Schreiben über Film (3): Eighty Plus und Tiger's Pond

Jeweils drei Texte über Želimir Žilniks Eighty Plus und Natesh Hedges Tiger's Pond aus der Sektion Forum. Verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film: Berlinale 2025“ (Stiftung Universität Hildesheim).


Eighty Plus
(Želimir Žilnik)

„Ich war hier seit 80 Jahren nicht mehr.“ Mit einem Strahlen in den Augen betritt Stevan Arsin, ein betagter Jazzmusiker, die staubigen Zimmer jenes Hauses, in dem er aufgewachsen ist. Er schaut neugierig in die Schränke, erinnert sich an den großen Kamin in der Küche und fragt sich schließlich: Ist es den Aufwand wert, das alles wieder zu sanieren? Restitucija, ili, San i java stare garde, englischer Titel Eighty Plus, ist der Titel der Dokufiktion des serbischen Regisseurs Želimir Žilnik, die 2025 auf der Berlinale im Forum ihre Weltpremiere feierte.

Der Film erzählt die Geschichte eines äußerst liebenswürdigen Ur-Ur-Großvaters mit Wünschen und Sehnsüchten. Nach sechzig Jahren in Deutschland erreicht ihn plötzlich die Nachricht, dass im Zuge einer Restitution die nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlichte Familienvilla seines Vaters an ihn als den direkten Erben zurückgegeben wird. Also begibt er sich auf die Reise nach Serbien und an den Ort seiner Kindheit. Zusammen mit einem alten Freund erkundet er, was vom einstigen Glanz der Villa auf dem Land noch übrig ist, und schmiedet große Pläne.

Mit einer Portion Kitsch (noch im verträglichen Rahmen) kommt der Film mit seinen weiten Landschaftsaufnahmen trotz der schwierigen Themen, die er behandelt, mit einer gewissen Leichtigkeit daher. Dass die Figuren von Laiendarsteller*innen gespielt werden, merkt man zwar an einigen Stellen, stört sich aber nicht daran. Es überwiegt die Kraft des unaufgeregten Erzählens. Der Film nimmt sich viel Zeit, jede Szene in Ruhe aus zu erzählen. Und nach dem Prinzip, dass im Alter alles nicht mehr so schnell geht, nimmt er sein Publikum für 118 Minuten mit auf eine Reise irgendwo zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart.

Der Reisebericht einer Kaffeefahrt ist Žilniks Film aber nicht. Immer wieder stößt Stevan Arsin (Milan Kovačević) auf dem Weg zu seinem Traum, einen Musikcampus für Senioren zu schaffen, auf Widerstände. Der Film ist eine Empfehlung für alle, die die Generation ihrer Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern im Kino endlich einmal in anderen Rollen als der der dementen, zerbrechlichen Belastung oder der Enkelbetreuer:innen sehen wollen.

Felix Bartsch

 

Ohne Eile, aber auch ohne Stillstand: Die leise Kraft steckt in Eighty Plus. Das Kino gehört oft den Jungen. Geschichten über Liebe, Abenteuer und Selbstfindung drehen sich meist um Menschen um die 20 oder 30, während ältere Figuren in Nebenrollen oder als bloße Platzhalter für Weisheit, Nostalgie oder Verlust auftauchen. Filme, die sich ernsthaft mit älteren Protagonisten*innen und deren Perspektive auseinandersetzen, sind selten. Eighty Plus stellt eine Ausnahme dar. 

Der Film des serbischen Regisseurs Želimir Žilnik erzählt die Geschichte von Stevan Arsin, einem ehemaligen Jazzmusiker, der den Großteil seines Lebens in Deutschland verbracht hat. Nach sechs Jahrzehnten kehrt er in seine serbische Heimat zurück, um den bürokratisch mühsamen Prozess der Restitution seines Familienbesitzes voranzutreiben. Stevans Reise ist nicht nur eine rechtliche Auseinandersetzung mit dem Staat, sondern auch eine Konfrontation mit sich selbst, seiner Identität und seinen Erinnerungen. Die Auseinandersetzung wird vor allem in Begegnungen mit anderen Figuren spürbar. Während Stevan mit Verwandten und alten Bekannten spricht, zeigt sich, dass sich ihre Erinnerungen oft von seinen unterscheiden. Was für ihn einst ein prägender Moment war, ist für andere bloß eine Randnotiz der eigenen Lebensgeschichte. 

