Schreiben über Film (2): Nicht-weißen Perspektiven nachspüren
Von Bildern, die es selten auf die Leinwand schaffen, und Menschen, die sonst nie zu Wort kommen: Fünf kurze Kritiken aus diversen Festivalsektionen, verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film: Berlinale 2023“ (Stiftung Universität Hildesheim).
Forum Special Fiktionsbescheinigung: Black Head

Es ist eine besonders feierliche Stimmung im Delphi-Filmpalast, als Kurator Can Sungu die Premiere der restaurierten Fassung von Korhan Yurtsevers Film Black Head (Kara Kafa, 1979) ankündigt. Kaum war der Spielfilm über Hacer, Cafer und ihre Kinder, die von einem Dorf in der Türkei nach Düsseldorf zogen, um dort in Fabriken zu arbeiten, 1980 fertiggestellt, beschlagnahmte die türkische Zensurbehörde alle Kopien und verbot weitere Aufführungen. Überraschend ist nun im letzten Jahr das Filmnegativ aufgetaucht, das aufwendig restauriert seine Wiederentdeckung auf der diesjährigen Berlinale feiert.
Glühend heiß ist es in der Düsseldorfer Metallfabrik, in der Cafer Arbeit gefunden hat. Man sieht den Männern zu, wie sie sich Schutzkleidung anlegen und neben den gleißenden Strömen flüssigen Stahls hantieren. Kurz darauf laufen sie mit ihren Freund*innen die Straße entlang und fabulieren über ihre in der Ferne lebenden Familien. Black Head erzählt vom Alltag türkischer Arbeitsmigrant*innen im Ruhrgebiet und deren linker Selbstorganisation.
Während Cafer in seinem Job Aufstiegschancen sieht und jede Form von Widerstand gegen die prekären Arbeitsbedingungen als jobgefährdend ablehnt, ist seine Frau Hacer von Anfang an skeptisch gegenüber dem neuen Land, dass ab den 1950er Jahren gezielt Arbeiter*innen aus dem Ausland als billige und leicht auszunutzende Arbeitskräfte anwirbt. Als sich die prekäre Lage der Familie durch die Geburt ihres dritten Kindes zuspitzt, der Platz in der Kinderbetreuung an der deutschen Bürokratie scheitert und die ältere Tochter deshalb, anstatt in die Schule zu gehen, die Betreuung des Babys übernehmen muss, schließt Hacer sich gegen den Willen ihres Mannes einer Gruppe von Frauen an, die sich organisieren, um etwas an diesen Zuständen zu verändern.
Es sind starke Bilder, die von den Erfahrungen, die die Einwanderer*innen mit der übrigen westdeutschen Bevölkerung der Nachkriegszeit gemacht haben, erzählen und die immer wieder über die Kinder vermittelt werden. So sehen wir das Gesicht des Sohnes von Cafer und Hacer, wie er zusieht, als der deutsche Nachbarsjunge mit einem Hammer sein ausrangiertes Fahrrad absichtlich so demoliert, dass es für den Sohn oder irgendjemanden sonst völlig unbrauchbar ist. Die Kinder treten dabei als eigenmächtige Personen auf, die ganz genau zu spüren scheinen, was passiert. So leistet die Tochter, die sich zusätzlich zur Betreuung des jüngsten Geschwisterkindes auch noch vor dem Jugendamt verstecken muss, um die Schulpflicht zu umgehen, zwar entschiedenen, jedoch aussichtslosen Widerstand gegen ihre neue Situation.
Gut wird am Ende nicht viel in diesem Film. Auch ob Cafer sich letztlich seiner Frau in ihrer politischen Arbeit anschließt, bleibt offen. Wie die meisten der Filme im mittlerweile drei Jahre bestehenden Programm „Fiktionsbescheinigung“ gibt Black Head Einblicke in einen viel zu häufig ignorierten Teil der Geschichte der Bundesrepublik. Mit der Wiederaufführung, die wie das gesamte Programm gemeinsam mit der postmigrantischen Berliner Filminitiative „Sinema Transtopia“ und dem Arsenal Institut für Film und Videokunst zustande kommt, bestätigt die Reihe somit auch, was ihre Archiv- und Restaurationsarbeit derart wichtig macht: nicht-weißen Perspektiven in der deutschen Filmgeschichte nachzuspüren und ihnen eine größere Sichtbarkeit zu verschaffen.
