Schreiben über Film (3): Die Stille des Krieges
Sechs kurze Texte zu Intercepted, Oksana Karpovychs Dokumentarfilm über den Ukrainekrieg (Forum), je eine Kritik zu Jin Jiangs Republic (Forum) und Will Trempers Die endlose Nacht (Retrospektive). Verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film: Berlinale 2024“ (Stiftung Universität Hildesheim).
Forum: Republic (Jin Jiang)

Ein kleiner Raum auf sechs Quadratmetern mitten in Beijing. Von außen eher unscheinbar. Doch dieser Ort ist vieles: ein Schlafplatz, eine Küche, ein Treffpunkt für Jamsessions, ein Nachtclub. Vor allem aber ist es ein Zufluchtsort für Li Eryang und seine Freunde. Der Raum wird „Republic“ genannt, so lautet auch der Titel von Jin Jiangs neuem Film.
Die „Republik“, die wie ein unscheinbarer Hohlraum zwischen den umliegenden Häusern wirkt, entpuppt sich als ein Ort der Zuflucht vor der Welt außerhalb der Tür. Zugleich wirkt der Film klaustrophobisch und beklemmend, da der Raum nie verlassen wird. Mit Songs von David Bowie oder Bob Dylan im Hintergrund wird Eryangs Alltag begleitet. Der Kinosaal ist mit ihm zwischen den vier Wänden gefangen. Bald gibt es kein Zeitempfinden mehr. Der einzige Hinweis auf die Gegenwart sind die Uhrzeit auf Li Eryangs Computer und der MacBook-Monitor, der im Hintergrund immer mal wieder zu sehen ist.
Eryang und seine „Cosmic Bros“ leben scheinbar sorglos. Sie rauchen, trinken, spielen Musik und diskutieren unter psychedelischen Lichtern über ihre Ideale. Aber hinter der unbeschwerten Oberfläche verbirgt sich eine bedrückende Realität: Das Leben im geschützten Raum wird hauptsächlich durch Online-Kredite finanziert, aus denen sich ein Teufelskreis aus Schulden und weiteren Krediten entwickelt. Der idealisierte Raum, den der Protagonist anfangs so stolz vorstellt, entpuppt sich als Rückzugsort für einsame junge Menschen, die den sozialen Druck nicht aushalten.
Rueya Guercan
Forum: Intercepted (Oksana Karpovych)

Oksana Karpovychs Dokumentarfilm Intercepted verwendet abgefangene Telefonate russischer Soldaten, die von den ukrainischen Sicherheitsdiensten aufgezeichnet wurden. Die Gespräche bieten einen Einblick in den Ukrainekrieg und wurden zwischen März und November 2022 aufgenommen.
Der Film beginnt mit statischen Aufnahmen von zerstörten Schulen, zerschossenen Bürogebäuden und verlassenen Häusern. Darüber legen sich die Stimmen der Männer, die für diese Verwüstung verantwortlich sind. Die Unterhaltungen wechseln zwischen den Fragen besorgter Mütter, die sich nach dem Wohlergehen ihrer Söhne erkundigen, und verstörenden Äußerungen über Ukrainer, die in ihrer Menschenverachtung an Nazipropaganda erinnern.
Interessant ist, dass sich die Bildsprache des Films im Verlauf ändert und hoffnungsvoller wird. Einzelne Menschen tauchen im Bild auf, die versuchen, ihr Leben inmitten der Trümmer fortzusetzen. Auch bei diesen Aufnahmen ist auffallend, dass der Film Nahen vermeidet und stattdessen vor allem auf Distanz und Weitwinkel setzt. Und auch der Kontrast zwischen den eher ruhig gehaltenen Bildern und den verstörenden Dialogen im Voiceover bleibt erhalten.
Die Gespräche sind oft beunruhigend. Beispielsweise beschreibt ein Soldat detailliert, wie Gefangene gefoltert und getötet werden, und gesteht, dass er daran Gefallen findet. In einer anderen Episode erzählt ein Militärangehöriger seiner Mutter, wie er eine ukrainische Mutter vor den Augen ihrer Kinder getötet hat. Als Antwort darauf kommt: „Of course, she is also an enemy.“ Intercepted ist eine komplexe dokumentarische Arbeit, die nicht nur Einblicke in die Kriegsführung in der Ukraine gibt, sondern auch die Manipulation der russischen Bürger durch die staatliche Propaganda beleuchtet.
