Sonne und Sehnsucht – Locarno Film Festival 2025
Eine feindliche Sonne, apokalyptische Spielplätze und die Sackgassen der Sehnsucht: Über drei Filme aus Locarno, die über die Zukunft nachdenken und dafür mal mehr oder weniger in die Vergangenheit reisen.
Es ist heiß in Locarno, aber ganz so schlimm wie in Jacqueline Zünds Don’t Let the Sun ist es nicht: Noch nachts sind es dort 49 Grad in einer nicht näher genannten Großstadt (gedreht wurde unter anderem in Mailand und São Paulo), deren Bewohner*innen gezwungenermaßen die Nacht zu einem Tag machen, der diesen Namen kaum verdient. Man siecht so vor sich hin. Alte und Kinder werden per Lautsprecherdurchsage jeden Morgen vor dem Aufgehen der Sonne gewarnt. Und weil selbst das Sprechen und erst recht körperliche Betätigung oder Nähe wichtige Energie kostet, sind die Menschen einsam geworden, einander entfremdet.

Auftritt Protagonist Jonah (Levan Gelbakhiani): Der junge Mann arbeitet für eine Agentur, über die man sich jemanden gegen die Einsamkeit buchen kann. Im Rahmen dieses Jobs soll er der kleinen Nika (Maria Pia Pepe) eine Vaterfigur sein, auch wenn die davon zunächst nichts wissen will. Der erzählerische Fluchtpunkt der Schweizer Produktion, die in Locarnos Zweitwettbewerb „Cineasti del Presente“ läuft, ist die ziemlich vorhersehbare Annäherung der beiden, die zielsicher auf einen zärtlichen Hauch Menschlichkeit inmitten menschengemachter Unmenschlichkeit hinausläuft.
Es gibt eine sehr schöne Szene in diesem Film. Da spielt die kleine Nika in einem Schultheater die Sonne und strahlt in einem leuchtend gelben Kostüm von der Mitte der Bühne. Doch der große Auftritt ist am Ende Quelle kindlicher Melancholie und die Sonne längst nicht mehr der Freund der Menschen. Dieser Prämisse im Kleinen, wie in dieser Szene, nachzugehen, daran ist Zünd letztlich wenig interessiert. Und so läuft der Rest dieses Debütfilms in allzu bekannten Bahnen des Festivalkinos ab, inklusive eines penetranten Scores, der wohl die Anonymität der Stadt und ihrer Betonbauten in einen anonymen Sound gießen soll und inklusive eines recht beliebig daherkommenden Beau-Travail-Zitats und einer kleinen Body-Horror-Einlage, die die Erderwärmung und verzweifelte Entfremdung nochmal auf einen Punkt bringt, der längst gemacht ist.
Die langsam verschwindende Welt. Unheimlicher Spielplatz für Kinder

Ben Rivers geht mit Mare’s Nest noch einen Schritt weiter in Richtung Zukunft. Oder sehr viele hinterher, denn zunächst ist es gar nicht klar, wo oder wann wir sind. Auch hier ist das Setting eine anonyme Landschaft, auch hier spielt ein Kind die Hauptrolle: die kleine Moon (Moon Guo Barker), die zu Beginn einen bizarren Autounfall überlebt und einer am Wegesrand aufgesammelten Schildkröte die Entstehung des Lebens auf Erden erklärt. In mehreren Kapiteln mit naiven Überschriften wird sich Moon durch eine leere Welt bewegen, auf ein paar andere Kinder treffen (Erwachsene gibt es keine), durch eine Höhle mit zu Stein erstarrten Menschen streifen und schließlich mit einem Auto in die Zukunft brausen.
Herzstück des Films ist ein Kapitel, das auf Don DeLillos Klimawandel-Theaterstück „The Word for Snow“ von 2007 basiert. Moon trifft darin “a scholar and a translator”. Rivers löst das in einem Schuss-Gegenschuss-Dreieck mit wiederum nur Kinder-Darstellerinnen auf: Moon stellt Fragen an die Gelehrte, die selbst zunächst schweigt, aber scheinbar telepathisch mit der Übersetzerin kommuniziert, die Moons Fragen wiederum eher kryptisch beantwortet. Die Motivik ist dennoch klar: Es geht um eine langsam verschwindende Welt, in der Naturkatastrophen die großen philosophischen Fragen der Menschheit obsolet werden lassen.
Rivers hat unter anderem auf Menorca gedreht, wo er ein Kind mit Stierhörnern als Minotaurus durch ein beeindruckendes Labyrinth aus Stein schickt. Überhaupt ziehen sich Anspielungen auf antike Mythologien durch den ganzen Film, aber nicht in einem nostalgischen Modus, eher als Requiem. Die Welt mit all der Last ihrer Geschichte ist nicht mehr als ein unheimlicher Spielplatz für die Letzten ihrer Art: ein paar Kinder, die Moon auf ihrer Reise trifft und die dann doch irgendwie rührenden Trost spenden.
Romantische Sehnsucht in politischer Sackgasse

