Schreiben über Film (2): Den Anfang machen

Fünf Kurzkritiken über Filme aus fünf verschiedenen Sektionen, verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film – Berlinale 2022“ (Stiftung Universität Hildesheim).


Der richtige Schnitt: The Outfit (Berlinale Special)

„You cannot make something good until you know who you’re making it for.“ Gleich zu Beginn gibt The Outfit den Modus vor: Es geht um präzise Beobachtungen, und Leonard (Mark Rylance) ist darin meisterlich. Immer wieder schnelle Blicke, scharfe Schnitte, ein zügiges Erfassen der Umgebung, trotz des Tempos genau. Auf diese Weise präsentiert sich das Regiedebüt von Graham Moore bei der Premiere im diesjährigen Berlinale Special.

Eine kleine Maßschneiderei in Chicago 1956. Der Besitzer, Leonard, ist Experte seines Fachs und näht Anzüge mit viel Sorgfalt und Blick fürs Detail. Leisten können sich die teuren Anfertigungen nicht viele, weshalb der ältere Mann bei seiner Klientel nicht wählerisch sein darf. Zu seinen Stammkunden zählt eine Gangsterfamilie, die Boyles, die sich in der Stadt mit den La Fontaines einen Kampf liefern. Doch Leonard lässt die Verbrecher seinen Laden für ihre Machenschaften nutzen. Bis an einem verschneiten Dezemberabend zwei von ihnen den Schneider in ihre Machenschaften zu involvieren beginnen. Eine Kassette soll verraten, wer in der Familie die Ratte ist, die den Feinden Informationen liefert. Doch bevor das Geheimnis gelüftet werden kann, fallen bereits Schüsse.

Der Film greift die angespannte Atmosphäre der Situation häufig mit Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen und Close-ups auf. Kamerafahrten auf Figuren zu unterstützen diese Dramaturgie des Blickduells. Vor allem in solchen Szenen glänzt der Film. Und weil es von ihnen viele gibt, entstehen in den 106 Minuten Laufzeit des Films keine Längen. Editor William Goldenberg spielt mit dem Rhythmus der Schneiderschere, die in manchen Szenen auch den Schnittrhythmus des Films bestimmt.

Dabei bleibt das Schneidergeschäft den ganzen Film über der einzige Schauplatz. The Outfit ist ein dramatisches Kammerspiel, das so schließt, wie es angefangen hat, mit einem Voice-over des Protagonisten. Mark Rylance, der zuletzt in Don’t Look Up (2021) als ominöser CEO auftrat, verkörpert Leonard auf eine so fesselnde Weise, dass man den letzten Worten des Films widersprechen möchte: „Real perfection is impossible.“

Franziska Böhm

 

Hommage an die Generation Z: Coma (Encounters)

Synthetische Klänge und körniges Bildrauschen etablieren die Stimmung des Spielfilms Coma. Regisseur Bertrand Bonello widmet ihn seiner Tochter Anna, die gerade 18 Jahre alt geworden ist, als die Pandemie beginnt. Der Film, der die Weltpremiere in der Sektion Encounters feiert, inszeniert den Lockdown als Montage aus Albträumen, Sitcoms und Bildschirmaufnahmen und geht der Frage nach dem Sinn der Existenz nach. Seine Protagonistin, ein junges Mädchen (Louise Labeque), sitzt allein zu Hause fest. Zuflucht findet sie im YouTube-Kanal von Patricia Coma (Julia Faure), die als seltsame Kreuzung aus einer altmodischen Teleshop-Verkäuferin und einer Verschwörungstheoretikerin auftritt. Sie lädt das Mädchen ein, ihr in einen Limbus zu folgen, in dem die Gesetze von Raum und Zeit anders funktionieren als gewohnt.

Realität und Fantasy verschwimmen 80 Minuten lang, während Regisseur Bonello zwischen animierten Barbies, FaceTime-Anrufen und Comic-Ästhetik hin und her springt. Das ist mitunter sehr verwirrend, denn die Anzahl neuer Ebenen nimmt kein Ende; ein Film, der selbst ins YouTube-Loch gefallen scheint. Coma ist eine Hommage an die Generation Z, inklusive Fridays-for-Future-Anspielungen und Serienkiller-Doku. Die Stimme des Mörders hat der Regisseur selbst eingesprochen, wie er im Nachgespräch zum Film erzählt, für die vielen anderen Off-Stimmen hat er befreundete Schauspieler*innen angefragt.