Vivien Borchert
*
Der Alltag nach Kriegsbeginn in der Ukraine läuft weiter. Menschen schwimmen in einem Badesee, am gegenüberliegenden Ufer ein eingestürzter Wohnkomplex. Auf einer Straße umfahren Kleinwagen die ausgebrannten Überreste eines Panzers. Es sind Aufnahmen, die genau dadurch erschrecken, dass die Menschen in ihnen so routiniert mit der Zerstörung umgehen, in notdürftig eingerichteten Kellerbehausungen Radio hören oder innerhalb verwüsteter Wohnungen Hausarbeit verrichten.
Die Filmemacherin, Autorin und Fotografin Oksana Karpovych hat mit Intercepted einen Dokumentarfilm gedreht, der schwer auszuhalten ist. Und das, obwohl Kampfhandlungen nie direkt gezeigt werden. Das sogenannte „aktive Kriegsgeschehen“ ist nur durch dumpf tönende Bombeneinschläge in der Ferne oder eine Rauchsäule am Horizont präsent. Auf der Bildebene sind es die Folgen der Zerstörung, die gezeigt werden: statische Aufnahmen verwüsteter Wohnungen und Straßenzüge. Wenn die Kamera in Bewegung ist, filmt sie in langsamen Fahrten aus einem Panzer, Transporter oder Auto.
Da der Film mit dramatisierenden Effekten so sparsam umgeht, fällt gerade in diesen Sequenzen ein bedrohlich anschwellender Klangteppich auf, den es nicht unbedingt gebraucht hätte. Das Filmmaterial erzeugt auch ohne Soundtrack genug Beklemmung. Eine besondere Wirkung entfalten zudem die vom ukrainischen Geheimdienst SBU aufgezeichneten Telefongespräche russischer Soldaten, die während des Films immer wieder zu hören sind. Gespräche mit Angehörigen, die von militaristischem Eifer, Beichten über Morde und Folter, aber auch von Desillusionierung, von Traumata und vom Frontalltag handeln.
Erst gegen Ende bekommen die Angehörigen des russischen Militärs ein Gesicht, als ein Lager mit Kriegsgefangenen gezeigt wird. Auch diese Bilder hätte es womöglich nicht gebraucht, da der Film seine Wirkung gerade dadurch entfaltet, dass die Besatzer als Personen nicht zu sehen sind.
Stephan Gräfe
*
Eine leere Schnapsflasche liegt auf dem Tisch, der Raum ist verlassen und zerstört. Aus dem Off die Stimme eines russischen Soldaten, der mit einer Angehörigen telefoniert. Er würde erst wieder nach Hause kommen, wenn Russland gewinnt und der Krieg vorbei ist. Etwas später liegt ein verrosteter Panzer an einer Straße, im Hintergrund wird ein neuer geliefert. Es wird noch dauern, bis der Soldat zurückkehren wird.
Der Einmarsch russischer Soldaten in die Ukraine wird in Oksana Karpovychs Dokumentarfilm auf zwei Ebenen erzählt. Lange Kameraeinstellungen stehen den Mitschnitten von Telefongesprächen der Besatzer gegenüber. Die Bilder in Intercepted sind still und beinahe kontemplativ. Ihre Form der dokumentarischen Beobachtung erinnert an den Film Homo sapiens (2016) von Nikolaus Geyrhalter. Zerbombte Häuserfronten und geplünderte Wohnungen sind nüchterne Zeugnisse der russischen Gewalttaten.
Parallel zu hören sind die vom ukrainischen Geheimdienst aufgezeichneten Telefonate. Soldaten berichten von dem besseren Lebensstandard in der Ukraine. Die Freude der Mutter ist groß, als ein Soldat eine Markenjacke auf der Straße findet. Auch wenn diese in einer Pfütze aus warmem Blut lag. Manche Mütter weinen, andere sind gefasster, schimpfen auf die Ukraine, wenn ihre Söhne berichten, wie sie Zivilisten getötet haben. Und wenn die Soldaten verzweifelt sind, Angst haben, nicht verstehen, warum sie kämpfen müssen, dann spornen einige Angehörige sie an, weiter zu töten. Die Feinde seien Faschisten, die sterben und wie Kebab verarbeitet werden müssten. Oft ist das Wort „Khokhol“ zu hören, eine Beleidigung. Die russische Propaganda scheint ganze Arbeit geleistet zu haben.
