Schreiben über Film (1): Idyllen
Vier kurze Texte über Filme aus den Sektionen Forum, Panorama, Perspektive Deutsches Kino und Generation, verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film – Berlinale 2022“ (Stiftung Universität Hildesheim).
Forum: The United States of America

Eine Ortsangabe eröffnet den Film, weiße Schrift auf schwarzem Grund: Heron Bay, Alabama. Es folgt eine statische Kameraeinstellung, die für etwa zwei Minuten auf die Leinwand projiziert wird. Ein menschenleerer Strand, so unbewegt, dass es sich um ein Standbild handeln könnte. Dazu der vor Ort aufgezeichnete Ton: Wind, Vögel, Fahrzeuge irgendwo außerhalb der Einstellung. Dann ein Schnitt, für einen Moment herrscht Stille, die Leinwand wird schwarz und bietet den Sinnen eine Pause. Tatsächlich braucht die Netzhaut einen Augenblick, um das Nachleuchten des Bildes wieder zu vergessen, so sehr hat es sich eingebrannt. Dann die nächste Ortsangabe, das nächste Bild, eine andere Landschaft, doch ebenso statisch.
Auf diese Weise bereist James Bennings Film The United States of America (2022) in 52 Einstellungen die Vereinigten Staaten in alphabetischer Reihenfolge, je ein Bild für jeden Bundesstaat. Die Schnitte zum Schwarzbild markieren eine Zäsur, betonen den Ortswechsel, das Überschreiten der Grenzen. Warum genau diese Orte gewählt und Sprachaufnahmen sowie Musikstücke in manchen Szenen dem Umgebungston beigemischt wurden, bleibt offen. Mit jedem neuen Bild stellen sich weitere Fragen, Wechselwirkungen zu bestehenden Vorstellungen von den Landschaften und US-Staaten entstehen. Die Bilder entsprechen den Erwartungen, und doch bringt der Abspann zuletzt eine unerwartete Wendung.
Manche der gezeigten Landschaften sind so still wie die erste. Andere Aufnahmen enthalten Bewegung in Form von Wellen, von Pflanzen, die sich im Wind wiegen, vereinzelt sogar von Menschen und Fahrzeugen. Diese Art der Gestaltung weckt unweigerlich Assoziationen zur Diashow, bloß mit bewegten Bildern und akustischer Untermalung. The United States of America erfordert vom Publikum die Bereitschaft, sich auf diesen Stil einzulassen, die Langsamkeit nicht als Langeweile zu empfinden. Wem das gelingt, der kann sich von den Bildern hypnotisieren lassen, und nach kurzer Zeit stellt sich mit jedem Schnitt eine erwartungsvolle Vorfreude auf das nächste Bild ein.
Thassilo Vahlenkamp
Panorama: Northern Skies Over Empty Space

Cowboystiefel und Cowboyhüte, ein Revolver im Halfter an der Hüfte. Eigentlich wollte die Regisseurin Alejandra Márquez Abella einen Western drehen, für den ein Ereignis in der mexikanischen Landesgeschichte die Grundlage bildet. Aber ob Northern Skies Over Empty Space (2022) am Ende tatsächlich so ein Film geworden ist, da ist sich die Regisseurin selbst nicht ganz sicher. Herausgekommen ist in jedem Fall einer, der die Elemente des Genres neu interpretiert.
Don Reynaldo (Gerardo Trejoluna) lebt auf einer Ranch im Norden von Mexiko. Für das Jubiläum seiner Farm kommt die ganze Familie zu Besuch. Die Männer prahlen mit ihren Jagderfolgen, die Frauen bereiten in der Küche das Essen zu, die Angestellten kümmern sich um den Rest. Doch bereits zu Beginn wird klar, dass diese strikten Rollenverteilungen instabil sind. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Reynaldo und seiner Bediensteten Rosa (Paloma Petra) scheint das bloße Arbeitsverhältnis zu übersteigen. Als ein Truck auf das Farmgelände rast und der Fahrer von Reynaldo Schutzgeld verlangt, will dieser sich nicht einfach geschlagen geben.