Das gibt dem Film eine Schwere, die aber immer wieder durch leichte Momente unterbrochen wird. Denn Stevan entspricht nicht der üblichen Darstellung eines alten Menschen, der in einem stillstehenden Leben nur noch mit der Vergangenheit befasst ist. Stattdessen lässt er sich in einem unbeschwerten Rhythmus durch die Handlung treiben. Er nimmt Begegnungen, Überraschungen und Veränderungen mit einer Offenheit an, die ihn zu einer lebendigen Figur macht. So verliebt er sich auch neu, nicht mit der verbissenen Sehnsucht nach einer verlorenen Jugend, sondern mit der ruhigen Gelassenheit eines Menschen, der weiß, dass das Leben auch im hohen Alter noch Überraschungen bereithält.

Der Film lässt sich voll und ganz auf Stevans Tempo ein. Wir erleben die Geschichte mit ihm. Žilnik passt die Erzählweise dem Rhythmus eines Menschen an, der nicht mehr eilt, sondern sich die Zeit nimmt, die Dinge zu betrachten, nachzudenken und zu verweilen.

Béla Conteh

 

Eine noch lange nicht vollendete Lebensgeschichte. Želimir Žilnik eröffnet mit seinem Film Eighty Plus die Sektion Forum der 75. Berlinale und bringt ein Werk auf die Leinwand, das eine Geschichte über Heimkehr, Erinnerungen und Bürokratie erzählt. Gesellschaftskritisch und mit feinsinnigem Humor reicht die Geschichte zurück bis ins ehemalige Jugoslawien.

Stevan Arsin (Milan Kovačević) bekommt einen Anruf: Er soll das Haus zurückerhalten, das seiner Familie im Zweiten Weltkrieg genommen wurde. Der Musiker beschließt, nach sechs Jahrzehnten nach Serbien und an den Ort, in dem er aufgewachsen ist, zurückzukehren. Dort jedoch wird er mit den Komplikationen der Bürokratie, unerwarteten Begegnungen und seiner Familie konfrontiert. Dass die Hauptfigur Stevan bereits über achtzig Jahre zählt, ist nicht nur außergewöhnlich, sondern hat auch Auswirkungen auf die zeitliche Wahrnehmung des Films. Dieser passt sich dem Tempo der Akteur.innen an, gibt ihnen die Zeit, die sie brauchen, und nimmt die Zuschauer mit auf eine abwechslungsreiche Reise.

Die Thematik der Rückkehr und der Identität spiegelt sich besonders deutlich in den Beziehungen Stevans zu seinen Verwandten wider. Sowohl in den Gesprächen mit seiner Ex-Frau als auch mit seiner Tochter lässt sich herauslesen, dass die Ehe an seiner Abwesenheit gescheitert ist, die auch dazu führte, dass die Familie zerbrach. In ausführlichen Dialogen wird das Bild einer angeschlagenen, aber solidarischen Familie gezeichnet. Dabei entstehen immer wieder Bezüge zum Krieg; der Film verwebt die Bruchstücke der Vergangenheit zu der komplexen Geschichte des Lebens.

Die nahen Einstellungen sowie die dokumentarisch anmutenden Szenen mit der Handkamera schaffen eine intime Beziehung zu den Figuren. Stevans sanftes Gemüt und seine resiliente, engagierte Art, Erinnerungen zu verfolgen, stehen keineswegs im Kontrast dazu, dass er immer wieder auch mit der eigenen Vergangenheit hadert. Gleichzeitig geht er Konfrontationen aus dem Weg und beharrt auf seiner Sicht, wie beispielsweise in den Gesprächen über seinen Vater. Diese Vielschichtigkeit lässt ihn das facettenreich und nahbar wirken und vermittelt zwischendurch das Gefühl, man säße selbst mit ihm im Raum.

