Schreiben über Film (1): Histoire de Judas
Drei Rezensionen über den Film Histoire de Judas (2015, Regie: Rabah Ameur-Zaïmeche), verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film – Berlinale 2015“ (Stiftung Universität Hildesheim)
Eine andere Geschichte des Judas
Rabah Ameur-Zaïmeche spricht den Sündenbock des Neuen Testaments frei.

Dass er selbst die Rolle des Judas übernehmen würde, sei von Anfang an klar gewesen, sagt Rabah Ameur-Zaïmeche bei der Weltpremiere seines, wie er vor der Vorführung erklärt, „fünften ersten Films“, Histoire de Judas.
Auf den bestimmten Artikel im Filmtitel wurde verzichtet: Es ist nicht die Geschichte des Judas aus der Bibel, nicht die des Verräters, die hier erzählt wird, sondern die eines Freundes. Als einziger Jünger im Film namentlich genannt, ist Judas seinem Meister eng verbunden und versucht erfolglos, ihn vor denen zu schützen, die seine Worte aufschreiben und so den Römern belastendes Material liefern könnten. Das Vernichten der Aufzeichnungen irritiert, sind doch die Evangelien über das Leben Jesu das schriftliche Fundament des christlichen Glaubens.
Neben der Darstellung der Judas-Figur bringt Ameur-Zaïmeche weitere überraschende Faktoren ins biblische Spiel, wie komödiantische Momente (wenn Judas Jesus auf dem Rücken trägt und sagt: „Vierzig Tage gefastet, und du bist immer noch schwer!“), die Umkehrung von Details (Jesus trägt einen jungen Esel nach Jerusalem hinein) und eine gewisse Unaufgeregtheit. Motive aus der Bibel werden aufgegriffen wie Zitate und zum Teil neu verknüpft. Jesus streckt beim Bad im Fluss die Arme aus wie am Kreuz. Die Mutter der Ehebrecherin, die er vor der Steinigung bewahrt hat, salbt ihm zum Dank das Haar. Andere symbolträchtige Szenen wie die Fußwaschung oder das (letzte?) Abendmahl werden wie beiläufig erzählt. Die Entscheidungen des Regisseurs wirken ausnahmslos bedacht, als ginge es in jedem Moment darum, dass man eine bekannte Geschichte auch ganz anders in Szene setzen kann.
Die Bauten sind kulissenhaft, wie Fremdkörper in die raue, schöne Landschaft gestellt, die römischen Säulen verfallen schon zu Ruinen. Volk, Priester und Römer sehen aus wie stereotype Lehrbuchabbildungen. Keine Musik, nur die Geräuschkulisse von Wind und surrenden Fliegen untermalt das Geschehen und lässt den Zuschauer die Atmosphäre des Schauplatzes erahnen. Selbst Jesu Verurteilung geschieht wenig dramatisch; die wütende Meute bleibt anwesend; der Schauprozess findet ohne Zuschauer statt.
Marcella Melien
Ein filmisches Evangelium – die Geschichte von Jesus und Judas neu erzählt
Der algerisch-französische Regisseur Rabah Ameur-Zaïmeche kehrt mit seinem fünften Film Histoire de Judas nach dreizehn Jahren zur Berlinale zurück.
Eine steinige Wüstenlandschaft unter strahlender Sonne. Judas trägt seinen Freund Jesus nach dessen vierzigtägiger Askese auf seinem Rücken zurück ins Dorf. Es sieht anstrengend aus, Judas scherzt: „Vierzig Tage gefastet, und trotzdem kein Gramm leichter.“ Rabah Ameur-Zaïmeche erzählt das Verhältnis von Jesus und Judas in Histoire de Judas freundschaftlich und zärtlich. Judas ist hier keinesfalls der Verräter, zu dem er in der Überlieferung fast zweitausend Jahre lang gemacht wurde.
