Stoß das Tor zur Hölle auf: Die Filme von Hisayasu Satō

Seelische Krüppel, Rape-Fantasien und ziemlich viele Injektionsnadeln: In den kalten und rohen Erotikfilmen von Hisayasu Satō ist der Wahnsinn kein Ausnahmezustand. Zum Auftakt unserer Reihe erzählt Oliver Nöding, wie er die Angst vor der Begegnung mit dem Werk des japanischen Regisseurs überwand und warum sich das gelohnt hat.

Naked Blood 1

Eine Tür zu einem bislang verschlossenen Raum aufzustoßen und die unbekannten Schätze dahinter zu entdecken: Das habe ich am „Fansein“ – egal ob es um Film oder Musik geht – immer am meisten genossen. Plötzlich eröffnet sich einem eine ganz neue Welt mit bislang fremden Namen, eigener Ästhetik und zunächst noch unverständlichen Regeln. Über die Entdeckung lernt man wieder zu staunen, erinnert sich daran, wie es ist, Dinge zum ersten Mal zu sehen, zu hören, zu erleben. Wie auf einer Reise an fremde Orte oder beim Sex mit einem neuen Partner. So bin ich irgendwann über den japanischen Pinku Eiga gestolpert, ein faszinierendes, rein quantitativ schon nahezu unergründliches Genre – und über einen seiner Protagonisten: Hisayasu Satō.

Lolita Vibrator Torture DVD Cover

Der Pinku ist für sich genommen schon hochgradig spannend. Ein durch und durch kommerzielles Genre, dessen Beiträge von den großen Studios Nikkatsu und Toei im Fließbandtempo in hoher Stückzahl und nach streng geregeltem Muster produziert wurden, ihren Regisseuren aber gleichzeitig große Entfaltungsmöglichkeiten boten. So entstanden experimentelle, originelle, schockierende, bizarre, bescheuerte oder auch schlicht zauberhafte Filme: der ideale Schulterschluss von Kunst und Kommerz. Wenn man sich die DVD-Cover etwa der Nikkatsu-Roman-Porn-Reihe anschaut, die in den USA herausgegeben wird, dann erscheint der Pinku Eiga bunt und verrückt, mit fantasievoll-haarsträubenden Titeln, die aus sexuellen Fantasien und Fetischen ein wüstes Comicadventure machen. Schulmädchen, Rape und Bondage, Historienstoffe, Serienmörder, Nazis, Rocker, sündige Ehefrauen, perverse Lustmolche: Mit dem Pinku Eiga öffnet sich Pandoras phallisches Füllhorn und ergießt die geilen Sensationen über den Betrachter.

Keine gewöhnlichen Pinku Eiga

The Bedroom 2

Satōs Filme fallen aus diesem Rahmen zunächst völlig raus. (Man muss dazu sagen, dass der „klassische“ Pinkfilm, wie er etwa von Nikkatsus Roman-Porn-Reihe repräsentiert wird, schon in den letzten Zügen lag, als Satō seine ersten Filme drehte.) Zwar finden sich einige gewöhnliche, für die großen Studios produzierte Pinkus in seiner Filmografie, mit so lustigen Titeln wie Mad Love: Lolita Poaching, Sex Virgin Unit: Party of Beasts, Office Lady Rape: Disgrace!, Beauty Reporter: Rape Broadcast oder Molestor’s Train: Nasty Behavior, aber eben auch düstere, experimentelle Underground-Filme. Was den meisten gemeinsam ist: Sie sind in einer kalten, urbanen Welt angesiedelt, ihre Einwohner sind einsam und desorientiert, Sex ist etwas Furchteinflößendes, zumindest aber Beunruhigendes. Der Vergleich mit David Cronenberg, der oft gezogen wird, leuchtet sofort ein, vor allem wenn man sich Titel wie Lolita Vibrator Torture, Lustmord, Horse and Woman and Dog vor Augen führt, die Sex und Horror miteinander verbinden, eher Verstörung als Lustgewinn anstreben. Meine Erstbegegnung mit Satō plane ich für eine einsam verbrachte Nacht, aber ich nehme dann doch Abstand davon. Ich weiß nicht, ob ich Satōs Visionen verkrafte. Die Screenshots aus seinen Filmen machen mir teilweise richtiggehend Angst.