Eighty Plus ist ein Werk, das sich auf feine, humorvolle Weise mit  großen Fragen nach Heimat, der Identität und Erinnerungen auseinandersetzt. Ein Film über einen Mann, der trotz seines Alters seine Jugendlichkeit nicht verloren hat und Neuanfänge beginnt, die Lust aufs Leben machen.

Irene Rumpf

 

Tiger's Pond (Natesh Hegde)

Das Brüllen eines Tigers hallt durch den Wald. Die Kinder, die kurz vorher ausgelassen gespielt haben, rennen um ihr Leben. Nur Pathi bleibt sitzen. Manchmal versteht sie nicht, was um sie herum passiert. 

Ähnlich wie in seinem international ausgezeichneten Film Pedro, erzählt Natesh Hegde in seinem zweiten Werk Tiger’s Pond von Vorkommnissen in einem abgelegenen indischen Dorf, das diesmal Vaghachipani heißt. Ausgangspunkt ist die anstehende Kommunalwahl, die der rücksichtslose Geschäftsmann Prabhu gewinnen möchte.  In 87 Minuten zeigt Hegde, wie Gier, Gewalt und Angst in Verbindung mit einer patriarchalen Ordnung und den Regeln des Kastenwesens Liebe und Leben zerstören. 

Interessant ist die Erzählstruktur. Die Kamera des Films folgt immer wieder anderen Personen aus dem Dorf und zeigt so, dass es um mehr geht als um die Geschichten einzelner Akteur:innen. Auf Nachfrage erklärt Hegde, dass es im wahren Leben auch keine Protagonisten gebe. Zudem führt er im Q&A der Berlinale-Premiere aus, dass die einzelnen Stränge der Geschichten auf eigenen Beobachtungen und Erlebnissen beruhen. 

Neben dem außergewöhnlichen Aufbau der Erzählung sind besonders die Kameraaufnahmen in dieser Koproduktion aus Indien und Singapur hervorzuheben. Um die Geschehnisse in Vaghachipani ins richtige Licht zu setzen, entschied sich Hegde für teure 16mm-Aufnahmen. Diese Investition hat sich gelohnt. Das körnig knisternde Material gibt dem Film einen ganz besonderen Look. Die satten analogen Aufnahmen entwerfen ein Bild indischer Landschaften, in das man am liebsten eintauchen möchte. 

Für einen Europäer ohne Bezug zu südasiatischen Traditionen kann ab und zu das Gefühl entstehen, den Überblick zu verlieren. Das schnell gesprochene Hindi mit den genauso schnell verschwindenden Untertiteln macht den Zugang nicht leichter. Und so entsteht an manchen Stellen die Frage, ob die kulturellen Differenzen vielleicht zu groß sind, um als Deutscher das Drama in seinem ganzen Ausmaß zu begreifen.

Lukas Wollny

 

Wunderschöne Landschaften flimmern in körnigem 16mm über die Leinwand. Doch die Idylle trügt. In dem kleinen Ort Vaghachipani in Südindien geht es düster zu. Tiger’s Pond, hatte vor wenigen Tagen seine Premiere in der Sektion Forum auf der Berlinale. Der zweite Film von Regisseur Natesh Hegde hat große inhaltliche und ästhetische Ambitionen. Aber diesen wird er letztlich nicht gerecht.

Der Geschäftsmann Prabhu möchte die Kommunalwahlen in Vaghachipani um jeden Preis gewinnen. Gemeinsam mit seinem Handlanger Malabari versucht er, die Dorfbewohner*innen auf seine Seite zu ziehen. Neben eindringlichen Vorträgen, die er anderen hält, gehören auch Intrigen und Gewalt zu seinen Methoden. Als seine Hausangestellte Pathi durch eine Vergewaltigung schwanger wird, sieht er darin eine Bedrohung für seinen Sieg und zieht alle Register.

