Sexuelle Landschaft: Der schwule Sehnsuchtsort Fire Island

Jack Deveaus erotische Rashomon-Variation Fire Island Fever (1979) ist nur einer von vielen (Porno-)Klassikern, die auf der sagenumwobenen Barriereinsel in der Nähe New Yorks spielen. Zeit, diesen sinnlich aufgeladenen und filmisch hoch frequentierten Ort, zu porträtieren.

„It was just one of those things“, heißt es in einem Song von Cole Porter aus dem Broadway-Musical Jubilee. „Just one of those crazy flings, one of those bells that now and then rings. Just one of those things.“ Just, das meint Flüchtigkeit, Unbekümmertheit, Nonchalance, eine dieser Sachen, eine dieser Glocken, die hin und wieder klingeln. In Jack Deveaus Fire Island Fever von 1979 singt George Sardi, Moderator der Variety-Show „Gay Morning America“, diese Melodie mit einem abgewandelten Text: „I’m just one of those things, just one of those fabulous things. Just one of those girls, who get up and sing. I want more than just now and then. It’s such great fun, God knows you kids know it, to become one of those things.“

Sommer-Sex zu Weihnachten

Als Rahmenerzählung ist Fire Island Fever ein Weihnachtsfilm. Hinter den Opening Credits sind Vintage-Aufnahmen vom Rockefeller Center zu sehen, geschmückte und leuchtende Weihnachtsbäume, der Central Park in der schon früh am Nachmittag einsetzenden Dämmerung, eine etwas unheimlich anmutende Santa-Claus-Figur, die sich erhebt und in einfrierender Zeitlupe wieder senkt. Begleitet von einem orchestralen Score – leider nicht wie in den frühen Filmen Deveaus von David Earnest komponiert, vermutlich handelt es sich eher um Stock Music – finden sich die Gäste zur Fire Island Pines Christmas Party ein. Frank Schmitt und George Sardi, sie spielen als Special Guests im Film sich selbst, verleihen den Pines House of The Year Award – zur Prüfung und Bewertung stehen „last summer’s stories“: Wie war der Sex letzten Sommer auf Fire Island? So wird aus Fire Island Fever ein Ferien-, ein Strand-, ein Inselfilm.

Fire Island, das ist eine knapp 50 Kilometer lange Barriereinsel vor der Südküste von Long Island, etwa anderthalb Stunden Zugfahrt von New York City entfernt, die das Festland vom Atlantik abschirmt und die man allein schon aufgrund ihrer Lage als so etwas wie ein Zwischenreich bezeichnen könnte – zwischen dem, was fest und bodenbehaftet, und dem, was flüssig, fluide, feucht ist. Seit dem frühen 20. Jahrhundert entstehen hier Besiedlungen und Ferienwohnsitze: Das eher besser angeschlossene Ocean Beach entwickelt sich spätestens in der Nachkriegszeit zu einer beliebten Erholungsregion für die Mittelschicht. Weiter östlich davon, nicht mehr so gut erschlossen, liegt Cherry Grove: In den 1930er Jahren Freizeittreffpunkt für einen zunächst kleinen Kreis schwuler Künstler und Arbeiter aus der Theaterszene New Yorks, später durch word of mouth eine der ersten schwulen Communitys an der Ostküste, der in den 1950er-Jahren, noch weiter außerhalb, eine zweite, eher wohlhabendere namens Fire Island Pines folgt. Verbunden werden beide Viertel geografisch wie personell durch den sogenannten Meat Rack: eine recht große, recht abgeschiedene, recht hoch frequentierte Cruising-Area in von mehreren Wäldern umsäumten und durchwachsenen Dünen.

Architektur der Verführung

Eng verbunden ist die Insel dadurch mit der schwulen Film-, auch und insbesondere Pornografie-Geschichte der USA. Mitte der 1960er Jahre drehen hier Andy Warhol und Paul Morrissey My Hustler, eine semidokumentarische Improvisation bestehend aus zwei Reels über eine Wochenend-Gesellschaft, die am Labour Day Weekend um einen Strichjungen buhlt, gespielt vom Factory-Superstar Paul America. Es entstehen frühe Kurzfilme von Peter de Rome, direkter von der Stonewall-Ära geprägte Filme wie Sticks and Stones von Stan Lopresto, und Derek Jarman inszeniert Teile von In The Shadow of The Sun auf Fire Island.

Filmhistorisch am einflussreichsten ist sicherlich Boys in the Sand des Broadway-Choreografen Wakefield Poole, 1971 der erste schwule Pornofilm, der einen größeren US-Kinovertrieb erhält und in breitenwirksamen Branchenblättern wie Variety exponiertes Coverage bekommt, wohlgemerkt gut ein Jahr vor dem Release von Deep Throat, der allgemein als Beginn einer kommerziell sichtbareren Phase von Pornografie gilt. Später wird Fire Island auch der Schauplatz für eher an einem Mainstream-Arthouse-Publikum orientierte Independent-Dramen, die sich zeitgenössisch mit der AIDS-Pandemie in den 1980er Jahren auseinandersetzen, wie etwa Parting Glances von Bill Sherwood und Norman Renés Longtime Companion. Bis heute entsteht auf der Insel nennens- und sehenswerte Pornografie, so beispielsweise in den Nullerjahren die achtteilige Reihe Fire Island Cruising des von der Zeitschrift New Republic zum „Gay Porn’s Neocon Kingpin“ geadelten Filmemachers Michael Lucas.