Lun Kacirek
Generation 14plus: Hummingbirds

In Hummingbirds (2023) machen die jungen Regisseur*innen Silvia Del Carmen Castaños und Estefanía Contreras sich selbst und ihre Partnerschaft zum Ausgangspunkt ihres dokumentarischen Videotagebuchs. Sie geben uns Einblicke in ihr Leben in Laredo, Texas, direkt an der Grenze zu Mexiko, und können in ihrer Doppelrolle als Regisseur*innen und Protagonist*innen stets selbst festlegen, wann sie die Kamera anschalten, was sie rausschneiden und wie sie sich in Szene setzen. So entscheiden sich Silvia und Estefanía beispielsweise aktiv für die Darstellung unangenehmer Situationen wie Estefanías Telefonat mit der Ausländer*innenbehörde oder unsicherer Proben am Keyboard, zeigen aber auch nächtliches Rumgealber.
Es sind Ausschnitte, die es sonst häufig nicht in einen fertigen Film schaffen. Die beiden kommen mit Menschen in ihrem alltäglichen Umfeld ins Gespräch, wodurch wir indirekt etwas über ihr Leben, ihre Herkunft, Sexualität und politische Gesinnung erfahren. Besonders die O-Töne, und das heißt hier vor allem: die Jugendsprache, in der sich Silvia und Estefanía unterhalten, sowie die selbstgeschriebenen Gedichte, die im Voice-over zu hören sind, machen die Selbst-Dokumentation auch zu einem Dokument einer jüngeren Generation von queeren, mexikanischen Einwanderer*innen an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. „Viva la Mexico“, rufen die beiden während des Feuerwerks zum Unabhängigkeitstag der USA, reden offen über geklaute Gegenstände und tragen Pullis, auf denen „Everybody knows I got an Arbortion“ steht. Manches dagegen ist nur zu erfahren, wenn man genau hinhört, etwa, dass Silvia nicht-binär ist, als Estefanía für sie in einem Nebensatz they/them-Pronomen verwendet.
Die Kamera ist nicht nur Beobachterin, sondern lädt die Zusehenden aktiv dazu ein, sich als Teil dieser Freundschaft zu fühlen. Unangenehme Gefühle und Themen werden von den beiden dabei häufig eher weggelacht als ausgesprochen und durchgearbeitet. So ist es vor allem die eingesprochene Lyrik, die die innige Beziehung zwischen Silvia und Estefanía deutlich macht; besonders dann, als gegen Ende des Films ein letztes Liebesgedicht sogar vor der Kamera von Silvia an Estefanía vorgetragen wird und beide weinend lachen müssen. Dieses Gedicht bleibt das einzige, das im Film wiederkehrt, nachdem am Anfang Silvia ein paar Zeilen aus dem ersten Entwurf vorgetragen hat.
Hummingbirds endet so abrupt, wie er anfängt, ein charmanter Low-Budget Film, der an die Zeit von YouTube-Videos erinnert, als Branding und Algorithmen noch nicht wichtig waren.
Ýr Estrid Langhorst
Panorama: The Burdened

„Ich bin sehr überrascht, dass so ein Thema wie Abtreibung in einem jemenitischen Film behandelt wird“, sagte eine Zuschauerin nach der Aufführung des Spielfilms The Burdened (Al Murhaqoon, 2023) von Amr Gamal. Eine schwangere Frau namens Isra’a (Abeer Mohammed) lebt mit ihrem Mann Ahmed (Khaled Hamdan) und den gemeinsamen drei Kindern in Aden im Süden des Jemen. Nach dem Bürgerkrieg sehen sich weite Teile der Bevölkerung von einer wirtschaftlichen Krise mit teils tragischem Ausmaß konfrontiert. Militärkontrollen, hohe Mieten sowie Strom- und Wasserausfälle stehen an der Tagesordnung. Es sind diese Lebensumstände, die Ahmed dazu bewegen, von seiner Frau zu verlangen, das ungeborene Kind abzutreiben, schließlich leidet die Familie ohnehin unter der schlechten Versorgung. Der Film begleitet die Eltern auf ihrer Suche nach einer Lösung für ihr Problem, zumal gesellschaftliche und traditionelle Bürden einer Abtreibung im Weg stehen.