Mit Blick auf diese Handlung wäre ein schnelles Tempo und eine spannungsgeladene Atmosphäre zu erwarten. Aber Regisseur Hedge geht einen anderen Weg. Die ruhige Kameraführung schafft in Verbindung mit dem analogen Material Einstellungen, die erkennen lassen, dass sie mit Bedacht gestaltet worden sind. Dabei traut der Regisseur seinem Publikum viel zu, denn oft muss es Zusammenhänge selber herstellen. Was nach einem spannenden Ansatz klingt, sorgt jedoch immer mehr dafür, dass der Fokus des Films verschwimmt.

Das größte Problem von Tiger’s Pond aber ist ein anderes. Laut Hedge war der Ausgangspunkt für seinen Film ein Zeitungsartikel über eine junge Frau, der ein ähnliches Schicksal widerfahren ist wie der Hausangestellten Pathi. Doch erst viel zu spät im Film wird klar, dass ihre Erfahrung der zentrale Handlungsstrang des Filmes sein soll. Tatsächlich sind es die Männer des Dorfes, die den meisten Raum im Film einnehmen und darüber diskutieren, welche Folgen die Vergewaltigung für die Wahl haben könnte. Zur Verteidigung könnte man anbringen, dass der Film eine brutale und misogyne Realität abbilden möchte, aber es wirkt nicht so, als würde er sich dabei für die weiblichen Figuren interessieren. Dass Pathi als stumme Figur angelegt ist, spricht Bände.

Isabella Stechel-Marceddu

 

„In the end, the bad guy always gets away with it“. In den ersten Einstellungen von Tiger's Pond entführt Regisseur Natesh Hegde die Zuschauenden in die idyllische Landschaft rund um ein abgeschiedenes indisches Dorf. Doch schon bald wird klar: Etwas ist faul in dieser Gemeinschaft mit ihren seltsam anmutenden Figuren. Es entspinnt sich ein sonderbarer Kriminalfilm, in dessen Zentrum die Machenschaften eines ebenso verbissenen wie gewissenlosen Kommunalpolitikers stehen, der um jeden Preis die anstehende Wahl im Dorf gewinnen will. Dabei ist ihm jedes Mittel recht: Einschüchterung, Erpressung, Gewalt und sogar Mord.

Die Einzelschicksale der Menschen im Dorf sind abhängig von der Willkür eines Mannes, der sein Machtsystem auf Korruption und Verachtung stützt. Das Dorf wiederum ist dabei nur symbolischer Schauplatz für Machtdynamiken, die weltweit ihr Äquivalent haben. Durch die Verortung abseits von Parlamenten und Sitzungssälen werden Missstände deutlich sichtbar; durch die geografische Isolation des Dorfes als Schauplatz spitzen sie sich zu. Ein Thema, das in Zeiten von erbitterten Macht- und Wahlkämpfen relevanter ist als je zuvor.

Die Kameraarbeit des Films ist experimentell und besticht ebenso wie der besondere Look eines 16mm-Films. Mittels der unkonventionellen Erzählweise werden trotz der herrschenden Brutalität auch humorvolle Momente etabliert, es wird viel gelacht im Kinosaal. Und das Ende kommt unerwartet. Das Schauspiel, die Musik, der Schauplatz, der Spannungsaufbau, die Komik, das Thema – all das ist positiv zu beschreiben. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass in der Gesamtkomposition etwas Wesentliches fehlt. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Handlungsstränge teilweise verwirren und nur bedingt entschlüsseln lassen. Zwischenzeitlich mäandert der Film, verliert sich in Details und stilisierten Bildern. Entsprechend werden im Nachgespräch auch einige Rückfragen zum Verständnis des Plots gestellt.

Rosa Lobejäger

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