Die Last der Geschichte ist auch bei Julian Radlmaier wichtiger Bezugspunkt, vor allem die Last der deutschen Geschichte und ihrer verfehlten Routen. Denn Sehnsucht in Sangerhausen reist zwar direkt in die nationale Vergangenheit, aber beginnt gewissermaßen mit dem, was hierzulande nicht passiert ist: der Revolution. Die Magd Lotte (Paula Schindler) lebt im ausgehenden 18. Jahrhundert auf dem Hof von Novalis, dessen Nachttopf sie leert, und sinniert auf ihre Weise über die Romantik, als ein Steineschlucker und love interest ihr von der Revolution in Frankreich erzählt. Gemeinsam wollen die beiden nach Paris reiten, kommen aber nicht weit, und das ist überhaupt die ganze Tragik in diesem Film: Sehnsüchte enden hier überall in Sackgassen, weil die Sehnsüchtigen gegen den stummen Zwang der Verhältnisse nichts ausrichten können – außer vielleicht sich zusammenzuschließen.
Radlmaiers Film dient diese historische Episode als Prolog, bevor es in die Gegenwart geht, wo Ursula (Clara Schwinning) als eine Art moderne Magd in einem Sangerhausener Gasthof kellnert und sich mit übergriffigen Typen rumschlagen muss. Eine Band aus Berlin, die im Ort ein Konzert spielen soll, wird zu ihrer blauen Blume, die einen Ausbruch verspricht, doch der muss ebenso verpuffen wie die Träume der Iranerin Neda (Maral Keshavarz), die sich mit Aufenthaltstiteln rumschlägt und sich derweil als Travel-Influencerin versucht.
Das alles ist in dem für Radlmaier typischen filmischen Duktus gehalten und ruft die aus Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes und Blutsauger bekannten Motive auf: Die Darsteller*innen sprechen oft theaterhaft, der Gestus ist augenzwinkernd und voller Referenzen, die Bilder von Faraz Fesharakis Kamera aber so schön und klar wie die Politik des Films. Es geht um Klassenverhältnisse, aber auch um die Romantik der unverhofften Begegnung und die Suche nach kleinen Utopien against all odds. Das Setting in Sachsen-Anhalt bietet Radlmaier eine geeignete Vorlage, um sich dem Trend zum Durch-die-Zeiten im deutschen Film anzunähern und ihn zugleich zu kommentieren. Deutsche Romantik, der DDR-Bergbau, die Nähe zum Kyffhäuser und zur Barbarossahöhle, die für die Neue Rechte einen nationalistischen Bezugspunkt bildet: All das wird weniger bedeutungsschwer als spielerisch miteinander verknüpft, und dabei doch sehr ernst genommen. Auch eine radikale Gegengeschichte versteckt sich in Sachsen-Anhalt, aber um die freizuschaufeln braucht es schon ein paar Geister in einer Höhle, die sich mit einer p/ostmigrantischen Patchwork-Community verbinden.
Das Schöne an Sehnsucht in Sangerhausen ist, dass er eine politische Dringlichkeit spürbar werden lässt, ohne den politischen Diskurs vor sich zu tragen. Auch wenn Radlmaier anders als Ben Rivers sehr viele Bezüge explizit aufruft – so spricht etwa Neda einmal über die Arbeit im Iran mit Kiarostami, und im örtlichen Kino läuft Radlmaiers Blutsauger vor leerem Haus – bleibt er offen genug, damit man sich eigene Wege durch Sachsen-Anhalt und die Geschichte schlagen kann. Und doch liegt der Kern der Sache so klar da wie die Kirschkerne in der Hand verschiedener Figuren: Die romantische Sehnsucht wird so ernst genommen wie die politische Sackgasse, in der sie landet, und die für viele Menschen immer bedrohlicher wird.
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