Schreiben über Film (3): 100-Wörter-Texte
Berlinale 2020: Was ihr uns hier zeigt, das leben wir auch. Miniaturen über Filme und Filmerfahrungen aus dem Forum und dem Panorama (Stiftung Universität Hildesheim).
Panorama: Little Girl (Petite Fille, Regie: Sébastien Lifshitz)

Der Konflikt, der in Little Girl dokumentiert wird, ist so simpel. Da ist ein Kind, und dieses Kind will existieren. Dieses Kind will, dass Menschen es mit einem bestimmten Pronomen ansprechen und es bunte Kleider tragen lassen. Sasha ist neun Jahre alt und hat ihr Leben noch vor sich. Sie kann nicht einschätzen, welche politische Dimension ihre Wünsche haben, welche juristischen Probleme sie verursachen. Es wird der Moment kommen, in dem sie es begreifen wird. Ihre Mutter, die für ihre Anerkennung als Mädchen kämpft, weiß das genau. Sie weint bei dem Gedanken an diese Zukunft. Sasha weint. Ich weine auch.
Carina Kluge
Forum: Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist (Regie: Sabine Herpich)

Wir sehen Suzy van Zehlendorf bei der Arbeit zu. Sie ist Künstlerin in einer Kunstwerkstatt für Menschen mit Behinderung. Vor ihr steht ein Pappaufsteller, der das Schloss Charlottenburg darstellt. Ihre eigentliche Arbeit spielt sich aber hinter dem Aufsteller ab: Durch ein Guckloch schauend, das sie in die Pappe geschnitten hat, bearbeitet sie Styropor. Daraus soll die Kuppel entstehen. In präziser Detailarbeit stellt sie die Miniatur eines Gebäudes her, das sie hasst, seit sie es das erste Mal gesehen hat. „Später wird es dann abgeschossen“, sagt sie schelmisch. „Mit Dartpfeilen.“ Aber vorher müssen die Statuen befreit werden, weil sie traurig aussehen.
Dimitra Harlis
Panorama: Schwarze Milch (Regie: Uisenma Borchu) Futur Drei (Regie: Faraz Shariat)

Schwarze Milch endet. Applaus, die Regisseurin und ihr Team betreten die Bühne. Uisenma Borchu hat im Film ihre eigenen Emotionen und persönlichen Erfahrungen verarbeitet. Das spiegelt sich im Q&A wider. Das Mikro bleibt bei ihr. Ein Übersetzer, stummer Cast. Hierarchie, Familienbande. Borchu beantwortet Fragen für sie, spricht für und über sie. Kontrastprogramm: Auch nach Futur Drei kommt das gesamte Team auf die Bühne, auch hier eine Familie. Alle trauen sich zu sprechen, Mikros werden herumgereicht, Meinungen sind gleichwertig. Das merkt man dem Film an. Mehrere Perspektiven verschmelzen, Erfahrungen bereichern sich gegenseitig.
Jule Waizenegger
Panorama: Mare (Regie: Andrea Štaka) und andere
Du schaust mich an und planst deine Flucht. Deine Augen geschminkt, deine Wimpern sind lang. Das Weiß deines Kleides verschleiert dein Ziel.
Du suchst deine Schwester, du findest nur Sand. Du bist zugleich stark und trauerst und schreist.
Du suchst deinen Sohn, versinkst in der Stadt. Du überlässt die Kontrolle den Fängen der Nacht. Dein Ich löst sich auf, in dir wird es wild.
Du küsst deine Kinder, du küsst einen Mann. Du weckst deine Lust und folgst dem Begehr. Du, Muna – Du, Rojda – Du, Pari – Du, Mare. Was ihr mir hier zeigt, das lebe ich auch.
Louise Lindlar
Diese Texte entstanden im Rahmen des Seminars „Schreiben über Film auf der Berlinale“ der Stiftung Universität Hildesheim.
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