Naked Blood 2

Mittlerweile habe ich fünf Filme von ihm gesehen: Den splatterigen Naked Blood (1996), den bizarren Vampirfilm Love – Zero = Infinity (1994), den bereits erwähnten Lolita Vibrator Torture (1987) sowie die frühen Pinkus Rape Climax! (1987) und Wife Collector (1985). Was allerdings nur ein Bruchteil seines gewaltigen Gesamtwerks ist, das laut IMDb mehr als 60 Titel aus dem Zeitraum von 1985 bis 2016 umfasst. Naked Blood gilt als „berüchtigt“, und wenn man im Netz nach ihm sucht, stößt man wahrscheinlich auf die Erwähnung einer Szene, in der eine junge Frau sich die Schamlippen abschneidet und isst. Ich mache mich auf einiges gefasst, aber tatsächlich ist der Film eher harmlos, teilweise gar komisch. Er handelt von einem Jugendlichen, der eine Droge erfunden hat, mit der Schmerz in Vergnügen verwandelt wird. Zum Testen verabreicht er das Mittel drei nichtsahnenden jungen Frauen, die daraufhin eine eher ungünstige Entwicklung nehmen, und verliebt sich in die dritte, ein an Schlaflosigkeit leidendes Mädchen, das eine telepathische Beziehung zu einem Kaktus unterhält. Naked Blood ist preiswert und krude, aber nicht ohne Charme – tatsächlich ein guter Einstiegsfilm ins Werk Satōs, weil er seine Themen im Rahmen eines Genrefilms verhandelt. Dass der Stoff Satō nahelag, erkennt man auch daran, dass Naked Blood ein Remake seines früheren Films Lustmord ist.

Liebe in den Zeiten von Aids

Rape Climax

Deutlich komplizierter ist Love – Zero = Infinity: Der Protagonist, ein von seiner Partnerin verlassener Lehrer, lässt sich durch die Straßen Tokios treiben und kommt dabei einem Serienmörder auf die Spur, der seinen Opfern das Blut aussaugt. Bei dem Killer handelt es sich wiederum um die Gattin eines Arztes, die nach einem fehlgeschlagenen Steroid-Experiment Lust auf Blut entwickelt hat. Der Protagonist, der in einer lapidaren Szene erfährt, dass er HIV-positiv ist, verliebt sich in die Frau, und sie beginnen eine Beziehung. Love – Zero = Infinity ist von radikaler Trostlosigkeit, aber nicht ohne Hoffnung. Das Verhältnis der beiden Hauptfiguren mag romantischen Konzeptionen zuwiderlaufen, aber für Träumereien und Idealisierungen ist Satō wahrscheinlich zu sehr Realist. Tokio ist dreckig und düster, die Menschenmassen bewegen sich wie Geister um die zentralen Charaktere herum. Ein am Rand der Geschichte auftauchendes jugendliches Liebespaar, das sich gegenseitig das Blut des jeweils anderen injiziert, verkörpert das bizarre Blüten treibende Bedürfnis, irgendetwas zu fühlen. Mit seinen Drifter- und Femme-fatale-Charakteren, Ellipsen und plötzlichen Einbrüchen von expositorischem Dialog hat Love – Zero = Infinity zudem einen deutlichen Noir-Einschlag. Und wie in Naked Blood kommen ziemlich viele Injektionsnadeln vor.