Beim Filmgespräch im Delphi Filmpalast erzählte der Regisseur, er habe diesen Film auch gedreht, um Judas nicht mehr als Schuldigen darzustellen, da diese Zuschreibung bereits zu viele religiöse Konflikte befeuert habe. Spannend ist, dass Ameur-Zaïmeche die Voraussetzungen für die Geschichtsschreibung im Film selbst thematisiert: Judas macht sich auf, um die Schriftstücke zu zerstören, die ein Schreiber von den Predigten Jesu angefertigt hat. Dabei gelingt es nicht, alle Schriften zu vernichten, von denen angedeutet wird, dass sie die Grundlage des neuen Testaments darstellen. Es ist auch der Konflikt zwischen einer oralen und einer schriftlichen Kultur, der hier verhandelt wird.
Da ist es passend, dass Ameur-Zaïmeche die Geschichte der beiden Männer mit filmischen Mitteln neu erzählt. Seine Bilder sind sinnlich. Berührungen werden in der Nahaufnahme inszeniert, Menschen essen und singen in gedimmtem Licht. Neben den zahlreichen Close-ups sind es vor allem die auffälligen Zooms, die das filmische Sehen bewusst werden lassen. Auch die Ruinenlandschaft, in der der Film gedreht wurde, wird nach und nach immer irritierender. Besonders eindrücklich ist sie, wenn Jesus Pontius Pilatus auffordert: „Schau dich um, dein Reich liegt in Trümmern!“ Abgebrochene Säulen, verwitterte Mauern und herumliegende Steine sind die Kulisse für Jesu Verurteilung. Hier zeigt sich der Film als gegenwärtiger Blick auf eine historische Erzählung.
Franziska Merlo
Mut zur Lücke
Regisseur Rabah Ameur-Zaïmeche erzählt in Histoire de Judas die Geschichte vom Verrat an Jesus. Wichtige Passagen lässt er einfach aus.

Man kann eine biblische Geschichte auch ganz anders verfilmen, als Berlinale-Jurypräsident Darren Aronofsky das gerade mit Noah (2014) getan hat. Die Opulenz der Blockbuster-Sandalenfilm-Dramatik verliert im Vergleich mit der feinfühligen Inszenierung in Histoire de Judas. Rabah Ameur-Zaïmeche ist Regisseur und Drehbuchautor dieses Historiendramas und spielt zugleich die Figur des Judas.
In der ersten Szene klettert dieser Judas keuchend einen Berg hinauf zu einer Hütte. Dort kauert Jesus in einer Ecke. Die letzten vierzig Tage hat er gefastet. Judas trägt ihn zurück ins Dorf. Spöttisch kommentiert er: „Fourty days of fasting and you are heavy as ever.“ Man kann das spröde finden, lachen muss man trotzdem. Diese komödiantischen Einwürfe kontrastieren den behutsamen Erzählstil von Histoire de Judas immer wieder.
Fast könnte man sagen, es gehe Ameur-Zaïmeche weniger darum, den Verrat an Jesus nachzuerzählen, als vielmehr zu hinterfragen, wie man mythische Erzählungen, noch dazu die Bibel, überhaupt filmisch bearbeiten kann. Seine Antwort ist eine Mischung aus Selbstironie und Respekt vor der Überlieferung. So wirkt Jesus wie ein verloren geglaubter Popstar, als er nach Nazareth zurückkehrt und von seinen Anhängern umringt wird. Dazu passen manche Auftritte des Judas, der Jesus folgt wie ein Groupie: „He’s a poet. With him my soul fills with joy.“
Bemerkenswert ist, dass die bekanntesten Teile der Geschichte nicht gezeigt werden. Es ist nicht zu sehen, wie Jesus gekreuzigt wird. Und auch nicht, wer den Propheten an die Römer verrät. Judas hat ein Alibi. Er liegt verwundet in einer Kammer. Der Zuschauer sieht nur, was vor und nach der Kreuzigung geschieht. Das scheint Ameur-Zaïmeches Absicht gewesen zu sein: Was man nicht sieht, treibt die Handlung voran. Beim Gespräch nach der Weltpremiere im Delphi Filmpalast nuschelt er ins Mikrofon: „We can use our dreams, our thoughts to fill the holes.“
Christoph Möller
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