Sterben müssen wir alle – San Sebastián Film Festival 2024
Letzte Filme von jung und alt aus San Sebastián: Die 37-jährige Gia Coppola begleitet Pamela Anderson als alterndes Showgirl durch die letzten Wochen einer großen Revue, und der 91-jährige Costa-Gavras dreht einen lebensklugen Crowd Pleaser über Palliativmedizin.
„Sie sagen dir, dass eine Arbeit als Fotografin keine Zukunft hat? Warum das denn?“ Shelley (Pamela Anderson) kann sich wirklich nicht vorstellen, wie man auf so einen Gedanken kommt. Wie die Leute da draußen in der Welt meinen können, dass es nicht unbedingt immer die allerbeste Idee ist, „seinem Herz zu folgen“, dass das Leben als Künstlerin möglicherweise nicht das allerleichteste ist. Für sie selbst steht felsenfest, was die beste aller Lebensmaximen ist: „Folge Deinem Traum!“. Die hohe, flehende Stimme Pamela Andersons, der es gelingt, eine gewissermaßen objektive, gesellschaftliche Verzweiflung hinter solchen Floskeln sichtbar zu machen: Sie ist es, was von The Last Showgirl im Gedächtnis bleibt.
Kollabierender Schutzraum
Freilich: Was ist dieser Rat wert, wenn er von jemandem wie Shelley kommt? Als alterndes Las-Vegas-Showgirl lebt sie in einer glamourös glitzernden Parallelrealität, deren Grenzen und materiellen Sonderbedingungen sie schon lange nicht mehr durchschaut, wenn sie es denn je getan hat. The Razzle Dazzle, die Show, in der sie auftritt, ist für sie die Essenz von weltläufiger Eleganz, ein Hauch von Paris und 19. Jahrhundert in der amerikanischen Gegenwart. Und keineswegs die angestaubte, ästhetisch verbrämte und deshalb nur umso obszönere Fleischbeschau, als die sie von fast allen anderen wahrgenommen wird.
Eine große Stärke des Films besteht nun darin, dass er sich diesen Blick von außen nicht zu eigen macht. Von The Razzle Dazzle selbst sehen wir bis zur vorletzten Szene des Films nichts. Umso häufiger befinden wir uns hinter der Bühne, in der Garderobe. Shelley legt sich den Glitzerschmuck um Kopf, Hals und Brüste wie eine Rüstung. Im Kreis der Frauen, die sich alle derselben Idee von Schönheit verschrieben haben, fühlt sie sich am wohlsten; hier ist ihr Schutzraum. Der freilich eines Abends kollabiert, als eine tiefe, männliche Grummelstimme in ihn hineinbrummt: „In zwei Wochen ist alles vorbei.“
Die Show wird abgesetzt, Shelley steht vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz und verliert sich im Folgenden nur noch mehr in ihren selbsterrichteten Fantasmen. Während eine Reihe anderer Figuren vergeblich versuchen, ihre narzisstisch überformte Traumwelt mit wenigstens ein klein wenig Realitätssinn anzureichern: darunter ihre von ihr entfremdete Tochter Hannah (Billie Lourd; das ist die Fotografin), ihr Ex Eddie (Dave Bautista; das ist der mit der Grummelstimme), sowie ihre ehemalige Kollegin Annette, ein anders kaputtes Kulturindustrie-Schlachtross, das inzwischen als Cocktail-Waitress arbeitet (Jamie Lee Curtis; jede Szene mit ihr ist ein Fest).
Melodram oder Hangout-Movie?

Ästhetisch bleibt der Film stets mit seiner Hauptfigur solidarisch, sucht mit ihr gemeinsam wieder und wieder nach Momenten der Würde in der Tristesse. Zu den besten Passagen gehören jene, in denen Regisseurin Gia Coppola (Francis Fords Enkelin, Sofias Nichte) Anderson frei von allen Drehbuchzwängen mit der Handkamera auf dem Las Vegas Strip filmt, wohl wissend um die Abgegriffenheit solcher Bilder. Den überkommenen Klischees im Moment ihres Brüchigwerdens noch ein letztes Stück Schönheit abzutrotzen, darum geht es in einem klassischen Starvehikel, das nicht einfach nur Andersons Vergangenheit als wandelnder feuchter Jungmännertraum dekonstruiert; sondern auch um das letztlich nie komplett auf eine simpel ideologiekritische Lesart hin auflösbare Wechselverhältnis zwischen Fantasieproduktion und Selbstkonzept weiß. Die alten Fantasien werden nicht durch die „Wahrheit“ (der Geschlechterverhältnisse oder was auch immer) ersetzt, sondern durch neue Fantasien. Sex-Positivity heißt eine dieser neuen Fantasien, mit denen Shelley nichts anfangen kann.