Im selben Gespräch bezeichnet Bonello seinen Film als „Hybrid“, und das ist eine mögliche Beschreibung für dieses Potpourri aus Bildern, das sich keinem Genre eindeutig zuordnen lässt. Essay, Drama, Komödie, Horror, alles ist dabei. Obwohl Coma so durcheinander, abstrakt erzählt ist, findet der Film immer einen Weg zurück zur Zuschauerin. Das liegt vor allem an der feinfühligen Darstellung des Mädchens durch Louise Labeque, die ein Ruhepol in diesem Gedankenkarussell bleibt.

In jedem Fall macht der Film der Sektion Encounters alle Ehre. In Coma begegnen sich Stile, Konzepte und Generationen. Es ist ein feiner Humor, der die Gemeinsamkeit zwischen den unterschiedlichen Bildern herstellt und diesen Film, der sich irgendwo zwischen Fiktion und Dokumentation bewegt, schließlich zu einem Mosaik werden lässt, das erst aus der Distanz ein Gesamtbild ergibt.

Karoline Rößler

 

Momentaufnahmen einer Familie: Beba (Generation)

„This is my part. No one else speak.“ Mit dieser klaren Ansage beginnt der autobiografische Dokumentarfilm Beba der US-amerikanischen Autorin und Regisseurin Rebeca Huntt. Im Jahr 1990 wurde sie als Tochter eines Schwarzen Vaters aus der Dominikanischen Republik und einer hellhäutigen Mutter aus Venezuela in New York geboren. In ihrem Langfilmdebüt aus dem Jahr 2021 setzt sie sich mit ihrer Identität als Afro-Latina in den USA auseinander.

Der Spitzname der Regisseurin gibt dem Selbstporträt, das innerhalb von acht Jahren entstand, seinen Titel. Anhand von Videoaufnahmen, Archivmaterial, Interviews und Fotografien nimmt Huntt das Publikum mit auf eine Reise in ihre Vergangenheit, führt Gespräche mit der Familie, die während ihrer Kindheit und Jugend zu fünft in einer Einzimmerwohnung nahe dem Central Park wohnte. Als sie ihren Vater vorwurfsvoll fragt, wieso sie denn nicht in eine schlechtere Gegend, aber dafür in eine größere Wohnung gezogen seien, wiederholt dieser mehrmals mit ernstem Ton: „It was the best I was able to afford.“

Die Videoaufnahmen, mehrheitlich mit einer 16-mm-Kamera aufgenommen, sind häufig verwackelt und sehr nahe an den Personen dran. Sie gewähren Einblicke in die intimsten Momente im Leben der Protagonistin, zum Beispiel als sie beim Karaoke aus vollem Hals ein spanisches Lied über Identität und Zugehörigkeit singt und ihr dabei Tränen über das Gesicht laufen. Oder als sie sich in einem Streitgespräch mit ihrem weißen Freundeskreis völlig unverstanden fühlt und wütend den Raum verlässt.

Neben dem autobiografischen Videomaterial gibt es auch eine Bildebene der experimentellen Natur-Aufnahmen. Sonnenüberflutete Landschaften, Äste eines Baumes, Spiegelungen in einer Pfütze. Das Videomaterial ist auf akustischer Ebene mit Interviewpassagen, Radiobeiträgen, entspannten Hip-Hop-Beats und der ruhigen, klaren Stimme von Huntt unterlegt, die ihre persönlichen Gedanken äußert. Beba ist ein mutiger Film, der sich strukturellem Rassismus und traumatischen Erfahrungen in den Momentaufnahmen einer Familie nähert.

Alice Hiepko

 

Bedrohlich realistisch: Un año, una noche (Wettbewerb)

Feine Partikel schweben in der Luft, sichtbar im Licht der grellen Scheinwerfer. Das erste Bild aus dem Film Un año, una noche vermittelt einen träumerischen Eindruck. Später werden wir erfahren, dass es Schwarzpulver und die Feuchtigkeit sind, die die Körper der Leichen verlassen. Céline (Noémie Merlant) und Ramón (Nahuel Pérez Biscayart) haben den Terroranschlag im Pariser Club Bataclan überlebt und kämpfen jetzt mit den Folgen. Un año, una noche erzählt vom Umgang des Paars damit, beginnt mit ihrem Weg in die Wohnung nach dem Attentat. Eingehüllt in Rettungsdecken bewegen sie sich durch Paris, ein Bus fährt an ihnen vorbei. Dass er weitere Personen, die am Leben geblieben sind, transportiert, ist an den silbernen und goldenen Reflexionen zu erkennen. Der Anschlag ist vorbei, der Ort wird geräumt, aber wie geht es für die Überlebenden weiter?

