchcock wäre ein polnischer Filmemacher gewesen, der nur alle paar Jahre die Gelegenheit hatte, einen großen Spielfilm zu drehen. Infolge dieser Beschränkung hätte er in das Projekt alle seine ästhetischen und psychologischen Obsessionen auf einmal hineingezwängt, sodass der Plot des Films hinter einem Wirbelwind komplizierter Kamerafahrten, verschwenderischer Kulissen, purpurner Lichteffekte und wilder Zooms nahezu verschwindet. Worum ging es in Jealousy and Medicine (Zazdrość i medycyna, 1973) noch mal? Ach ja: Um den eifersüchtigen Bourgeois Widmar (Mariusz Dmochowski), der versucht herauszufinden, ob seine Frau Rebeka (Ewa Krzyżewska) eine Abtreibung hatte und ob sie daraufhin eine Affäre mit Doktor Tamnten (Andrzej Łapick ) begonnen hat, der den Eingriff durchführte. Aber die genauen Umstände des Plots scheinen Regisseur Janusz Majewski deutlich weniger zu interessieren als die unzähligen perspektivischen Brechungen, die er diesem vorschiebt. Lustvoll zieht er ein filmisches Uhrwerk auf, in dem in jeder Szene jemand durch den Spalt einer angelehnten Tür belauscht zu werden scheint, die Kamera voyeuristisch hinter bunten Vorhängen hervorlugt, ein nie abreißender Herbstwind auf dem Soundtrack wütet und ständig Leute von den noch neuartigen Automobilen überfahren werden. Wir befinden uns in der Zwischenkriegszeit, in der polnischen Kleinstadt Krynica. Ein ephemerer Schauplatz, der mit absurder Liebe zum Detail zum Leben erweckt wird. Offenbar handelt es sich um eine Gesellschaftssatire, denn alle handelnden Figuren sind an der Grenze zur Karikatur gezeichnet. Aber politisch auf dem Spiel steht hier nichts. Unwillkürlich denkt man an die Erzählungen und Gedichte H.C. Artmanns, in denen ein buntes, aber seltsam puppenhaftes Ensemble aus literarischen Typen des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand fantastischer Collagen im Sinne des L’art pour l’art wird.

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Es gibt keine Welt außerhalb: Hotel Pacific

In Hotel Pacific (Zaklęte rewiry, 1975) fährt Majewski seine Lust am barocken Exzess zurück. Dafür tritt sein Streben in den Vordergrund, mit den Mitteln des Kostümfilms und einem eng umrissenen Schauplatz eine filmische Welt von maximaler Dichte zu erzeugen. Die Handlung führt uns tief in das Innenleben des titelgebenden Grandhotels in Krakau, in das Roman Boryczko (Marek Konrat), ein junger Mann aus der Provinz, sich eines Nachts verirrt und dort prompt Anstellung findet. Majewski schöpft hier innerhalb der engen Grenzen des neunzigminütigen Spielfilms das erzählerische Prinzip aus, das zahlreichen Fernsehserien als Motor dient: Das Hotel als geschlossene Institution wird als eigenständige Welt begriffen, die eine potenziell unbegrenzte Anzahl an Geschichten und Verwicklungen hervorbringen kann. Die Kamera verlässt das Innere des Gebäudes nur ein einziges Mal, als der Protagonist in einem Bordell seine Unschuld verliert. Aber auch in dieser Szene bleibt die Außenwelt schleierhaft, einige dunkle Gassen vor dem anonymen Dickicht einer Stadt, in der nur das Hotel als vollständig realisierter Raum existiert. Vor den zahlreichen Seitenplots und Nebenfiguren, die Romans Aufstieg begleiten, kristallisiert sich sein Ringen mit seinem Vorgesetzten Fornalski (Roman Wilhelmi) als zentraler Konflikt heraus. Kann Roman in der Hierarchie des Hotels aufsteigen, ohne sich seinem Vorgesetzten anzugleichen, den er für seine despotische Art verachtet? Die strenge Art, auf die der Wucherung der Geschichten in diesem Film ein Ende gesetzt wird, nachdem der Protagonist dem Hotel den Rücken kehrt, legt dem Zuschauer nahe: Es gibt keine Welt außerhalb des Hotels, und umgekehrt ist das Hotel die Welt.

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Über allem ein Hauch miasmatischer Dünste: Lesson of a Dead Language

Majewskis folgender Spielfilm Lesson of a Dead Language (Lekcja martwego języka) trägt alle Anzeichen der Handschrift des Regisseurs, dennoch konnte das Publikum 1979 nichts auf die Entfesselung aller seiner exzessiven Neigungen vorbereitet haben. Die Lust an Stilisierung, die man bereits in Jealousy and Medicine beobachten konnte, kehrt zurück, und auch sein Gefallen am Zeichnen einer auf tragische Weise untergegangenen Epoche der osteuropäischen Geschichte ist stärker ausgeprägt denn je. Die literarische Vorlage des Films bildet dieses Mal jedoch kein satirisches Sittengemälde, sondern ein symbolistischer Roman, der aus der der dekadenten Tradition europäischer Dichtung schöpft, in der Okkultismus und Poesie sich vereinen. „Lesen Sie nicht Mallarmé, das ist vergiftete Literatur“, rät ein Arzt in diesem Film seinem Patienten, und ein Hauch miasmatischer Dünste scheint über dem ganzen Film und seinen Figuren zu liegen. Schon 1970 führte uns Majewskis gotischer Horrorfilm Lokis ins Osteuropa an der Schwelle zwischen 19. und 20. Jahrhundert und ließ dort protestantischen Rationalismus auf die legenden- und magiegesättigte Landschaft Litauens treffen. Dieses Mal steht Galizien, damals Teil von Österreich-Ungarn, für das verzauberte, untergegangene Osteuropa. Der Protagonist, Oberleutnant Alfred Kiekeritz (Olgierd Łukaszewicz ), ist hier auf einem abgelegenen Militärstützpunkt stationiert, wartet auf das Ende des Ersten Weltkrieges und auf seinen Tod, denn er ist unheilbar an Tuberkulose erkrankt. Seine letzten Monate auf Erden verbringt er mit der Versenkung in spirituelle Visionen und Séancen, wobei er vom perversen Bedauern geplagt wird, nicht aktiv an Kriegshandlungen teilgenommen zu haben und somit die Erfahrung des Tötens zu entbehren, von der er sich mystische Offenbarungen verspricht. Ähnlich wie Krzysztof Zanussis Spirala, der ein Jahr vorher entstanden ist (ebenfalls auf YouTube verfügbar), ist Lesson im Kern ein düsterer Film über das Scheitern am Versuch, den eigenen Tod mit Sinn zu erfüllen. Auch da die historische Epoche, in der Kiekeritz gelebt hat, mit ihm zusammen stirbt. Doch Majewski, der niemals in das Klischee des polnischen Filmemachers als existenziellen Grüblers gepasst hat, erfüllt diese Geschichte mit einer solchen Dichte an kulturellen Details, literarischen und kunsthistorischen Anspielungen sowie einem Ensemble aus geradezu burlesken Nebenfiguren, dass die verwunschene Welt dieses Films den Untergang ihres Protagonisten mühelos überdauert.

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