Semaine de la Critique - Cannes 2009
Aus der Welt gefallen, in Cannes. Die diesjährige „Semaine de la Critique” zeigt Debütfilme mit einem Blick auf verlorene Seelen in verlorenen Landschaften. Eindrücke aus dem Off vertrauter Kinoräume.

„Wo sind wir?“, fragt der Soldat Dzoni seinen Kollegen Ivan in Ordinary People, an einem Busfenster sitzend. Unerkennbare Landschaftsspuren ziehen vorüber. „Ich weiß es nicht“, antwortet Ivan.
Der ländliche Süden von Chile, die peruanische Hochebene Altiplano, ein Niemandsland zwischen Hochspannungsmasten in Flandern, ein Gebirge im irakischen Kurdistan oder eine verlassene Farm im serbischen Nirgendwo. Im Programm der diesjährigen „Semaine de la Critique“ fällt die Vielfalt von abgelegenen, verwaisten Landstrichen und „Nichtorten“ auf, in die sich das Kino und die Weltöffentlichkeit bisher kaum vorgewagt haben. Wenn die Leinwand nach dem französischen Kritiker André Bazin ein „Fenster zur Welt“ darstellt, dann ist der Kinosaal an der Côte d’Azur in diesen Tagen ein Zimmer mit Aussicht auf Landschaften, Räume und Figuren, die aus der Welt gefallen sind.
Die „Semaine de la Critique“, die seit 1962 parallel zu den Filmfestspielen von Cannes stattfindet, bringt nur erste und zweite Filme von jungen Regisseuren auf die Leinwand. Wong Kar Wai, Bernardo Bertolucci, Ken Loach, François Ozon, oder auch der Deutsche Matthias Luthardt zeigten ihre Debütfilme in diesem Wettbewerb. Die Auswahl ist eng begrenzt: Aus rund neunhundert Bewerbern wurden für den Wettbewerb jeweils nur sieben Lang- und Kurzfilme ausgewählt. Bei den Langspielfilmen handelt es sich bis auf einen ausschließlich um Erstlingswerke. Beschreitet die „Semaine“ auch kinematografisches Neuland?

Grobes Filmkorn, flutende Sonne, die sich in den Hüten, den Haarfasern und Hautfalten verfängt. Huacho von Alejandro Fernández Almendras ist das raue, vibrierende Porträt einer chilenischen Familie vom Land aus der Perspektive ihrer vier Mitglieder. Durch die dokumentarisch angehauchte Beobachtung eines Mikrokosmos beschreibt Almendras in zwingender Form die Ungleichzeitigkeiten und den Wertewandel einer Gesellschaft im Umbruch. Während die Großmutter mühevoll versucht, ihren selbstgemachten Käse an einer Schnellstraße zu verkaufen, hat der Sohn nur Playstation Portable im Kopf. Huacho bedeutet im chilenischen Spanisch „Sohn, dessen Vater abwesend ist“ – ein Ausdruck, der im Zusammenhang mit der chilenischen Sozialgeschichte zugleich für die Verarmung und Isolation von ländlichen Familien steht. Als der Sohn mit einem Kumpel aus der Stadt Playstation spielen will, heißt es nur: „Ciao, Bauer!“ In langen, unruhigen Verfolgungsfahrten sehen wir, wie die Mutter durch eine Shopping-Mall irrt und der Sohn durch eine Spielhalle, die Räume sind nur unscharf und en passant wahrnehmbar. Der „Scheuklappenblick“ der Kamera beschreibt ihre Verlorenheit in einer Welt, der sie langsam abhanden kommen.

Umso präsenter und bildgewaltiger sind die Räume in Altiplano, die Gebirgsformationen der peruanischen Anden, die weit mehr sein sollen, als nur Kulisse. Auch hier ist die Kamera in ständiger Bewegung, nur weniger erdverbunden als in Huacho. Hier schwebt sie, in spirituell beschwörenden, nicht enden wollenden Kreisbewegungen um die Protagonisten. Da trifft Jasmin Tabatabai als eine von einer Irakerfahrung traumatisierte Kriegsfotografin auf Malagy Solier (bekannt aus dem diesjährigen Berlinale-Gewinner La teta asustada) als peruanische Jungfrau. Der zweite Spielfilm des Belgiers Peter Brosens und der Amerikanerin Jessica Woodworth (Khadak, 2006) ist ein virtuos inszeniertes, mystisches Werk über Opfer und Erlösung, dessen philosophische Dimension allerdings, im Mantel einer monumentalen und kryptischen Form, nur selten wirklich zur Entfaltung kommt. Denn obwohl sich Altiplano auch filmisch auf einer Hochebene bewegt – die lyrischen Bildfindungen erinnern an Andrei Tarkovsky – wirkt dieser sperrige Film forciert und überladen von der Last seiner inszenatorischen Ideen.

