Schreiben über Film (3): Irritationen

Fünf Kurzkritiken über Filme aus den Sektionen Forum, Panorama, Generation und Perspektive Deutsches Kino, verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film – Berlinale 2022“ (Stiftung Universität Hildesheim).


Eine feministische Zugfahrt:
Ladies Only (Perspektive Deutsches Kino)

Der Bahnsteig mitten in Mumbai ist voll mit Hunderten von Menschen. Die angespannte Masse wartet auf das Eintreffen des nächsten Zuges. Als dieser endlich einfährt, geht das Gedränge erst richtig los. Die einen versuchen, aus dem völlig überfüllten Zugabteil auszusteigen, die anderen drängen mit aller Kraft in die entgegengesetzte Richtung und versuchen, ins Innere des Wagens zu kommen.

In dem Dokumentarfilm Ladies Only begibt sich Regisseurin Rebena Liz John mit einem kleinen Filmteam in den Kosmos überfüllter Nahverkehrszüge. John studierte Film am Srishti Institute of Art, Design and Technology in Bangalore und an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Für Ladies Only, ihren ersten Langfilm, führte sie über vier Monate hinweg Interviews mit bekannten sowie ihr fremden Frauen aus ihrer Heimatstadt Mumbai. Die intimen Gespräche finden allesamt in Zugabteilen statt, die ausschließlich für Frauen vorgesehen sind. Die Abwesenheit von Männern ist deutlich zu spüren.

„Was macht Sie wütend?“, ist eine von vielen Fragen, die John den Passagierinnen stellt. Dass sie dafür keine Übersetzerin braucht, schafft eine entspannte, offene Atmosphäre. Die Antworten, die sie bekommt, sind unterschiedlicher Natur: mal kämpferisch, mal resigniert, aber vor allem ehrlich. Komplexe Themen wie die Folgen der Kolonialzeit oder das Patriarchat werden anekdotisch und mit einer verblüffenden Leichtigkeit verhandelt. Sie eröffnen Strategien, mit der Welt umzugehen.

Die Gesichter der Frauen, mit einer beweglichen Handkamera festgehalten, zeigt Ladies Only in Nahaufnahmen, weshalb das Gesagte eindrücklich und unmittelbar wirkt. Neben rhythmischer, jazziger Musik umrahmen das laute Rattern des Zuges, durchdringendes Hupen und laute Nebengespräche die Interviews. So verweist die Soundebene des Films immer wieder darauf, dass sie nicht in einem Tonstudio produziert wurde, sondern sich an einem öffentlichen Ort ereignet. Ladies Only eröffnet mitten in der alltäglichen Hektik der Mega-Metropole einen Safe Space, der Einblicke in die ganz persönlichen Geschichten und Gedanken indischer Großstädterinnen gewährt.

Alice Hiepko

 

Zwischenzustände: La edad media (Forum)

Buenos Aires, Argentinien, 2020. Cleo, ihr Vater Alejo und ihre Mutter Luciana sind wegen des Lockdowns zu Hause. Die Eltern, beides Künstler*innen, versuchen sich, so gut es geht, der Lage anzupassen. Während Alejo als Regisseur arbeitet und Becketts Warten auf Godot via Zoom und mithilfe von Anweisungen am Telefon als Film umsetzen will, gibt Luciana zur selben Zeit Tanzkurse online. Selbst auf der Bühne stehen kann sie ja gerade nicht, es ist laut im Haus.

Die junge Cleo soll unterdessen für die Schule lernen und sich selbst beschäftigen, obwohl sie auf beides keine Lust hat. In schlaflosen Nächten steigt sie mit ihrem Hund Juana aufs Dach und beobachtet den Mond. Sie fasst den Entschluss, ein Teleskop zu kaufen, hat dafür aber kein Geld und beginnt deshalb, heimlich Geschäfte mit dem mysteriösen Moto zu machen. Hinter dem Rücken ihrer Eltern beginnt sie, alle Gegenstände aus dem Haus der Familie zu bewerten und zu verkaufen.

Was zunächst als Zeugnis eines realen Lockdowns gelesen werden kann, der nur zwei Wochen andauern sollte, wird zum herrlich absurden Spielfilm. Cleo und ihre Familie gehen sich auf die Nerven, schreien herum, rennen in der zweistöckigen, bunten Wohnung auf und ab, kommen sich ständig in die Quere. Zeit spielt dabei keine Rolle, denn der Lockdown scheint niemals zu enden. Cleo ist auch im wahren Leben die Tochter des argentinischen Filmregisseurs Alejo Moguillansky, spielt ihre Figur voller Energie und trägt maßgeblich zur Komik dieses Films bei.