Lara Martensen
*

Eine staubige Dorfstraße. Eine ältere Frau schiebt langsamen Schrittes ihr Fahrrad, auf dem sie Lebensmittel transportiert. In Richtung Kamera lässt sie einen Satz fallen. „Thank you for not forgetting us“; das ist im Untertitel zu lesen. Und tatsächlich wird Intercepted sich schmerzlich in das Gedächtnis der Zuschauenden einbrennen.
Der Satz der Frau ist der einzige, der in diesem Film von ukrainischer Seite geäußert wird. Die Tonebene besteht ansonsten aus abgehörten Telefongesprächen zwischen russischen Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, und ihren Angehörigen: Müttern, Frauen, Kindern. Die Regisseurin Oksana Karpovych stellt diesen Gesprächen in ihren Bildern die Zerstörungsgewalt der Besatzung gegenüber. Man sieht verlassene, zerstörte und ausgebrannte Häuser von innen und außen, in Dörfern und Städten, dazu Bombenkrater, viel zersplittertes Glas, verwüstete Klassenzimmer und Turnhallen, Gräber, die Furchen der Panzer im Boden.
Und man sieht ukrainische Zivilisten, die ihrem Alltag nachgehen: Kinder, die auf der Schaukel sitzen, Nachbarn, die gemeinsam Suppe essen. Auch diese Bilder haben einen Ton: Man kann die Stille hören, die sich nach der Zerstörung ausgebreitet hat. Der Wind, der die Gardinen an den kaputten Fenstern bewegt, ist leise. Es ist dunkel. Die Angst vor dem Krieg ist unmittelbar.
Eine Beschreibung für die Tonmitschnitte zu finden, fällt schwer. Denn die Worte machen sprachlos, sie sind brutal. Darum geht es der Regisseurin: die Verinnerlichung der russischen Propaganda deutlich zu machen. Eine Mutter erklärt ihrem Sohn, der die Sinnlosigkeit des Krieges beklagt, warum er zu kämpfen habe. Eine Tochter sagt ihrem Vater, er solle nach Hause kommen, wenn alle Ukrainer getötet sind. Menschen sprechen aneinander vorbei, aber Kriegsverbrechen werden offen ausgesprochen.
Johanna Marx
*
Ein Panzer fährt auf asphaltierter Straße. Rechts und links ziehen Dörfer vorbei, zerstört und ausgestorben. Dann ein leeres Klassenzimmer. Zersprungene Fensterscheiben, auf dem Boden liegen Stühle, wie umhergeworfen. Über das Rauschen und Grollen der Stille legen sich Unterhaltungen auf Russisch. Soldaten im Einsatz, die mit ihren Familien telefonieren. Der Inhalt ihrer Gespräche wird in englischer Sprache am unteren Bildrand eingeblendet: „There were civilians. I shot them all.“ – „They are not humans. They are Nazis.“ – „Kill all the Ukrainians and come home!“
Der Dokumentarfilm Intercepted verfolgt ein einfaches Prinzip und erreicht damit große Wirkung. Abgehörte Telefonate machen deutlich, mit welcher Überzeugung und Kälte viele russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine Zivilist*innen ermorden. Dazu die Bilder, die das Ausmaß der Zerstörung einfangen. Anderthalb Stunden Fassungslosigkeit. Spannung. Warten. Die Stille des Krieges. Die Aufnahmen sprechen für sich.
Die Regisseurin Oksana Karpovych hat bereits die Dokumentarfilme Temporary (2017) und Don’t Worry, the Doors Will Open (2019) gedreht. Seit Beginn der russischen Invasion im Frühjahr 2022 arbeitet sie mit internationalen Reporter*innen an der Berichterstattung aus ukrainischer Perspektive. Für den Film arbeitete sie mit Open-Source-Audiospuren, die seit Kriegsbeginn vom ukrainischen Geheimdienst aufgezeichnet und online auf einer eigenen Website zugänglich gemacht werden.