Northern Skies Over Empty Space kritisiert sowohl individuelle als auch strukturelle Gewalt, entdeckt sie in privaten Beziehungen, gesellschaftlichen Systemen, auf der Arbeit, beim Umgang mit Tieren und in der Natur. Durch den Film zieht sich das Aufbegehren der Frauen gegen die ihnen auferlegten Rollen, mit denen sie sich nicht länger identifizieren. Mit ihrer mal mehr, mal weniger subtilen Inszenierung wagt sich Abella auch an einen männlichen Begriff von Ehre heran, verkörpert durch Reynaldo, der sich gegen ein Kartell zur Wehr setzt.
Immer wieder werden Motive des Westerngenres genutzt, beispielweise im Set-Design, und immer wieder wird mit den Konventionen des Genres gebrochen. Amerikanische Einstellungen, die Figuren bis zu den Knien zeigen, Kamerafahrten und Detailaufnahmen der Augen, wie bei einem klassischen Duell, werden aufgegriffen und mit untypischen Aufnahmewinkeln verknüpft: eine Modernisierung des gewohnten Blicks mittels der Technik. Szenen, die durch ein Prisma gefilmt wurden, verstärken diesen Eindruck und betonen in Northern Skies Over Empty Space Momente des Unbekannten, ohne zu stark mit etablierten Sehgewohnheiten zu brechen.
Franziska Böhm
Perspektive Deutsches Kino: Wir könnten genauso gut tot sein

Anna (Ioana Iacob) lebt in Spießerhausen, in einem von der Außenwelt abgeschotteten Wohnkomplex. Tagsüber sitzt sie hinter einer Glasscheibe am Gebäudeeingang, macht Durchsagen und kümmert sich um die Sicherheit. Abends kniet sie vor ihrer Badezimmertür. Ihre Tochter Iris (Pola Geiger) hat sich dahinter eingesperrt: Sie habe den „bösen Blick“ und Angst davor, jemanden zu verletzen. Ihretwegen sei auch der Hund des Nachbarn verschwunden, davon ist Iris überzeugt.
Von der Welt außerhalb des Wohnkomplexes wird in Natalia Sinelnikovas Wir könnten genauso gut tot sein (2022) wenig gezeigt. Nur manchmal, wenn externe Bewerber zur Wohnungsbesichtigung kommen, kann man erahnen, wie es jenseits des Zauns aussehen könnte. Die Bewerber werden von Anna durch die Räume geführt, wollen ihr Geld zuschieben und flehen sie regelrecht an, um die Chancen auf die Wohnung zu verbessern. Aber Anna lässt sich nicht irritieren, immerhin müsse die Idylle vor der Außenwelt bewahrt werden. So jedenfalls wird es direkt am Anfang von einem Mitglied des Ausschusses, der die Wohnungen vergibt, erklärt.
Dabei fragt man sich schon früh, wo eigentlich diese paradiesische Beschaulichkeit sein soll, die im Film immerzu behauptet wird. Denn von Anfang an scheint das Leben dort nicht angenehm. Die Räume sind trist, die Bewohner steif und regelversessen. Man wundert sich nicht, dass die Gemeinschaft im weiteren Verlauf faschistische Züge entwickelt. Zugleich beweist der Film wenig Lust am Bild: Vieles spielt sich auf der Dialogebene ab, und das weder subtil noch aus der Situation heraus erklärbar. Man könnte meinen, das Drehbuch basiere auf einem Theaterstück, denn in einem Film hören sich Sätze wie „Ich bin es, euer Wolfram” ziemlich gestelzt an.