Der Film des Regisseurs Isaki Lacuesta basiert auf den Erzählungen von Ramón Gonzales, einem Überlebenden des Anschlags von 2015, der seine Erlebnisse in dem Buch Paz, Amor y Death Metal niedergeschrieben hat. Im Film ist das Erinnern für den Protagonisten Ramón elementar. Akribisch versucht er sich an einer Rekonstruktion der Nacht und wird panisch, sobald ihm Momente entfallen. Seine Freundin Céline will hingegen vergessen, möglichst schnell in ihr altes Leben zurückkehren. Der jeweils individuelle Umgang der beiden mit dem Erlebten wird ihre Beziehung zunehmend belasten.

Immer wieder zeigen Rückblenden das subjektive Erleben der traumatischen Nacht; Körper, die vor Angst schwitzen, und Panik, die die Luft zum Atmen nimmt. Die Kamerafrau Irina Lubtchansky fängt die Ausnahmesituation bedrohlich realistisch ein. Auf actionreiche Szenen wird verzichtet. Denn es geht nicht um den Terroranschlag, sondern um die Betroffenen und ihr Erleben vor Ort. Auch das, was vor der Nacht im Bataclan das Leben des Paares ausmachte, wird von Lacuesta behandelt – wie im Abgleich mit dem Leben nach dem Anschlag. Ist es möglich, das Erlebnis zu vergessen, oder braucht es gerade eine intensive Auseinandersetzung? Un año, una noche zeigt unterschiedliche Wege der Bewältigung auf, wenn die individuellen Bedürfnisse aufscheinen, die eine Partnerschaft gewaltsam auf die Probe stellen.

Franzi Cagić

 

Lähmende Bilder: Gewalten (Perspektive Deutsches Kino)

Daniel (Malte Oskar Frank) wächst an einem trüben Ort auf. Nie scheint die Sonne, Regen und Dämmerlicht herrschen in der nur dünn besiedelten Gegend vor. Zwischen verfallenen Gebäuden und dunklen Wäldern lebt er in Gesellschaft seines schwer kranken Vaters (Robert Kuchenbuch), seines großen Bruders Michael (Eric Cordes) sowie des Außenseiters Marcel (Paul Wollin) und der wenigen anderen Verbliebenen in dieser Gegend. Hundekämpfe, Viehschlachtungen, arrangierte Massenschlägereien, rassistische Parolen und auch sonst ein rauer Umgangston gehören in Daniels Umfeld zum Alltag.

Daniel selbst allerdings ist anders. Zwar bleibt ihm nicht viel mehr übrig, als sich anzugleichen, doch sein Wesen passt nicht in diese Welt. Gewissenhaft verrichtet er die Care-Arbeit an seinem Vater, sorgt sich um seinen Hahn Blasius, weil er noch nicht kräht, und kümmert sich mithilfe eines Kaninchens mit Heilkräften um die Verletzungen und Leiden seiner Mitmenschen. Er freundet sich mit Karim (Mohamed Haj Younis) an und baut zum Missfallen seines Bruders eine Verbindung zu Außenseiter Marcel auf, die von stillem Verständnis geprägt ist.

Gewalten erzählt eine Coming-of-Age Geschichte, für die Regisseur Constantin Hatz eine besondere Gestaltungsform findet. Sie zeigt sich besonders in den kargen Dialogen, die eher aufgesagt als emotional ausgespielt werden und stets lange Pausen zwischen Fragen und Antworten lassen. Hinzu kommen die spärlich beleuchteten Bilder, gestaltet von Rafael Starman, der für seine Kameraarbeit mit dem Heiner-Carow-Preis der DEFA-Stiftung ausgezeichnet wurde. In langsamen Fahrten und langen Einstellungen entfalten Starmans Aufnahmen ihre beinahe lähmende Wirkung.

Auf eine zeitliche und räumliche Verortung der Schauplätze und der Handlung wird verzichtet, wodurch Daniels Lebenswelt ungreifbar erscheint. Mit fast zweieinhalb Stunden Länge lässt sich Gewalten viel Zeit, einen Einblick in die Entwicklung von Daniel in dieser unwirtlichen Umgebung zu gewähren. Auf Dauer wächst der Wunsch nach dem Wechsel, dem Ausbruch, dem Entkommen aus der bedrückenden Stimmung. Doch Constantin Hatz geht es nicht darum, Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Publikums zu nehmen, sodass er ohne Eile zu Ende führt, wovon er erzählen will.

Thassilo Vahlenkamp

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