Schreiben über Film (2): Queeres Begehren und ein DEFA-Klassiker
Vier Texte über Jun Lis Queerpanorama (Panorama), Marcio Reolons und Filipe Matzembachers Night Stage (Panorama) und Konrad Wolfs Solo Sunny (Classics). Verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film: Berlinale 2025“ (Stiftung Universität Hildesheim).
Queerpanorama (R: Jun Li; Hongkong, China, USA 2025)

Wer ist der Protagonist von Queerpanorama wirklich? So einfach ist das nicht zu beantworten. Denn im Laufe des Films nennt er sich mal Erfan, mal Dan, dann Matthew, Charlie, Phil und Stefan. Der junge Mann lebt in Hong Kong in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Seine Zeit vertreibt er sich mit zahlreichen Sex-Dates mit Männern und schlüpft dabei immer in die Identität seines letzten Dates. Zuerst ist er Schauspieler, später Lehrer, irgendwann auch Architekt. Was sein wahrer Beruf ist, oder ob er überhaupt einen hat, erfahren wir nie.
Der dritte Film von Regisseur Jun Li hat auf der diesjährigen Berlinale Premiere in der Sektion Panorama. In schwarz-weißen Bildern wird der Schauplatz Hong Kong so trist wie schön eingefangen. Zu sehen bekommt man viele Totalen und kaum nahe Einstellungen: Das distanzierte Auftreten des Protagonisten überträgt sich auch auf die visuelle Ebene. Oft bleibt die Kamera im Türrahmen stehen, als wäre sie auf Abstand bedacht, so wie der Protagonist es auch mit seinen Dates ist. Im Kontrast dazu steht die Intimität der Szenen, in denen er ganz alleine ist und in seinem Zimmer Karaoke singt, masturbiert oder ins Waschbecken pinkelt.
Das Bedürfnis, die Hauptfigur greifen zu können, wird durch die vordergründige Distanz noch gesteigert, und so fallen jene Eigenschaften um so deutlicher auf, die Teil einer stabilen Persönlichkeit sein könnten und in denen vielleicht ein authentisches Ich durchblitzt. Eine Vorliebe für Earl Grey mit Milch, die Zigarette nach dem Sex oder die systemkritische Haltung. Diese sprechenden Details sind zentral für den Film und heben ihn von einer simplen Geschichte über ein verkorkstes Liebesleben ab. Im Gespräch mit dem ostdeutschen Expat Stefan über das Ende der DDR träumt der Protagonist kurz von einem China ohne staatliche Unterdrückung, auf anderen Dates diskutiert er ausführlich über Zwangsprostitution und Kolonialismus.
Trotz aller Bemühungen des Protagonisten, distanziert zu bleiben, entwickelt sich im Laufe des Films eine Atmosphäre zärtlicher Nähe – zu den beobachteten Liebhabern und den Zuschauer*innen gleichermaßen. Der Sex und die Gespräche danach sind, bei aller Anonymität, stets ein intimes Unterfangen. Und letztendlich ist auch die schwarz-weiße Tristesse auf ihre Art tröstlich.
Isabella Stechel-Marceddu
Night Stage (R: Marcio Reolon, Filipe Matzembacher; BRA 2025)

Innig ineinander verschlungen lieben sich zwei Männer in einem dunklen Zimmer. Sie sind allein. Da fällt ein Lichtstrahl auf ihre nackten Körper. Der Wind hat die Vorhänge leicht beiseite geweht. Die Männer tauschen kurze Blicke aus und grinsen verschmitzt. Der eine, Rafael, erhebt sich und reißt die Vorhänge vollständig auf.
Marcio Reolon und Filipe Matzembacher inszenieren mit Ato noturno / Night Stage einen Erotikthriller, der über das Gesehenwerden sinniert. Matias, ein athletischer Mann Anfang 20, könnte kaum offener mit seiner Queerness umgehen. Er trägt freizügige, körperbetonte Tops, feiert in schwulen Clubs und begibt sich zum Cruisen in den Park. Als Darsteller am Theater ist er die aufmerksamen Blicke gewohnt, die er auf sich zieht. Teil eines Bühnenensembles zu sein reicht ihm aber nicht, am liebsten wäre er der Star einer TV-Serie. Über eine App lernt er den charmanten, aber geheimniskrämerischen Rafael kennen. Zwischen den beiden knistert es heftig.
Aus dem anonymen One Night-Stand entwickelt sich eine heiße Affäre. Bald stellt sich heraus, dass Rafael Politiker ist und sich mitten im Wahlkampf befindet. Dass er schwul ist, muss er verschleiern, um seine Karriere nicht zu gefährden. Der Reiz, aufzufliegen, öffnet beiden die Tür zu bisher verborgenen Vorlieben. Sex beim offenen Fenster, dann im Auto, dann im Park. Ihre Liebschaft wird durch den gemeinsamen Kink noch riskanter.
Dass man als Person des öffentlichen Lebens eine gewisse exhibitionistische Veranlagung haben muss, macht Night Stage bereits zu Beginn klar. Die Darsteller:innen des Theaterstücks, in dem Matias mitspielt, blicken direkt in die Kamera und adressieren das Publikum. Aber die Rolle, die man verkörpert, kann man sich nicht immer aussuchen. Das wird auch Rafael und Matias bewusst. So sinnlich es ist, die beiden zu beobachten, wie sie ihre Vorliebe für Sex in der Öffentlichkeit erforschen, so sehr schmerzt es dann, zusehen zu müssen, wie sie sich für ihre jeweiligen Karrieren Stück für Stück von ihren queeren Identitäten distanzieren.
Jonas Helmerichs
Solo Sunny (R: Konrad Wolf; DDR 1980)

