„Spielt doch endlich mal!“ – Chris Dercon und die Volksbühne Berlin
Chris Dercons vorzeitig beendete Intendanz ist eine verpasste Chance für die Stadt und ein Armutszeugnis für die hiesige Kulturszene. Über eine von Vorurteilen belastete Debatte und ein Theaterprogramm, das etwas radikal Anderes versuchte, ohne dass es jemand mitbekommen hätte.

Wer schon vorher wusste, wie er die neue Volksbühne zu finden hatte, kam bei der Spielzeiteröffnung am Rosa-Luxemburg-Platz voll auf seine Kosten: Während die Zuschauer auf den Stufen des großen Saals saßen, dröhnten schwere Gitarrenriffs aus den Boxen. Das Licht ging mehrmals an und aus, die Kronleuchter fuhren rauf und runter – und nach ein paar Minuten war die Maschinenperformance des Künstlers Tino Seghal auch schon wieder vorbei.
So sieht es also aus an einem Ort, an dem man Schauspieler ins Abseits drängt und an dem das Theater, wie wir es kennen, zerstört wird: wie ein Rockkonzert, aus dem man alles Menschliche herausradiert hatte. Dabei war dieser geisterhafte Saison-Auftakt denkbar naheliegend: Bevor es richtig losging, sollte sich das Haus erstmal selbst vorstellen – mit jenen Aspekten, die sonst als gegeben hingenommen werden: der Architektur und der Technik. Gerade im Naheliegenden offenbarte sich die radikal andere Perspektive des neuen Leiters Chris Dercon.
Die Scheuklappen der Theaterszene

Bereits Monate vor diesem Abend, der bei so manchem für Ratlosigkeit sorgte, war man sich erstaunlich einig in der Ablehnung Dercons und seines Teams. Der belgische Kurator konnte auf keinerlei Rückendeckung hoffen. Nicht von den anderen Berliner Intendanten, nicht vom alten Volksbühnen-Team, das mit kindischen Trotzaktionen einen unwürdigen Abgang hinlegte, und auch nicht von den meisten kulturinteressierten Berlinern – von denen ein zwar nur kleiner, aber umso „engagierterer“ Teil gar über Monate auf der Facebook-Seite des Theaters systematisches Mobbing betrieb.
Man kann viele Gründe für diese Welle des Hasses suchen – von Dercons umstrittener Ernennung durch den damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner über die Vernachlässigung von Ensemblebetrieb und Eigenproduktionen bis zu den Verlustängsten alteingesessener Berliner. Das Frustrierende an dieser ganzen Geschichte ist jedoch, dass sich kaum jemand die Mühe gemacht hat, sich ernsthaft mit dem neuen Programm auseinanderzusetzen. Selbst innerhalb der Kulturszene – also eigentlich unter gebildeten, offenen Menschen – wurde mit kaum zu überbietender Selbstgerechtigkeit privat genauso wie öffentlich immer wieder derselbe Quatsch von der neoliberalen Eventbude und dem seelenlosen Durchreisetheater nachgeplappert.

Man entschied sich dazu, Dercon erst gar keine Chance zu geben. Besonders bockig reagierte man im Theater-Milieu, wo man sich durch den Quereinstieg des Intendanten schon aus Prinzip auf den Schlips getreten fühlte und auch nicht davor zurückschreckte, angestaubte Vorurteile gegen modernen Tanz und zeitgenössische Kunst aus der Mottenkiste zu ziehen. Wer so penibel auf der Trennung der Künste beharrt, würde sich freilich nie auf einen Ort einlassen, der entschieden auf das Interdisziplinäre setzt – und zwar nicht als schicke Marke, sondern als unerschütterliche Hoffnung, über andere Kunstformen einen frischen Blick aufs Theater zu bekommen.
Nun ist Dercon also weg. Wie es der Zufall will, kommt sein Rücktritt nur wenige Tage, nachdem Matthias Lilienthal, der einen zumindest einigermaßen ähnlichen Ansatz verfolgte, bekannt gab, seinen Vertrag an den Münchner Kammerspielen nicht zu verlängern. Vorausgegangen waren ständige Angriffe von eher traditionell eingestellten Journalisten sowie der konservativen CSU. Überraschenderweise hörte man in Berlin fast dieselben Argumente, diesmal aber von Leuten, die sich zwar als links und progressiv verstehen, plötzlich aber für die Bewahrung von Traditionen plädierten und radikalen Veränderungen aus Prinzip den Kampf ansagten.
Ein Abgesang auf schauspielerisches Virtuosentum

