Schreiben über Film (2): "So Pretty" und "Selfie"
So Pretty sprengt in einem traumartigen New York Geschlechtergrenzen auf (Forum). In Selfie dokumentieren zwei Freunde eines Mafia-Mordopfers per Smartphone ihren Alltag (Panorama). Vier kurze Texte zu zwei Filmen von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film auf der Berlinale“ (Stiftung Universität Hildesheim)
Queere Utopie zu fünft

So schön ist der Titel einer Novelle von Ronald M. Schernikau. Die Regisseur*in Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli begibt sich in So Pretty mit fünfköpfigem Cast auf ihre Spuren. „dann rennen tonio und franz über eine straße lachend. es ist ganz hell und sommer.“ Aber die Namen sind falsch. Tonio ist Tonia. Was einst Frage nach den Verhältnissen der gleichgeschlechtlichen Liebe junger Männer war, ist jetzt eine nach Geschlechteridentitäten und der Sehnsucht nach kollektiver Zärtlichkeit.
Im Park werden Teile der Novelle gelesen, die währenddessen im Leben der fünf reale Züge annimmt. Die Spielenden wirken wie im Schwebezustand. Sie versinken ineinander in einem traumartigen New York, das nur für sie da zu sein scheint, demonstrieren, philosophieren und feiern. Der Film lässt seinen Protagonist*innen respektvoll Raum und schafft gleichzeitig eine große Nähe. Eine queere Utopie und ein fantastischer Gesellschaftsentwurf zu fünft.
(Bruno Brandes)
Gegenentwurf zur zweipoligen Gesellschaft

Paul, Franz, Helmut, Tonia, Gera, Erika.
Was sagt ein Name über dein Geschlecht aus? Wer bist du? Wonach fühlst du dich?
Im New York der Gegenwart blicken wir bei So Pretty von Jessie Jeffrey Dunn Rovinell in einen Alltag, der Differenzierungen zwischen männlich und weiblich nicht zu kennen scheint. Smalltalks in der WG-Küche, ausgelassene Clubabende, politischer Aktivismus, Liebe. Alles ist so, wie es sein könnte – sollte! Frei, ungezwungen, unverstellt.
Kreisend bewegt sich die Kamera. „wir sehn franz ganz nah, wie er tonio ein bißchen nimmt, seine arme umfassen tonio […] franz küßt ihn, legt sich auf ihn, dann ist er unter ihm […], läßt ihn seine armmuskeln anspannen, tonio nimmt die haare von franz & sagt: wiene frau.“
Die Novelle So schön von Ronald M. Schernikau stand für den Film Pate und wird immer wieder in Passagen gelesen und öffentlich vorgetragen. Die sechs Protagonist*innen werden damit zu Sprachrohren des Umdenkens, eines Gegenentwurfs unserer zweipoligen Gesellschaft. So Pretty ist ein Plädoyer für das Normale im vermeintlich Anderen.
(Philipp Köhler)
Rauschendes Bild einer Freundschaft

Alessandro und Pietro richten die iPhone-Kamera auf sich und dokumentieren ihren Alltag im neapolitanischen Bezirk Traiano. Als Allessandro mit gläsernen Augen davon erzählt, warum sein bester Freund Pietro so viel isst, rollt ihm eine Träne über die Wange. Alessandro hält das iPhone so nah an sein Gesicht, dass die Zuschauenden jede Pore sehen können und die graublauen Augen uns direkt zu adressieren scheinen. Zwischen Motorradfahrten, Billardspielen und Pistolenschüssen ergibt sich das rauschende Bild einer Freundschaft zweier Jungen, deren Aufwachsen von Kriminalität, Ungerechtigkeit und der zärtlichen Sorge für den anderen geprägt ist.
Regisseur Agostino Ferrente ist nach Neapel gekommen, weil er von dem 16-jährigen Davide Bifolco gehört hat, der 2014 willkürlich von einem Polizisten erschossen wurde. In der Recherche stößt er auf die Freunde Davides — auf Alessandro und Pietro. Er gibt ihnen iPhones und ein Mikrofon in die Hand und lässt die Jugendlichen sich und ihren Alltag filmen. Der entstandene kollaborative Dokumentarfilm Selfie ist ein rührendes Porträt über Freundschaft und ein willkürliches System, das einem selbst die Tränen in die Augen treiben kann.
(Raquel Molt)
„Die denken doch nur: wieder einer weniger.“

„Meinst du, unsere Kinder könnten hier leben?“, fragt Pietro Alessandro, als sie gemeinsam den Blick über einen gehobenen Stadtteil Neapels schweifen lassen. Mit der Antwort: „Das ist unmöglich“, spricht Alessandro das aus, was den beiden und auch allen weiteren Bewohner*innen des neapolitanischen Bezirks Rione Traiano klar zu sein scheint: Wer hier lebt, hat Schwierigkeiten, wegzukommen, und sieht sich mit Gewalt und Kriminalität konfrontiert. In diesem Stadtteil wurde der 16-jährige Davide Bifolco im September 2014 aus Versehen von einem Carabiniere erschossen. „Die denken doch nur: wieder einer weniger”, erzählt Alessandro, der wie Pietro ein Freund des Opfers war. Dass David aber unvergessen bleibt, zeigt dieser Film.
Regisseur Agostino Ferrente hat eine ganz besondere Herangehensweise gewählt, um sich drei Jahre später Davides Fall zu nähern. Er stattete die beiden Freunde von David mit Handys aus und dem Auftrag, ihren Alltag zu dokumentieren. Entstanden ist die Geschichte einer zärtlichen Männerfreundschaft, ein genaues Porträt eines Milieus, und vor allem – eine eindrucksvolle Erinnerung an Davide. In Selfie-Aufnahmen nehmen uns Alessandro und Pietro in eine Welt mit, die wir so niemals zu Gesicht bekommen hätten.
(Philomena Petzenhammer)
Kommentare zu „Schreiben über Film (2): "So Pretty" und "Selfie"“
BG
Ein berührender wie bedrückender Film, der auch davon lebt, dass es den jungen Mitautoren gelingt mit der Handy-Kamera in der speziellen Perspektive sehr eindrucksvoll zu kadrieren, authentische Bildwelten zu kommunizieren und die beiden jugendlichen Protagonisten in der Lage sind öffentlich über ihre Situation zu reflektieren - große Anerkennung den „drei Regisseuren” und dem Team, inklusive Editor, dahinter!