Love - Zero   Infinity

Rape Climax!, Wife Collector und Lolita Vibrator Torture kreisen allesamt um Rape-Fantasien und zeigen desorientierte Stadtmenschen, die nicht wissen, wie sie ihre emotionalen und physischen Bedürfnisse auf positive Art und Weise ausleben können. In Rape Climax hat die Vergewaltigung durch einen Unbekannten den Menstruationszyklus der Protagonistin durcheinandergebracht. Durch Meditation in Wassertanks hofft sie, ihre Symptome überwinden zu können, doch auch dort wird sie vergewaltigt. Wife Collector handelt von einem Taxifahrer, der seine weiblichen Fahrgäste betäubt und dann vergewaltigt. Eines seiner Opfer entwickelt durch das Erlebnis einen Rape-Fetisch und kann keinen normalen Sex mehr mit dem Ehemann haben. Die jüngere Schwester ist fasziniert und sucht den Vergewaltiger ebenfalls auf. Und in Lolita Vibrator Torture entwickelt sich eine Liebesgeschichte zwischen einem Serienvergewaltiger, der seinen Opfern mit einem Vibrator zusetzt, und einem jungen, vereinsamten Schulmädchen. In beiden ersteren Filmen kommen für Satō sehr typische, mit versteckter Kamera im Guerilla-Stil mitten auf der Straße gedrehte Szenen zum Einsatz, die den Menschen kein gutes Zeugnis ausstellen: Eine Vergewaltigung am Rande einer stark befahrenen Schnellstraße wird in Wife Collector höchstens mit gelegentlichem Hupen quittiert, die Ermordung eines Mannes auf einem Zebrastreifen in Rape Climax! löst keinerlei Reaktionen bei den Passanten aus.

Vergewaltigung als Kunst betrachtet

The Bedroom

Trotz der Kälte und der bisweilen rätselhaften Plotentwicklungen sind Satōs Filme aber keine ätzenden Übungen in Zynismus: Seinen Protagonisten begegnet er mit großer Empathie. Auch die Verbrecher sind letztlich nur arme Tröpfe, unfähig dazu, gleichberechtigte, liebevolle Beziehungen zu führen. Das Leben in Tokio kann nur seelische Krüppel hervorbringen. Und diese Neurosen schlagen sich dann in physischen Deformationen nieder, in perversen Körperbedürfnissen, Gewalt gegen den eigenen Leib und den der anderen. Der Täter aus Lolita Vibrator Torture ist eigentlich ein Künstler, aber um Werke zu erschaffen, muss er Frauen quälen und umbringen. Er erfährt seine gerechte Strafe durch die Hände einer Frau, die danach in den Freitod geht, die einzige Erlösung, die es für sie geben kann. Lolita Vibrator Torture ist bislang auch der Film, der diesem Bild, das ich mir zuerst von Satō gemacht hatte, am ehesten entspricht. Man braucht starke Nerven, um seine Vibratormorde zu ertragen, auch wenn sie nicht in dem Maße explizit sind wie die Szenen eines Splatterfilms. Aber dieser ungeschönte Blick, die Rohheit und Kälte von Satōs visuellem Stil sind schockierend, werden durch die extreme Künstlichkeit seiner Filme nicht unterwandert, sondern eher noch verstärkt. Satō ist kein „klassischer“ Erzähler, er arbeitet immer mit Leerstellen, ist eher an Stimmungen interessiert als an handfesten Fakten, Handlungen und Intentionen. Ein Subplot von Lolita Vibrator Torture behandelt die Massenvergiftung an einer Schule, der fehlgeleitete Streich eines jungen Mädchens. Warum sie das getan hat, wird nie erklärt, aber man versteht es trotzdem irgendwie. Satōs Filme sind – allen heftigen Bildern zum Trotz – ruhig, irgendwie somnambul und elegisch: Dass das Leben aus den Fugen geraten ist, erkennt man nicht an einem um sich greifenden Chaos, sondern an der Teilnahmslosigkeit, die Akte des Wahnsinns nach sich ziehen. Dieser Wahnsinn ist kein Ausnahmezustand mehr, sondern Status quo.

Ich weiß nicht, was mich bei Satō noch erwartet, ob ich den Bestiality-Film Horse And Woman And Dog verkraften werde. Aber ich werde weiter in diese rätselhafte Welt vordringen, in der es so viel zu entdecken gibt. Solange jemand wie Satō die Energie findet, der Leere mit solchen Filmen entgegenzutreten, sind wir noch nicht verloren.

Zu den anderen Texten unserer Hisayasu-Satō-Reihe geht es hier:

Sex ohne Erlösung – Der Schauspieler Kôichi Imaizumi

Lustvolle Selbstzersetzung – Die schwulen Sexfilme von Hisayasu SatôSpecial

Turtle Vision (1991)

Birthday (1993)

Love - Zero = Infinity (1994)

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