Sinnbilder für einen überwundenen Staat – Kurzkritiken vom DOK Leipzig

Eduard Schreiber drehte den einzigen Essayfilm der DDR und suchte nach der Wende die Überbleibsel des Staates auf einer Müllhalde. Diese und noch mehr Festivaleindrücke von Studierenden der Uni Hildesheim, vierte Folge.


Östliche Landschaft
(Deutschland 1991; Regie: Eduard Schreiber)

Was ist, wenn die Dinge, die du besitzt, mit einem Schlag keinen Wert mehr haben? – Der Kurzfilm Östliche Landschaft des DDR-Dokumentarfilmers Eduard Schreiber beginnt mit einem Schwenk über eine Müllhalde. Der Wind bläst darüber, Plastemüll fleddert umher, alles scheint kalt und leer. Der Film ist unmittelbar nach der Wende gedreht worden. Diese Müllkippe nahe Berlin ist, wie der Titel andeutet, Sinnbild für einen überwundenen, gescheiterten Staat. Dessen Überbleibsel in Form von Flaggen, Paketen von NVA-Uniformen oder einem Bündel von Einreiseformularen finden sich zusammen mit Alltagskleidung, kaputten Puppen und Musikinstrumenten, Büchern und Briefen durcheinandergeworfen. Die Montage der teils in Nahaufnahme gezeigten Objekte evoziert mitunter tragisch-komische Eindrücke. So zum Beispiel der abgefilmte Buchdeckel, auf dem zu lesen ist: „Der Anfang unseres Staates“, während zuvor eine Person zu sehen war, die DDR-Flaggen aufsammelt. Die artifizielle Geräuschkulisse, zum Teil aus den auf der Halde gefundenen Objekten entstanden, verstärkt die Endzeitstimmung. Zurück bleibt das Bild eines alleine umherstromernden Mannes, der sich all seiner Kleidung entledigt und nackt von dannen zieht.

Vinzenz Damm

The Time is Now – Jetzt ist die Zeit (DDR 1987; Regie: Eduard Schreiber)

Der einzige Essayfilm der DDR, The Time is Now, nimmt sich nichts Geringeres vor, als die Phase der letzten Konfrontation der Großmächte bis zur Abrüstung von Mittelstreckenraketen in Europa zu begleiten und Menschen zu befragen, deren Erzählungen Anhaltspunkte für ein umfassenderes Bild dieser Phase in der DDR-Geschichte liefern könnten.

Eduard Schreiber, der Regisseur, sagt in einer Szene, dass sein Film aus dem Zwang, etwas zu tun, entstanden sei: um die Zeit zu verstehen, und weil keine Zeit mehr bleibe. Ziel ist es also, eine Verortung zu unternehmen, und, ähnlich wie andere Filme Schreibers (Spuren von 1989 oder Östliche Landschaften von 1991), Menschen, Geschichten, Bilder, Dinge zu zeigen, bevor sie vergessen sind. Schreiber weiß, dass die Bilder Wichtigkeit erlangen, indem sie gezeigt werden. Bei einer Sichtung 30 Jahre später stellen sich zudem neue Bezüge her. Etwa wenn ein General im Hinblick auf den Protest gegen Atomwaffen warnt, die Entwicklung der konventionellen Waffenindustrie nicht zu vernachlässigen. Als Dokument und als Aufforderung dazu, Widerstand zu leisten – „the time is now“ –, ist dieser Film nach wie vor sehenswert.

Vinzenz Damm

A New Era (Frankreich 2019; Regie: Boris Svartzman)

Guangzhou soll zu einer internationalen ökologischen Insel werden. So hat es die chinesische Regierung beschlossen. Doch was das genau bedeutet, ist nicht recht klar. Für die Regierung beinhaltet der Plan den Neubau eines Fünfsternehotels und einer Reihe von Apartmenttürmen. Für die Bauernfamilien, die seit vielen Generationen auf der Perlflussinsel leben, heißt es, dass sie nun zusammen mit Eidechsen und Vögeln in den Ruinen ihrer einstigen Häuser leben, während durch die Wände und leeren Fensterrahmen Farne und Äste hereinwachsen.

Boris Svartzman hat die Familien zu Hause besucht. Mit anrührender Herzlichkeit heißen sie den Dokumentarfilmer willkommen und erzählen ihre Geschichten. Schon seit Jahren leben die Familien in den Ruinen, bauen zwischen dem Schutt gerade genug Obst und Gemüse an, um zu überleben. Ihre wackeligen Handyaufnahmen zeigen, was damals passierte, als die Bulldozer kamen. Bagger und Abrissbirnen; die Polizei hielt die Anwohner zurück, falls nötig auch mit Gewalt. Als Ersatz wurden Apartments in den neuen Hochhäusern angeboten. Für die meisten ist das keine Option. Eine kleine Wohnung reicht eben nicht aus für eine achtköpfige Familie.

Bei der Rückkehr in die Überreste ihres Zuhauses fand eine junge Frau ein Schwalbennest in ihrer Küche. Ob sie die Vögel nicht stören? Nein, gar nicht, sagt sie. Ihr gefallen die Schwalben, weil sie sich nicht die schicken neuen Gebäude in der Nähe, sondern ihr Haus zum Nisten ausgesucht haben.

Lisa Schlegel

Where Did Ramses Go? (Ägypten 2019; Regie: Amr Bayoumi)

Eine Statue begleitet ein Land, seine Geschichte, den Filmemacher. Amr Bayoumis Porträt der Ramses-Statue in Kairo ist das Ergebnis einer gründlichen Recherchearbeit und eine facettenreiche Narration, die ihre Bilder aus verschiedensten Quellen bezieht: Found Footage, Zeitungsartikel, Fotografien. Der Filmemacher wird dabei Protagonist seiner eigenen Geschichte. Er beginnt die Erzählung mit seinem Viertel, seiner Familiengeschichte, dem schwierigen Verhältnis zu seinem tyrannischen Vater. Diese autobiographischen Elemente werden immer wieder in die Chronologie verwoben.

Ramses steht in Bayoumis Erinnerung auf dem Bab-Al-Hadid-Platz. Dort wird er von Gamal Abdel Nasser 1955 platziert, er wird Namensgeber des Platzes, des nahen Kairoer Bahnhofes, Verbindung zwischen den östlichen und den westlichen Stadtteilen. Die Statue spielt seit ihrer Errichtung auf dem Platz eine nicht unbedeutende Rolle im Leben der Stadtbewohner, in der Populärkultur, auf Postkarten und in Comics. Sie überdauert Regimewechsel und Krisen: von Nasser zu As-Sadat, zu Mubarak.

Begleitend zu den Aufnahmen der Demonstrationen im Zuge des arabischen Frühlings spricht Bayoumi schließlich über das Verhältnis zu seinem Vater – und über dessen politisch-autoritären Opportunismus. Er verknüpft dabei seine eigene Biografie mit den Regimewechseln in der Geschichte eines Landes, das sich selbst nicht von väterlichen Autoritäten befreien kann. Die Revolution von 2011 erscheint in diesem Zusammenhang als ein erneuter Emanzipationswunsch, der sich zwischen innenpolitischen Spaltungen und außenpolitischen Verstrickungen äußert.

Als die Statue aufgrund der hohen Luftverschmutzung in Kairo 2006 ins Grand Egyptian Museum umgesiedelt wird, begleiten Tausende ihre Reise. Dabei bleibt ihre Bedeutung jedoch unklar. Where did Ramses go? Und was hat seine historische Präsenz geprägt?

Hannah Tatjes

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