Die filmhistorischen Vorbilder sind überdeutlich. Norma Desmond in Sunset Boulevard vor allem, Elizabeth Berkleys High-Energy-Camp-Performance in Showgirls schwingt als Gegenbild mit. Dramaturgisch ist das alles, das sei hinzugefügt, weitaus konventioneller gebaut als bei Wilder und Verhoeven. Gelegentlich hat man außerdem den Eindruck, dass Gia Coppola sich nicht entscheiden kann, ob sie nun ein überlebensgroßes, operatisches Melodram drehen will, oder doch lieber ein relaxtes Hangout Movie, das bittersüße Spaziergänge auf einem Trümmerfeld gleichzeitig biografischer und kulturindustrieller Träume unternimmt. Besser ist der Film zweifellos, wenn er letzterem Impuls folgt.
Die Leidtragenden derartiger tonaler, glücklicherweise stets nur temporärer Unstimmigkeiten sind vor allem die jüngeren Razzle-Dazzle-Kolleginnen Shelleys. Man mag das als ausgleichende Gerechtigkeit (kaum mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein, selbstverständlich) angesichts der nach wie vor grassierenden Altersdiskriminierung im Filmgeschäft empfinden; aber zumindest Jodie (Kiernan Shipka) hätte man mehr Screen Time gewünscht. Sie ist die Einzige, die Shelleys Fantasma versteht und zumindest teilweise als ihr eigenes übernimmt. Eine junge, naiv-raubtierhafte Erbin und potenzielle Muttermörderin, die vom Drehbuch leider etwas allzu ruppig abgefertigt wird.
Ohne falsche Scham
Auch der europäische Autorenfilm hat seine Schlachtrösser: Costa-Gavras, seit den 1960ern als Regisseur aktiv, ist inzwischen 91, schaut aus wie Mitte 70, und wenn man sich nur an die Stimme hält, mit der er in der Pressekonferenz über seinen neuen Film Last Breath spricht, hält man ihn für kaum älter als 50. Gedreht hat er einen genuinen Crowd-Pleaser – über Palliativmedizin.

Strukturiert ist der Film episodisch, wobei die einzelnen Miniaturerzählungen über Patienten, die, mal früher mal später im Leben und mit mal mehr mal weniger Einsicht in ihr Schicksal, umsorgt von mal weniger mal mehr kooperativen Verwandten, ihre letzten Lebenstage in einem Hospiz verbringen, sich entlang eines Zwiegesprächs aufreihen. Dieses Gespräch führen: der engelshafteste Arzt aller Zeiten, von Kad Merat angelegt als ein tiefenentspannter Vollbartträger, der sich in seinem zugewandten Humanismus von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen lässt; und ein nervöser, neugieriger Schriftsteller, gespielt von Denis Podalydès, der ein Buch übers Sterben zu schreiben plant, beziehungsweise im Laufe des Films auch tatsächlich schreibt. Im Großen und Ganzen läuft die Sache auf menschenfreundlichen Pragmatismus hinaus: Sterben müssen wir alle, also ist es sinnvoll, das Thema Tod zu enttabuisieren. Wenn nur alle miteinander reden, respektvoll aber ohne falsche Scham, dann bekommen wir sogar das Sterben gebacken.
Filmkritikermäkeleien
Routinierter Showman, der er ist, nimmt Costa-Gavras einige der Einwände, die man gegen seinen Film erheben könnte, in diesem selbst vorweg: Ist es nicht eine sehr privilegierte Form des Sterbens, die hier vorgeführt wird, heißt es einmal? Ist es, sicher, aber trotzdem rühren die Fragen, die die teure und personalintensive Palliativmedizin aufruft, an Grundlegendem. Warum wird in den europäischen Kliniken und Hospizen der Tod vom Leben abgesondert, als wäre er nicht Teil desselben, wäre es nicht schöner, die Alten im Kreis der Gemeinschaft der Lebenden sterben zu lassen, wie es etwa in einigen Regionen Afrikas immer noch praktiziert wird? Möglicherweise, aber die Medizin muss sich nun einmal mit jener Gesellschaft arrangieren, deren Teil sie ist. Betrügt uns die Palliativmedizin am Ende gar um die basale menschliche Erfahrung des Schreckens des Todes? Vielleicht sogar das, in der Theorie, aber man muss schon ein Miesepeter Houellebecq’schen Ausmaßes sein (ein lässig in den Film geschriebener Seitenhieb, der in meinem Screening für großes Gelächter sorgte), um aus einem solchen Gedanken praktische Konsequenzen abzuleiten zu versuchen.
Sind damit alle Fragen beantwortet? Vielleicht nicht ganz. Meine erste wäre: Ist es wirklich notwendig, Podalydès’ Figur ebenfalls eine Krebserkrankung anzudichten? Wird damit nicht die größte Stärke des Films, sein unaufgeregter gesprächsförmiger Fluss, doch wieder einer Finalisierungslogik unterworfen? Und apropos Finalisierung: Ist das letzte der dargestellten Lebensenden, die Geschichte einer Matriarchin, die die Reise in die ewigen Jagdgründe nicht nur im Kreise ihrer sie in rührender Umsicht umhegenden Liebsten, sondern auch von euphorisch-elysischer Musik untermalt antritt, nicht vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten? Aber andererseits: Wer angesichts des lebensklugen Films eines 91-Jährigen über das Sterben nichts Besseres zu tun hat, als Filmkritikermäkeleien anzuhäufen, dem ist vermutlich wirklich nicht mehr zu helfen.
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