Die vielleicht unrühmlichste Rolle bei der Schmutzkampagne gegen Dercon – die tatsächlich immer erschreckend persönlich war, sich ganz gezielt gegen den Belgier richtete, den vermeintlich Neoliberalen, den Kunstfuzzi mit Schal und Prada-Schuhen – fiel jedoch der Presse zu. Es war faszinierend zu sehen, was da in mehr oder weniger renommierten Redaktionen teilweise als Premierenkritik durchgewinkt wurde. Von kleinen, eigentlich eher alternativen Zeitungen bis zur überregionalen Presse schien es plötzlich keine Voraussetzung der Kritik mehr zu sein, sich offen auf etwas Neues einzulassen. Stattdessen wurden Texte wahlweise zum Vehikel einer politischen Agenda oder zum Ausdruck der eigenen Borniertheit.
Der unbestrittene Tiefpunkt dieser Alibi-Auseinandersetzung erfolgte bei Albert Serras Inszenierung Liberté, bei deren Premiere die feindselige Atmosphäre im Publikum von der ersten Minute an zu spüren war. Danach las man immer wieder, die Vorführung sei angeblich viel zu leise gewesen. Tatsächlich hat man sogar von der letzten Reihe gut gehört – zumindest wenn sich das Publikum nicht demonstrativ unterhalten oder dazwischengerufen hätte.

Wer sich darauf einlassen wollte, konnte mit Liberté einen sehr anregenden Theaterabend erleben, an dem Serra, ähnlich wie in seinem letzten Film Der Tod von Ludwig dem XIV., mit beißendem Witz die Rituale eines langsam dahinsiechenden Adels als leere Choreografien entlarvt. Ständig werden Sänften auf die Bühne getragen, abgestellt, gedreht und wieder abgeholt. Dazwischen unterhalten sich die französischen Libertins etwa über Lust und Ökonomie und darüber, dass man sexuelle Freiheit manchmal eben auch zwangsverordnen muss. Aber so richtig einig werden sie sich nie. Stets sieht man Menschen, die sich vor der pastoralen Potsdamer Rokoko-Landschaft aus dem späten 18. Jahrhundert umkreisen, ohne sich zu befriedigen – so wie Serra auch eigentlich immer von verhinderten (auch dramatischen) Höhepunkten erzählt. Liberté arbeitet mit Wiederholungen, bremst immer wieder den Spannungsaufbau ab und schafft dadurch einen kontemplativen Raum, der wie eine pittoreske Nahtoderfahrung wirkt.

Der Coup, dass Serra mit Ingrid Caven und Helmut Berger für den alten, aber immer noch recht unbiederen Adel zwei Weltstars gewinnen konnte, führte bei einem Großteil der Presse zu dem Missverständnis, man würde bekannte Schauspieler „verheizen“, indem man sie mit Laien spielen lässt, sie die meiste Zeit in Sänften versteckt und damit dem Zugriff des Zuschauerblicks entzieht. Dabei geht es in Liberté gerade darum, dass die Freizügigkeit ein Konzept bleibt, das sich nicht verwirklichen lässt. „Spielt doch endlich mal!“, rief ein besonders ungeduldiger Störer während der Premiere. Und tatsächlich schien vor allem die Verweigerung gegenüber dramatischer Verdichtung und schauspielerischem Virtuosentum für viele Zuschauer die größte Provokation zu sein. Da war es dann doch recht aufschlussreich, dass (teils auch ausländische) Journalisten aus dem Film- und Kunstbereich viel mit der Produktion anfangen konnten, während fast die gesamte Theaterkritik maßlos überfordert war.
Der Laie sieht mehr – oder zumindest anders

An der Volksbühne inszenierten nun nicht nur Filmemacher wie Serra und Apichatpong Weerasethakul, sondern auch bildende Künstler wie Tino Seghal und Yael Bartana, Tänzer wie Boris Charmatz und Mette Ingvartsen sowie die Regisseurin Susanne Kennedy, die zwar vom Theater kommt, seinen Konventionen gelinde gesagt aber eher skeptisch gegenübersteht. Und dann gab es auch noch eine Neueinstudierung von Jérôme Bels mittlerweile 25 Jahre altem Stück The Show Must Go On, dessen Programmierung gerne als sichere Nummer gesehen wurde. Dabei passt Bels Ansatz, Tanz-Laien zu Popsongs abspacken zu lassen und dadurch einem durchprofessionalisierten Betrieb neue Impulse von außen zu geben, wohl an kaum einen Ort besser als an die neue Volksbühne. Die neue laborartige Atmosphäre beinhaltete ohnehin immer, dass man auch scheitern konnte.