Flämisches Niemandsland. Zwischen hochragenden Hochspannungsmasten steht eine einsame Bauhütte. Eine weitere Lost Persons Area wird im gleichnamigen Debütfilm der Belgierin Caroline Strubbe erforscht. Inmitten einer leblosen, industriellen Landschaft versucht eine Familie zu „funktionieren“. Der Vater ist für die Instandhaltung von Starkstromleitungen zuständig, die Mutter versucht vergeblich, ihre Rolle zu spielen, und die vernachlässigte Tochter schwänzt die Schule, um sich in autistischer Sammlung von Gegenständen zurückzuziehen. Eine hochsensible, körperlich greifbare Studie dessen, was man Familie nennt. Eines der eindringlichsten Werke der diesjährigen „Semaine“, ausschnitthaft beobachtet, brillant fotografiert und gespielt.

Auch im uruguayanischen Beitrag Bad Day to go Fishing (Mal día para pescar) von Álvaro Brechner geht es um Menschen, die verloren durchs Land und Leben irren, in einem Film, der selbst wie ein Fremdkörper im Festivalprogramm wirkt. Geschäftsmann Orsini, ein selbsternannter Prinz reist mit einem ehemaligen Wrestling-Champion aus der DDR, raubeinig und unkontrollierbar, der nur zur Ruhe kommt, wenn „Lili Marleen“ ertönt, durch Südamerika. Ein klassischer Plot mit schablonenhaften Charakteren, professionell, routiniert, aber völlig einfallslos gestaltet. Da mag die Lichtsetzung mit schillernder Spitze noch so ausgefeilt, die Kranfahrten noch so geschmeidig sein – Bad Day to go Fishing wirkt so aufgesetzt und flach wie sein vermeintlicher Prinz. Wenn das Motto der „Semaine“ „a breath of fresh air“ lautet, also einen Hauch Frischluft auf der Leinwand verspricht, so ist hier die Luft einfach nur abgestanden.

Mitten in den Weiten der kurdischen Gebirge steht ein morscher, vertrockneter Baum, an dem das Militär unzählige Radios aufgehängt hat. Ein surreales Bild, das von der Unterdrückung eines Volkes kündet. Der kurdische Regisseur Sharham Alidi erzählt im Roadmovie Whisper with the Wind (Sirta La Gal Ba) von einem Postboten, der Botschaften und Geräusche in den Gebirgsdörfern des irakischen Kurdistan auf Kassette aufnimmt und per Lautsprecher und Radio zustellt. Botschaften der Identität eines zerstreuten Volkes, das nach einer Zeit der jahrelangen Unterdrückung durch Saddam Hussein Hoffnung schöpft, versinnbildlicht durch den Schrei eines Neugeborenen, der über das Radio das ganze Land erreichen soll. Whisper with the Wind ist ein dissonantes kurdisches Klagelied, das unsere Rhythmusgewohnheiten unterläuft. Ein filmisch nicht ganz ausgereifter, aber wertvoller Beitrag zur kollektiven Gedächtnisarbeit.

Auch in Ordinary People geht es um das Gedächtnis des Krieges, allerdings in eine klare, konzentrierte und strenge Form gefasst. Sieben Soldaten werden auf eine unbekannte Mission auf eine verlassene Farm ins serbische Niemandsland geschickt und warten dort in flimmernder Hitze auf ihren Befehl. Es ist die Rede von „Terroristen“, von „Feinden“, die bald darauf in Lastwägen angekarrt werden. In präzisen Einstellungen und kühler, extrem gedehnter Beobachtung zeigt der Serbe Vladimir Perisic das ewige Warten, die militärische Routine sich wiederholender, mechanisch ausgeführter Gesten, Rituale blinden Gehorsams. Unter den Soldaten ist der frisch rekrutierte Dzoni, der Anpassungsschwierigkeiten hat und die Kommandos noch nicht mit der kalten Perfektion seiner Kollegen ausführt, in dessen Inneren sich ein leiser Widerstand regt, und der schließlich doch hinrichtet. Ordinary People erreicht über die konkrete Thematik des Jugoslawienkriegs hinaus eine abstrakte, universelle Dimension. Ein stiller, politischer Film, der lange nachhallen wird.
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