Die Besiedlungen von Cherry Grove und Fire Island Pines sind aber auch in einem rein praktischen, nicht nur filmästhetischen Sinne eine sexuelle Landschaft, Ausdruck einer, wie es der Autor Christopher Rawlins bezeichnete, „architecture of seduction“. In den 1960er- und 70er Jahren konzipiert der Architekt Horace Gifford direkt am Ocean Walk beider Communitys zahlreiche Strandhäuser, oftmals an Baubehörden vorbei durch private Aufträge, da es Giffords Vorstellungen nur allzu offenkundig an „good moral character“ (zeitgenössisches Zitat) fehlt. Diese Häuser sind über hohe Glasfronten, Bauelemente, die wie in die Landschaft hinausgeschoben wirken, zum Strand, zu den Dünen, zum Meer hin geöffnet. Was fest an ihnen ist, wirkt zugleich leicht, die Wände sind in der Regel aus dünnem Zedern- oder Kirschholz gefertigt, Badezimmer sind manchmal open air. In Fire Island Fever lässt sich die Wirkung und Funktionalität dieser Architektur in einigen Einstellungen erahnen, wenn der Blick der Kamera aus dem Inneren der Räume aufs Außen fällt: Privat verschlossen ist da nicht mehr viel.

Kartografie einer Insel

Zurück zum Film: Es gibt bei Fire Island Fever drei Figuren, die Kandidaten für den Pines House of the Year Award sind: Ron, Rick und Jeff. Nach dem Erzählprinzip von Akira Kurosawas Rashomon erzählen sie die gleiche Geschichte, die gleichen Hook-ups, aus unterschiedlichen Blickwinkeln – in diesem Spiel mit Erzählformen und Tonfalltemperierungen ist der Film von Anfang an viel Drehbuch-orientierter als andere Produktionen der legendären Firma Hand in Hand der späten 1970er. Ron und Rick sind ein Paar, das während des Sommers auseinanderdriftet, neu und anders anknüpft und am Ende wieder zueinanderfindet. Das titelgebende Fire Island Fever, „a state of perpetual horniness and a total lack of scruples”, wirkt so, wie leichtes Fieber oftmals wirken kann: letztlich stabilisierend.

Die dritte Perspektive im Film gehört Jeff, gespielt von Gary Hunt. Ein erfolgloser Off-Broadway-Bühnenbildner, der, „overdosed on work“ (wie er über sich selbst sagt) zunächst im Schneidersitz auf der Terrasse sitzt und über Yin und Yang liest. Man kann nicht das eine ohne das andere haben, erkennt er, also etwas, was sich prosaischer ausgedrückt wohl als die neoliberal nutzorientierte Verschränkung von Work und Play bezeichnen ließe. In seinem Zimmer, wo er an Entwürfen für ein neues Musical, Footsteps on the Ceiling, arbeitet, hängt das Bild einer Fantasiegestalt, ein nackter Mann, der aufgerichtet wie eine Statue ins verlockend Ungewisse blickt. Dieser Fantasy Man wird gespielt von Gene Gordon aka Matt Harper aka Will Seagers, ein Barmann und Kellner im „Blue Whale“, einer Kneipe in Fire Island Pines, der sprichwörtlich in seinen Mittagspausen in Pornos mitspielte und ein bekanntes Softcore-Model für die Target Studios wurde. Als Vision verhilft er Jeff zu einem der schönsten, körperlichsten und lichtdurchfluteten Acid-Trips der Filmgeschichte, bei dem auch das besondere Schnitttalent von Jack Deveaus engstem Mitarbeiter Bob Alvarez sichtbar wird.

Jack Deveaus drei Fire-Island-Filme kartografieren so etwas wie eine soziale Geografie der Insel: Dune Buddies (1978) spielt überwiegend im Grove, Fire Island Fever überwiegend in den Pines und Just Blonds (1980) ausschließlich im verschlungenen Dünen- und Waldlabyrinth des Meat Rack. Das ist der Art eingeschrieben, wie diese Filme unterschiedlich erzählt werden, wie Figuren sich an Communitys an- und von ihnen wieder entbinden. Insbesondere formt das Wo aber vor allem auch das Wie der Sexszenen. In Dune Buddies, Deveaus vielleicht schönstem Film, entwickeln sich aus Wahlbekanntschaften und chance encounters erzählerische Vignetten und Variationen, nicht umgekehrt: Jede Berührung ermöglicht eine neue Geschichte. Just Blonds wiederum ist ein kristalliner Fantasy-Film in der Tradition von Boys In The Sand, in dem das Aufwachen aus traumhaften sexuellen Räuschen ein Erwachen noch traumhafterer sexueller Räusche nach sich zieht.

In Fire Island Fever hingegen gibt es weniger Sex als in den meisten anderen Filmen von Jack Deveau, die entsprechenden Szenen sind kürzer, sie sind auch auffällig weniger raunchy, fast schon, und das ist ungewöhnlich für Deveau, konventionell in dem, was an ihnen explizit ist. Jerry Douglas fasste es in seiner Rezension für Manshots so zusammen: „more an art film with all too brief explicit moments than hard-driving, wall-to-wall, get-your-rocks-off erotica.“ Das macht ihn vielleicht so besonders in der Hand-in-Hand-Filmografie: Er ist von einer sonnendurchfluteten Selbstgenügsamkeit und Lässigkeit, bei der die sich selbst erprobenden Siebziger zuletzt glückselig angekommen waren – ein Zustand, von dem wir Zuschauer von heute wissen, dass er nicht weit in die nächste Dekade hineinreichen sollte. Wie war der Sex letzten Sommer auf Fire Island? It was just one of those things.

Fire Island Fever läuft am kommenden Sonntag (15.9.) um 18:00 Uhr in einer raren Erstaufführungskopie im Berliner Filmrauschpalast Moabit. Um 20:30 Uhr ist dort außerdem noch Jack Deveaus, ebenfalls sehr sehenswerter Left Handed zu sehen.  Hier gibts Tickets: linktr.ee/zelluloid42

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