Der vielleicht unsinnigste Vorwurf an Dercon war der häufig wiederholte, das Programm sei konzeptlos und beliebig. Für jeden halbwegs aufmerksamen Beobachter war es nicht zu übersehen, dass sich darin durchaus Leitmotive und Verbindungslinien entdecken ließen. In Susanne Kennedys Women in Trouble tragen die Schauspieler etwa wachsartige Masken und bewegen nur den Mund, während die Stimmen vom Band kommen. Die Hauptfigur – eine an Krebs erkrankte Soap-Darstellerin in der Krise – wird zudem von mehreren Darstellern verkörpert. Durch eine endlos rotierende Drehbühne schafft Kennedy einen beklemmenden Loop, in dem sich mit fortschreitender Zeit nicht nur die Handlung zersetzt, sondern auch die Figuren.
Mit einer Collage aus Fremdtexten erzählt Women in Trouble von einer Welt, in der die Menschen besessen sind von Selbstoptimierungsstrategien und ihre eigene körperliche Versehrtheit verdrängen. Ähnlich wie in ihrer anderen an der Volksbühne gezeigten Inszenierung Die Selbstmord-Schwestern erzählt die Regisseurin von der Sehnsucht, sich im Virtuellen aufzulösen; nicht zuletzt als moderne Version eines religiösen Wunsches nach Transzendenz. Und auch wenn die Inszenierung streckenweise durchaus spröde ist, weil sie ihr Publikum konsequent auf Distanz hält, entwickelt das dystopische Plastikszenario doch auch eine hypnotische Sogkraft, in der sich der Zuschauer ähnlich wie die Heldin Angelina Dreem verlieren kann.

Unter Dercon waren nicht nur klassische Vorstellungen von Identität, Narration und Authentizität bedroht, sondern auch die Stabilität des Theaterraums – mit Full Screen gibt es sogar eine digitale Spielstätte, die zwar nur etwas nachlässig genutzt, mit Arbeiten von Alexander Kluge und Jan Bonny aber durchaus ambitioniert bespielt wird. In Apichatpong Weerasethakuls Multimedia-Installation Fever Room schien sich der große Saal sogar komplett aufzulösen. Zunächst flankieren noch verschiedene Leinwände den Zuschauerraum, auf denen man den Protagonisten aus Weerasethakuls letztem Spielfilm Cemetery of Splendour wiederbegegnet. Doch kaum wurde die Geschichte angetriggert, fahren die Leinwände wieder nach oben, und der Raum verwandelt sich in eine immaterielle Installation aus Lichtern, Sounds und Nebel. Weerasethakul nimmt dem Theater die Gegenständlichkeit und führt uns in einen Traum, der uns sämtlicher Sicherheiten beraubt.
Die Sinnlichkeit im Abstrakten

Überhaupt war eine der größten Irritationen unter Dercon der Hang zur Abstraktion. So gab es zwar durchaus auch körperliche Verausgabung, aber eben nicht in Form von sich emotional veräußernden Figuren, sondern als Tanz. In Mette Ingvartsens to come (extended) ist es zunächst noch unmöglich, die Tänzer nach individuellen Merkmalen zu unterscheiden, weil sie in türkisene Ganzkörperanzüge gehüllt sind. Ständig rutscht der Blick an der künstlichen Oberfläche ab, kann die Personen teilweise noch nicht einmal einem Geschlecht zuordnen. Immer wieder formen sich diese Figuren zu unterschiedlichen erotischen, barock anmutenden tableaux vivants. Im zweiten Teil sind sie dann komplett nackt, um sich einer Art schweißtreibendem Charleston-Marathon hinzugeben. Dabei wird der Tanz zu einem Verwandten des Sex, weil er zwar eine Form von individueller Befreiung ermöglicht, dabei aber doch innerhalb einer zwanghaften Choreografie bleiben muss.
Obwohl die neue Volksbühne divers ist (im Vergleich zur alten gab es etwa deutlich mehr nicht-weiße Darsteller auf der Bühne, mehr Frauen im künstlerischen Team und eine weniger klassisch heterosexuelle Stoßrichtung), wurde diese Diversität – im Gegensatz etwa zum Maxim Gorki Theater – nie Teil des Images. Wenn Produktionen wie die von Ingvartsen entweder gar nicht oder nur am Rande registriert wurden, dann auch, weil im deutschen Feuilleton der zeitgenössische Tanz im besten Fall stiefmütterlich behandelt wird. Dieses Befremden hat wohl nicht nur damit zu tun hat, dass sich der Tanz dem Konkreten der Sprache entzieht, sondern durch seine Körper- und Gefühlsbetontheit auch eine traditionell eher weiblich besetzte Kunstform ist.
Kuratierte Abende