Im Gespräch nach der Premiere erzählt Regisseur Alejo Moguillansky, dass er darüber nachgedacht habe, was Film und Kino nach der Pandemie sein könnten. So kann auch der Titel gesehen werden: La edad media, das Mittelalter, ein Film als Übergang zwischen etwas Altem und etwas Neuem.

Rafaela Range

 

Glorifizierter Absturz: Taurus (Panorama)

Während er über den roten Teppich läuft, zieht er an seiner Zigarette. Zum Nachgespräch bringt er ein Glas Whiskey mit auf die Bühne. Colson Baker alias Musiker Machine Gun Kelly, der zusammen mit seiner Verlobten Megan Fox im Zoo Palast zu Gast ist, stiehlt seinem eigenen Film die Show. Taurus feierte in der Sektion Panorama der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere.

Unter der Regie von Tim Sutton spielt Baker im Film den Rapper Cole, der sein Gesicht hinter den zotteligen Strähnen seiner Kurt-Cobain-Frisur versteckt und in dessen Darstellung zwischen exzessiven Partynächten, berauschten Studiosessions und gescheiterter Ehe kaum Klischees ausgelassen werden. Egozentrik und Rücksichtslosigkeit kennzeichnen den Künstler, gelegentlich scheinen auch verletzliche Züge und Depressionen durch, die ihn ganz vielschichtig und sympathisch wirken lassen sollen. „Meine Welt fühlt sich an, als stünde sie auf dem Kopf“, erklärt er, während sich das Bild auf der Leinwand um 180 Grad dreht.

Ebenso wenig subtil sind auch die Parallelen zwischen Baker und seiner Rolle. Der titelgebende „Taurus“, der Stier, ist das Sternzeichen von Baker. Die im Film verwendeten Konzertaufnahmen sind bei realen Auftritten von Machine Gun Kelly entstanden. Das ist durchaus faszinierend, weil diese Aufnahmen das Potential bieten, die reale Kunstfigur in einem fiktiven Werk zu reflektieren. Die Namen der Figuren Cole und seiner Ex-Frau Mae ähneln denen ihrer Darstellenden Colson Baker und Megan Fox so sehr, dass man sie als ironische Anspielung verstehen kann.

Ein Lichtblick in dem ansonsten sehr düsteren Drama ist die Figur der Assistentin Ilara (Maddie Hasson), die hinter Coles Fassade schaut und sich nicht alles von ihm gefallen lässt. Besonders eindrucksvoll ist das in einer Szene, in der die beiden sich lautstark vor der versammelten Presse anschreien, weil Cole mal wieder zu high ist, um ein Gespräch zu führen. Doch jedes augenzwinkernde Moment, das in der Inszenierung steckt, hebt der Film selbst wieder auf – schließlich geht es hier um den selbstzerstörerischen Schaffensprozess eines tragischen Genies, da wären Humor oder gar eine komplexe Frauenfigur eher im Weg.

Taurus glorifiziert den Absturz à la Club 27, feiert den bekannten Mythos, ohne etwas Neues hinzuzufügen oder ihn gar zu dekonstruieren. Eindrucksvoll ist immerhin der Soundtrack, den Baker / Machine Gun Kelly für den Film geschrieben hat. Als er im Nachgespräch darauf angesprochen wird, winkt er ab. Nicht ihm sei dafür zu danken, sondern den Drogen, die er vor der Aufnahme genommen habe. Was genau er einwarf, wisse er aber nicht mehr.

Karoline Rößler

 

Sonnenbaden: Shabu (Generation)

Eigentlich wollte sie einen Sommerfilm über den Rotterdamer Sozialbaukomplex De Peperklip drehen, erklärt die Regisseurin Shamira Raphaëla im Gespräch nach der Filmpremiere. Bei der Recherche nach interessanten Bewohner*innen sei sie immer wieder auf den charismatischen Shabu verwiesen worden. Doch der Vierzehnjährige muss den Sommer damit verbringen, Geld zu verdienen, da er das Auto seiner Oma zu Schrott gefahren hat. Hier setzt der Dokumentarfilm Shabu ein und macht den Teenager zum Protagonisten.

Die Sonne prallt auf die orange-blaue Fassade der Wohneinheit, während Shabu von Tür zu Tür geht und Wassereis verkauft. Seit dem Crash herrscht zwischen ihm und seiner geliebten Oma, dem Oberhaupt der karibisch-niederländischen Familie, Funkstille. Das möchte der Teenager wieder ändern. Doch so einfach ist das nicht, wenn man während eines langen Sommers mehrere Nebenjobs, sein Liebesleben, den besten Freund, familiäre Verpflichtungen und den Traum von einer Musikkarriere gleichzeitig managen muss.