Die Berlinale präsentiert zu ihrem 75. Jubiläum in der Sektion „Classics“ eine subtile Gesellschaftskritik aus den späten Jahren der DDR. Unvergesslich spielt Renate Krößner eine Figur, deren Wunsch nach Selbstverwirklichung nicht nur an die Grenzen des politischen Systems stößt, sondern auch ihr Dasein als Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft bestimmt. Für ihre Darstellung der „Sunny“ wurde Krößner 1980 mit dem Silbernen Bären gewürdigt.
Ingrid „Sunny“ Sommer tingelt mit einer Band als Schlagersängerin durch die Kulturhäuser der DDR-Provinz. Sie träumt von einer Karriere als Sängerin, die nicht nur der staatlich geförderten Unterhaltung der Arbeiterklasse dient, sondern ihre eigene künstlerische Vision verwirklicht. Zuhause stört sich die Nachbarin an Sunnys Lebenswandel: sie sei zu laut, die Herren würden ein und ausfliegen wie die Tauben im zerfallenden Prenzlauer Berg und zu oft wäre die junge Dame auf Tour.
Sunny selbst ist auf der Suche nach Liebe und Verbindung. Für die Männer in ihrem Umfeld ist die Sängerin jedoch vordergründig Projektionsfläche oder Lustobjekt. Sunny wagt zudem, die Kerle in ihrem Leben selbstbestimmt zu wählen. Ob Sex, große Gefühle oder kollegiales Verhältnis bestimmt ausschließlich sie. „Du kannst einem auch alles versauen“, behauptet der Mann, der sie vergöttert, den sie aber beim besten Willen nicht lieben kann. Die Welt reibt sich an ihr und Sunny reibt sich an der Welt. Die Konsequenzen ihrer Rebellion, die eigentlich nur ihr Leben ist, erfährt sie im Laufe des Films am eigenen Leib. „Es liegt wohl an mir selbst“, resümiert sie schließlich gegenüber einem Arzt.
Es liegt natürlich nicht an ihr. Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase entwirft den Freiheitsdrang seiner Protagonistin als innere Notwendigkeit, ohne dabei das politische System der DDR offen zu kritisieren. In der schönsten Szene dieses Klassikers steht Sunny in einer Bar. Sie singt, sie strahlt, sie scheitert. Und leuchtet dabei golden. In diesem Moment wird spürbar: Wenn Tilda Swinton in ihrer Eröffnungsrede von Berlins reicher cineastischer Historie spricht, dann spricht sie auch über Solo Sunny.
Julia Fiederer
Solo Sunny (R: Konrad Wolf; DDR 1980)

Konrad Wolfs Solo Sunny aus dem Jahr 1980 ist das Porträt einer Frau, die zwischen Scheitern und Aufstieg versucht, sich in den späten 1970er Jahren der DDR zu behaupten – eine Geschichte von Selbstbestimmung, Rebellion und dem Kampf gegen gesellschaftliche Normen.
Sunny, gespielt von Renate Krößner, träumt davon, als Schlagersängerin erfolgreich zu sein. Die Musik spielt eine zentrale Rolle, sowohl in ihrem Leben als auch im Film. Sunny sucht nach einem selbstbestimmten Dasein und lässt sich nicht auf traditionelle Rollen und Zuschreibungen festlegen. Sie wird als eine facettenreiche, mitunter auch scheiternde Figur gezeigt, die nicht klein beigibt. Ihre Unabhängigkeit wird dabei immer wieder infrage gestellt, sei es durch Männer, die sie kontrollieren wollen, oder durch eine Gesellschaft, die eine eigenwillige Frau wie sie nicht akzeptiert.
Das Fehlen anderer starker weiblicher Figuren in dem Film lässt aber einige Fragen offen. Sunny wird als Ausnahmeerscheinung inszeniert, während andere Frauen deutlich konventioneller dargestellt werden. Dies verstärkt den Eindruck, dass es nur eine Form der „starken Frau“ gibt: diejenige, die sich radikal von der Gemeinschaft abgrenzt. Dies kann dem Film allerdings nachgesehen werden, denn er unterstreicht auch den Stellenwert von Freundschaften unter Frauen und den Halt, den sie bieten. Mit diesen Freundschaften kontrastieren die unterschiedlichen Beziehungen zu Männern, die Sunny führt.
Der Film zeichnet seine Protagonistin als eine komplexe, widersprüchliche Figur, die vor allem durch die nahen Kameraeinstellungen sehr greifbar wirkt. Ihre Affäre mit dem Intellektuellen Ralph (Alexander Lang) zeigt ein Machtgefälle, durch das Sunnys Emotionen oft an zweiter Stelle stehen. Sie aber lässt sich davon nicht unterkriegen, setzt Grenzen und entzieht sich dem Narrativ einer klassischen Romanze. Auch wenn sich der Kampf gegen gesellschaftliche Normen hier auf private Wünsche und Ambitionen beschränkt und trotz manch blinder Flecken bleibt der Film ein sehenswertes Zeitdokument: das Porträt einer Frau, die sich nicht unterordnen will.
Irene Rumpf
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