Die Reflexion über das Theater war freilich nichts genuin Neues. Auch unter Castorf wurde an der Volksbühne bereits das klassische Theater dekonstruiert, ebenso Verbindungen zu anderen Künsten hergestellt. Allerdings verschrieb man sich damals einem möglichst expressiven Aktionismus. Wenn hier mit der Illusion der Bühnenwelt gebrochen wurde, geschah das meist über eine Ironie, die immer auch etwas von einer voreiligen Absicherung hatte. Bei Dercon wollte zwar so mancher eine „bis zur Freudlosigkeit ausgedörrte Kunstanstrengung“ gesehen haben, jedoch nicht, dass hier auch ein Raum geschaffen wurde, der nicht nur Reflexion, sondern auch Hingabe ermöglichte.
Vonseiten der Gegner wurde kaum eine Gelegenheit ausgelassen zu betonen, dass Dercon ja nur ein Kurator sei. Das war zwar nicht nett gemeint, passte am Ende aber doch gut zu den mehrteiligen Abenden, die verschiedene Kunstformen zueinander in Beziehung setzten. So gab es etwa ein Ingvartsen-Double-Feature, das durch erotische 16mm-Experimentalfilme von Regisseurinnen wie Carolee Schneemann und Barbara Hammer ergänzt wurde. Dabei ging es unter anderem darum, wie man als feministische Künstlerin einen angemessen Zugang finden kann, den (eigenen) nackten Körper zu inszenieren – und dabei eine Position findet, in der man einerseits die Kontrolle über den Blick behalten möchte, sie andererseits aber auch wieder abgeben muss, um sich dem Rausch der Sexualität hinzugeben.

Besonders repräsentativ für das Konzept von Dercon und seinem Team war jedoch der Eröffnungsabend, an dem neben den erwähnten Performances von Tino Seghal auch Videoinstallationen von Pierre Huyghe und Philippe Pareno zu sehen waren, sowie Einakter und Filme von Samuel Beckett. Heraus kam ein äußerst spannender Abend, an dem man sich aus verschiedenen Perspektiven mit Entkörperlichung und theatralen Interaktionen beschäftigte. Zunächst Beckett: Erst ein pausenlos plappernder, in der Luft schwebender Mund, danach eine Stimme, die sich schon von ihrem Körper gelöst hat, und zum Abschluss ein Monolog, der sich überhaupt keiner konkreten Person mehr zuordnen lässt. Nachdem hier die vierte Wand noch gewahrt wurde, gab es in der Pause dann animierte Avatare auf Flatscreens zu sehen, die schließlich zu Menschen aus Fleisch und Blut wurden, die nur vorgeblich Kontakt mit dem Publikum suchten, weil sie es zwar ansprachen, aber nicht darauf reagierten. Und beim Bier im Foyer konnte man dann mit Seghals Performern Gespräche über Marktwirtschaft führen und dabei einen Teil des Eintrittspreises zurückverdienen.
Keine Zeit für ein neues Publikum

An gut besuchten Abenden wie diesem hat sich gezeigt, dass es an der Volksbühne durchaus das Potenzial gab, ein neugieriges Publikum für sich zu gewinnen. Mehr Zeit hätte es dafür schon deshalb gebraucht, weil es eben doch ein anderes Publikum als früher gewesen wäre. Aber mit der programmatischen Offenheit ist nun ohnehin bald Schluss. Ende April wird noch die belgische Choreographin Anna Teresa De Keersmaeker die Grauzone zwischen Bühne und Ausstellungsraum erforschen. Jan Bonny und Alex Wissel werden ihre Online-Serie Rheingold vorstellen. Schauspieler Jean-Pierre Léaud und Filmemacher Alain Guiraudie werden sich an verschiedenen Abenden den Fragen des Publikums stellen. Und im Juni gibt es dann noch neue Tanz-Produktionen von Boris Charmatz und Gisèle Vienne zu sehen. Danach wird man sich dann bemühen, eine Lösung für die aktuelle, vor allem auch finanzielle Misere zu finden, bei der vermutlich ein Kompromiss herauskommen wird, der viele ein bisschen, aber nur wenige völlig zufriedenstellen wird. Das Traurige an Dercons kurzem Gastspiel war nicht, dass die Stadt sein Angebot nicht annahm, sondern dass sie sich mit ihm nicht auseinandersetzte.
Bildnachweis (alle Volksbühne Berlin 2017/2018):
Projektion Waffenruhe (o.T. aus WAFFENRUHE, 1985-87. Credit: Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmid) - Foto: Gianmarco Bresadola
Fever Room, Foto: Kick the Machine Films
10000 Gesten, Foto: Gianmarco Bresadola
Liberté, Foto: Román Yñan
The Show must go on, Foto: David Baltzer
Women in Trouble, Foto: Julian Röder
to come (extended), Foto: Jens Sethzman
21 pornographies, Foto: Jens Sethzman
Nicht Ich, Foto: David Baltzer
Work/Travail/Arbeid, Foto: Anne Van Aerschot
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