Ihre Hoffnung sei es gewesen, so Karpovych nach der Filmvorführung, in den Gesprächen der Soldaten mit ihren Müttern, Frauen und Schwestern Reue zu finden. Menschlichkeit. Empathie. Doch in dem gesamten Material, insgesamt 930 Telefonate, 300 Stunden Gespräch, finde sich nur eine Stimme, die sich klar gegen die russische Propaganda positioniert. Diese stamme nicht von einem der Soldaten, sondern von einem weiblichen Familienmitglied.
Tilo Neuhaus
*
Tanker verrosten wie gestrandete Schiffe am Straßenrand. In verlassenen Häusern wehen Gardinen im Wind. Eine Frau kehrt Glasscherben zusammen. Es sind stille Bilder der Zerstörung. Oksana Karpovychs Film Intercepted nähert sich dem aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine auf besondere Weise. Die visuelle Ebene machen beobachtende, statische Kameraaufnahmen von zerstörten Dörfern, Städten, Häusern und Autobahnen aus. Gefilmt wurden diese Orte nach der Befreiung von der russischen Besatzung. Die Aufnahmen sind geprägt von einer eindringlichen Ruhe, wie sie selten vermittelt wird, wenn es um Bilder des Krieges geht.
„What we see on the news is just the surface. The reality of war is this quiet tension and a lot of waiting“, erklärt die ukrainisch-kanadische Regisseurin im Q&A nach der Filmvorführung. Diese Perspektive transportiert sich deutlich, die Aufnahmen zeigen Vergangenes und Gegenwärtiges zugleich, die Zukunft ist ungewiss. Über die Bilder schieben sich die Stimmen russischer Soldaten, die in Telefongesprächen mit Ehefrauen, Müttern und Schwestern von ihren Erfahrungen aus dem Kriegsgebiet berichten. Sie sind auf der Suche nach Bestätigung, erzählen von der Ermordung von Zivilist*innen.
Die Antworten, die sie in den Gesprächen erhalten, sind ein Abbild russischer Propaganda. Immer wieder wird das Feindbild der faschistischen Verräter*innen betont und scheint als Rechtfertigung für jede noch so unmenschliche Gräueltat auszureichen. Bei den Gesprächen handelt es sich um abgehörte Telefonanrufe, aufgezeichnet und online gestellt durch den ukrainischen Geheimdienst. Während des Durcharbeitens von etwa dreißig Stunden Material, so Karpovych, sei sie auch auf der Suche nach Antworten, Hoffnung, Empathie gewesen. Aber unter den Mitschnitten ist nur eine kritische Stimme zu hören.
Die Fassungslosigkeit, die sich beim Zuhören der abgestumpften Schilderungen von Mord und Folter einstellt, ist im Kinosaal deutlich zu spüren. Zuschauende halten sich an den Händen, leises Schluchzen ist zu hören.
Sarah Reichert
Retrospektive: Die endlose Nacht (Will Tremper)

Extremwetterlage. Der Westberliner Flughafen Berlin-Tempelhof ist in dichten Nebel gehüllt. Bis zum nächsten Morgen wird kein Flugzeug mehr abheben. Zahlreiche Fluggäste sitzen fest und verbringen die Nacht in Wartehallen, Büros und Bars.
Verlorenheit, verpasste Reiseziele und Isolation. In einer Ausnahmesituation wie dieser werden die Charaktere der porträtierten Figuren auf besondere Weise sichtbar. Stichprobenartig gewährt Will Trempers Film Einblick in einzelne Schicksale. Liebesdramen, betrügerische Geschäfte und Träume, die sich nicht erfüllen werden.
Die endlose Nacht (1963) entstand innerhalb weniger Monate. Gedreht wurde nach Betriebsschluss in den weiten Hallen des Westberliner Flughafens, das Budget war knapp, die Szenen wurden improvisiert. So haftet dem Film tatsächlich etwas Dokumentarisches an. Die Figuren sind zwar überzeichnet, Stereotype; aber die Gespräche und Begegnungen zwischen ihnen erscheinen dennoch glaubwürdig. So fügt sich aus den miteinander verwobenen Episoden ein facettenreiches Bild zusammen, das den Anspruch zu haben scheint, eine ganze Gesellschaft kenntlich zu machen.
Paris Scholtz
Kommentare zu „Schreiben über Film (3): Die Stille des Krieges“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.