The Burdened basiert auf einer wahren Begebenheit aus dem Freundeskreis des Regisseurs. Dabei behandelt er das Thema Abtreibung in einem umfassenderen, die soziale Situation der gesamten jemenitischen Bevölkerung nach dem Bürgerkrieg verhandelnden Sinne: „Die Träume der armen Menschen werden abgetrieben“, sagt Gamal beim Q&A nach dem Film. Die Kamera ist durchgehend ruhig, fast statisch, und gibt den Zuschauer*innen so genügend Raum, die dargestellten Konflikte besser verstehen zu lernen. Aber auch der sandsteinfarbene Grundton der Bilder und die atmosphärischen Hintergrundgeräusche tragen zur Ruhe und Umsicht bei, mit der The Burdened sich der Geschichte einer Familie und ihren Nöten in einem von Krieg und sozialen Krisen gebeutelten Land widmet.
Es ist herzzerreißend, einen arabischen Film auf der Berlinale zu sehen, der in der Heimat des Filmemachers gedreht wurde und die prekären Lebensumstände zeigt, die für unzählige Jemenit*innen Realität sind. Diese Realität ist es, die Gamal dem Bild, das insbesondere westliche Medien von Kriegsgebieten wie dem Jemen zeichnen, gegenüberstellen möchte. Ihr verhilft der Film zu Aufmerksamkeit, er ist für die Menschen aus dem Jemen gemacht, die sonst international nicht zu Wort kommen.
Aya Zavê Khalil
Generation Kplus: Deep Sea

Deep Sea (Shen Hai, 2023), der zweite Animationsfilm des chinesischen Regisseurs Tian Xiaopeng, ist eine 3-D-Reise in die Innenwelt eines kleinen Mädchens. Seit ihre Mutter die Familie verlassen und ihr Vater mit einer neuen Frau ein Kind bekommen hat, ist Shenxiu für diesen eher Ballast. Als die neue Familie eine Kreuzfahrt unternimmt, kann das Mädchen scheinbar aufatmen, lernt das Meer als Sehnsuchtsort kennen. Doch auf Zuwendung und Verständnis durch ihren Vater hofft sie weiterhin vergeblich. Immer mehr igelt sie sich in ihrer Trauer ein, spricht kaum noch und weigert sich, den roten Hoodie, der einst der Mutter gehörte, abzulegen.
Als sie eines Nachts in einem Sturm über Bord geht, findet Shenxiu sich Hals über Kopf in einer surrealen Unterwasserwelt wieder. Buchstäblich gerät sie in einen Strudel prächtig leuchtender Farben. Dem Hinweis eines Wassergeistes folgend, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter und stößt dabei auf ein Tiefsee-Restaurant. Wundersame Fischwesen werden hier von einer Crew aus Ottern, Walrössern und allerlei Meeresbewohnern mit verrückten Gerichten verköstigt. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber der Fremden freunden sich die Kreaturen mit dem Mädchen an und werden zu einer Art neuen Familie für Shenxiu, die sie bei der Suche nach ihrer Mutter unterstützt.
Der Gegensatz zwischen Shenxius Leben über und unter Wasser, Kern- und Ersatzfamilie, schlägt sich in Deep Sea auch visuell nieder. Während kühle und gedeckte Farben den von Einsamkeit und Trauer geprägten Alltag des kleinen Mädchens spiegeln, vermittelt die bildgewaltige Traumwelt der Tiefsee Hoffnung nicht nur auf ein Wiedersehen mit der Mutter, sondern auch auf die Möglichkeit einer Überwindung des initialen Verlustes durch neu geknüpfte Freundschaften.