Shabu ist schlagfertig. Shabu ist stylish. Shabu ist musikalisch. Das gilt für die Person ebenso wie für den Film. Mit pinker Cap auf dem Kopf oder im geblümtem Zweiteiler zieht der Protagonist durch die oft ebenso bunten Kulissen seines Viertels. Häufig trommelt der junge Musiker mit Drumsticks, die er immer dabei zu haben scheint, auf Zäunen und Klingelschildern herum. Die Musik greift den Takt auf, führt ihn weiter. Dabei kommt Shabu ohne Skript aus.

Das Tempo, die Farben und die musikalische Unterlegung verleihen dem Film den Charakter eines Musikvideos. Und doch ist das Porträt der Titelfigur mehr als das: Denn Regisseurin Raphaëla, die zusammen mit der dänischen Filmemacherin Tessa Boerman die Initiative „Framing of Us“ gründete, die sich mit der Dekolonialisierung der Dokumentarfilmindustrie beschäftigt, entwirft darin ein Gegenbild zu verbreiteten Darstellungen marginalisierter Personen. Derweil lässt die Kamera die Figuren im Licht baden, fängt die Sonnenstrahlen ein, während sich Shabu und seine Freunde über Beziehungen und Liebeskummer austauschen.

Alina Czymoch

 

Die Freiheit, sich durch die Bilder zu bewegen: Europe (Forum)

Europe ist der erste fiktionale Film von Philip Scheffner, der durch seine dokumentarischen Essayfilme wie beispielsweise Revision (2012) bekannt geworden ist. In seinem aktuellen Film erzählt er die Geschichte von Zohra (Rhim Ibrir), die in einer kleinen Stadt im Süden Frankreichs wohnt, wo die Sonne alles in warme, helle Farben taucht. Zohra leidet an einer extremen Skoliose und wird, nachdem sich ihr Zustand deutlich gebessert hat, dazu aufgefordert, in ihr Geburtsland Algerien auszureisen.

Besonders ist die Art und Weise, wie der Regisseur die Situation erzählt: Von dem Zeitpunkt an nämlich, als der Brief mit der Aufforderung, das Land zu verlassen, bei Zohra ankommt, verschwindet die Protagonistin aus dem Bild. Vorher haben die Zuschauer*innen sie in ihrer Umgebung durch lange Einstellungen und Standbilder kennengelernt, in denen Zohra immer wieder die Szene betritt und verlässt. Die Freiheit, mit der sie sich durch die Bilder bewegt, spiegelt die Freiheit wider, die sie durch ihre Aufenthaltsgenehmigung erlangt hat.

Mit ihrem plötzlichen Verschwinden kommt auch ihre Stimme abhanden, und zu sehen sind nun Szenen, in denen nur die Sprache und Gesten der jeweiligen Gegenüber etwas über Zohra erzählen. Die Machtlosigkeit, mit der die Protagonistin konfrontiert wird, ist in dieser Phase von Europe besonders spürbar, hält aber nicht an. Denn der Film wird eine weitere Ebene des Erzählens wagen, die in ihren malerischen Farben kaum von einem Traum zu unterscheiden ist und der Figur Zohra eine andere Stärke gibt.

Es ist die herausragende schauspielerische Leistung von Rhim Ibrir, die die Spannung in den 105 Minuten ohne Einbrüche trägt. Durch die präzise komponierten Szenenbilder wird der Blick nicht müde, auch wenn sich der Film an immer wiederkehrenden Orten abspielt, auf die wir als Zuschauende zweite, dritte Blicke werfen. So schon in der Eröffnungsszene: Zu sehen ist eine Halle mit Rolltreppen und Fahrstühlen in einem gläsernen Gebäude, das an einen Wartebereich im Flughafen erinnert. Es ist jedoch, wie sich wenig später herausstellt, ein Ärztehaus, in dem die kranke Zhora untersucht wird.

Die Stimmen von Scheffner und Merle Kröger, die als Co-Autorin am Drehbuch beteiligt war, werden hörbar. Beide erzählen, wie „sie“ in diesem Film eine Wirklichkeit spielt, die sich nicht von ihrer eigenen unterscheide. Geht es noch um Zhora? Oder schon um Schauspielerin Rhim Ibrir? Wie trennbar sind die Schauspielerin und die Figur, die sie spielt, in einem Europa, das zum Theater zwingt?

Johanna Scheler

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