Dabei scheinen die filmischen Vorbilder offensichtlich: High-Rise (2015) [LINK] von Ben Wheatley, in dem eine Party innerhalb eines dystopischen Hochhauskomplexes eskaliert, oder Dogtooth (2009) von Giorgos Lanthimos über eine Familie, die sich in ihrem Haus abschottet. Von beiden nutzt Wir könnten genauso gut tot sein thematische und visuelle Elemente. Dabei fehlt es dem Film selbst an klaren Entscheidungen zur Fokussierung der Handlung oder an einer konsequenten Auseinandersetzung mit der Welt, in der er spielt. Immer wieder sind die Ziele und die Motivation von Hauptfigur Anna nicht nachvollziehbar.
Angela Regius
Generation: Allons enfants

Seit 2008 leitet Maryanne Redpath die Sektion Generation, die bis 2006 noch „Kinderfilmfest“ hieß. In dieser 72. Ausgabe der Berlinale übernimmt sie die Aufgabe zum letzten Mal, dafür geht es noch einmal richtig leidenschaftlich zu. „Es wird viel Bewegung auf der Leinwand geben. Es wird gesprungen, geskatet und gerannt“, kündigt Redpath in einer Rede für das diesjährige Programm der Sektion an. Zuerst wird aber getanzt, nämlich im diesjährigen Eröffnungsfilm der Generation 14plus, Allons enfants (2022) von Thierry Demaizière und Alban Teurlai. Protagonist des Dokumentarfilms ist David Bérillon, Lehrer am Lycée Turgot, einem Gymnasium in Paris, an dem Jugendliche neben ihrer akademischen auch eine tänzerische Ausbildung erhalten. Die Verabredung ist klar: Wer Hip-Hop tanzen will, muss außerdem Ehrgeiz im Klassenzimmer zeigen.
Zwischendurch führen die Jugendlichen Gespräche über Rassismus in der Schule, Sexismus im Hip-Hop, prekäre Wohnsituationen und kaputte Familien. Doch Demaizière und Teurlai vertiefen keines dieser Themen. Alles wird angeschnitten, und das Fazit ist immer das gleiche: Das Turgot ist der Heilsbringer für die mehrheitlich nicht-weißen Jugendlichen, von denen viele aus den sogenannten sozialen Brennpunkten stammen. Allons enfants verdrängt aber, dass eine solche Möglichkeit, ein Ort wie jenes Lycée, wo die Teenager aufgefangen, gefördert und ermutigt werden, nicht allen zur Verfügung steht und ein Privileg ist. Der Schulbesuch wird zur Selbstverständlichkeit, die Jugendlichen zu Vorzeigeobjekten eines gelungenen pädagogischen Ansatzes.
Die Kamera begleitet sie während des Unterrichts, auf dem Pausenhof, in das Büro des Direktors und natürlich immer wieder beim Tanzen. Sie nimmt dabei die Perspektive von Lehrer Bérillon ein: Die Jugendlichen vertrauen ihm, also vertrauen sie auch der Kamera. So entstehen intime Einblicke in die Lebensrealität der Tänzer*innen, die ihre Ängste und Träume, ihren Erfolg und ihr Scheitern teilen. Das beeindruckende Zusammenspiel aus Kameraführung und Montage (Alban Teurlai) wird ergänzt durch die eigens für den Film komponierte Musik von Pierre Aviat. Das Ergebnis ist ein Film, die wie ein Musikvideo mit besonders komplexer Dramaturgie wirkt.
Sowohl auf ästhetischer als auch auf inhaltlicher Ebene ist Allons enfants beinahe zu schön, um wahr zu sein. Von den bunten Outfits der Tänzer*innen, die wirken, als stünde ein ganzes Kostümteam hinter der Ausstattung, bis zu der verständnisvollen Englischlehrerin, die immer genau den richtigen Ratschlag zu geben weiß, wird alles im rechten Licht dargestellt. Ist das also wirklich ein Dokumentarfilm oder nicht doch ein fast zweistündiger Imagefilm für das Lycée Turgot?
Karoline Rößler
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