Xiaopengs grafisch überaus liebevoll gestalteter Animationsfilm liefert spektakuläre Schauwerte und ein sinnliches 3-D-Kinoerlebnis, das sich vor keiner größeren Produktion zu verstecken braucht. Leider ist Deep Sea jedoch, was Handlung und Charakterzeichnung angeht, nicht anschlussfähig an so stringente wie sensible Fantasy-Zeichentrickfilme wie etwa Hayao Miyazakis Chihiros Reise ins Zauberland (2001). Zwar wird aufseiten der CGI ein optisches Dauerfeuerwerk in den Tiefen des Ozeans abgeschossen. Hauptfigur Shenxiu will sich jedoch in ihren Motiven und ihrer Entwicklung nicht recht erschließen. Allein durch tiefe Trauer gekennzeichnet, kann sie den Film inhaltlich nur schwer tragen. Eine vertane Chance ist das auch deshalb, da Aspekte mentaler Gesundheit wie etwa Depressionen bei Kindern insbesondere für Animationsfilme, die in das Innenleben einer Figur eintauchen, visuelle Gestaltungsmöglichkeiten bieten, wie es vor einigen Jahren der Pixar-Film Alles steht Kopf (Inside Out, 2015) von Pete Docter bewiesen hat. Im Fall von Deep Sea bleibt der erzählerische Einfallsreichtum über dem farbenfrohen Spektakel jedoch tendenziell auf der Strecke.
Hendrik Felske
Encounters: The Adults

Michael Cera, der ewig Junggebliebene – der breiten Masse als Loser aus Highschool-Komödien wie Superbad und Juno (beide 2007) bekannt –, ist erwachsen geworden. Seine Rollen als pubertierender Teenager hat er unlängst abgelegt. Als Produzent und Hauptdarsteller des Familien-Comedy-Dramas The Adults (2023) unter der Regie von Dustin Guy Defa beweist er nun, dass eine sensible Coming-of-Age-Geschichte keine Frage des Alters sein muss.
Cera spielt Eric, einen unsicheren Mann Anfang 30, der nach langer Abwesenheit in seine Heimatstadt zurückkehrt. Er möchte den Kontakt zu seinen beiden Schwestern auffrischen und diverse Freunde abklappern. Für seine Familie plant er jedoch unverhältnismäßig wenig Zeit ein. Stattdessen packt ihn der Ehrgeiz, zu beweisen, dass er noch immer der beste Spieler seiner alten Pokergruppe ist, und so verlängert er seinen Aufenthalt mehrmals.
Der eher unscheinbare Plot wird mit langen Takes und nahen Handheld-Aufnahmen äußerst intim inszeniert und lässt die Dialoge zwischen den Geschwistern in den Vordergrund treten. Wenn Maggie (Sophia Lillis), die jüngste der drei, Eric und Schwester Rachel (Hannah Gross) in der verzweifelten Hoffnung, die Familie damit wieder zu vereinen, Lieder und Tänze aus der gemeinsamen Kindheit aufführt, bleibt die Kamera meist auf den beiden Älteren. Äußerst feinfühlig fängt Defa die Reaktionen von Eric und Rachel ein, deren vereiste Beziehung ein Kernmotiv des Filmes darstellt. Beide sind zu stolz, um sich ihr Fehlverhalten einzugestehen, und verfallen in alte Kommunikationsmuster. Überhaupt weichen die drei Geschwister unangenehmen Situationen häufig mit Rollenspielen aus ihrer Kindheit aus: mit verstellten Stimmen, die an Cartoonfiguren erinnern, und burlesqueartigen Tanz- und Gesangsnummern. Die eigentliche Bitterkeit und Frustration, ja auch die Trauer um die fünf Jahre zuvor verstorbene Mutter, verstecken sie hinter der kindlichen Fassade.
Insofern mag es nicht verwundern, dass Erics einzige Stärke das Taktieren beim Online-Schach und Bluffen beim Pokern ist. Seine Suche nach Bestätigung – verunsichert fragt er in die Runde, weshalb über einen seiner Witze nicht gelacht wurde – verkörpert Cera mit gewohnt gekonnt komödiantischem Timing. In der von zarter Klavier- und Cellomusik untermalten melancholischen Reise des Geschwistertrios ins (neuerliche) Erwachsenwerden schlägt Defa leise Töne an und schenkt Cera das verdiente Finale zu einem Genre, das dieser so maßgeblich geprägt hat.
Florian Pannes
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