Schreiben über Film (1): Halbschatten

„Schreiben über Film“ – unter diesem Titel läuft ein Seminar, in dem Studierende der Universität Hildesheim zehn Tage lang Kritiken, Kommentare und Anmerkungen zu den Filmen des Berlinale-Programm verfassen. Aus dieser Produktion werden in den nächsten Tagen immer wieder einige Texte auf critic.de veröffentlicht – den Anfang machen vier Kritiken zu Nicolas Wackerbarths Film Halbschatten (2013). Wir bedanken uns herzlich und freuen uns über kritische Rückmeldungen. (Stefanie Diekmann)

 

Kein Urlaub den Intimfrisuren

Halbschatten 01

Alles beginnt mit der Ankunft der weiblichen Hauptfigur im französischen Ferienhaus. Längere Einstellungen tasten die Umgebung ab. Draußen im Licht schimmert der Swimmingpool, von dem wir später erfahren, dass sein Wasser vergiftet ist. Eine andere Aufnahme zeigt die Stadt und ihren Hafen, unterhalb des Hangs leuchten matt die Lichter. Da rauschen die Blätter der Büsche, ein Aufbrausen, als der Wind durchfährt.

Überscharfe Bilder, verliebt in die Materialität der Figur Merle (Anne Ratte-Polle) und das Interieur der Wohnung, zeigen Tage des Wartens auf Romuald. Dieser ist Merles Liebhaber und der Vater der anwesenden pubertären Kinder Emma (Emma Bading) und Felix (Leonard Proxauf). Die Abwesenheit Romualds ist so dominant, dass sie die gestörten Beziehungen der drei Figuren zu steuern vermag. Aber wer ist eigentlich dieser Mann, der für die allen entgleitende Situation im Ferienhaus verantwortlich ist? Dass Romuald schließlich doch noch auftaucht, folgt als logisches Ergebnis des zähen Wartens, zerstört allerdings das imaginative Bild, das über die Beziehungen der Kinder und Merle im Verlauf des Films von ihm entstanden ist.

Dabei kann Merle immer nur eine Provokation darstellen in den Strukturen, mit denen durch ihre Präsenz gebrochen wird. Setzt sie sich einen Hut auf, den sie in der Wohnung gefunden hat, nimmt ihr Romualds Sohn Felix diesen mit den Worten ab: „Der gehörte meiner Mutter!“. Dafür vermeidet Merle an anderer Stelle bewusst, Felix von seinem Sprung in den frisch gechlorten Swimmingpool abzuhalten. Halbschatten ist vor allem ein Porträt der spröden Hauptfigur, die genauso gut aus den Kurzgeschichten Judith Hermanns stammen könnte: Anne Ratte-Polle gibt der stillen Merle ein hartes, aber blasses Gesicht, das ich nach dem Kinobesuch fast wieder vergessen habe. Nur ihre Bewegungen schreiben sich fest: wie sie vor dem Tisch sitzt, eine Holzkugel dreht, wie sie plötzlich eine tote Wespe in ihrer Schorle wiederfindet. Man kann der Schauspielerin in endlosen Sequenzen dabei zusehen, wie sie durch die Ferienwohnung läuft. Da gilt es hier ein Muttermal zu entdecken, oder die kleine Narbe auf der Stirn, ihre schlechte Haltung, ein leichtes Hohlkreuz, oder das Bäuchlein, das vor dem Spiegel kurz eingezogen wird. Schließlich folgen wir Merle ins Badezimmer und werden Zeugen, wie sie sich mit einer Schere das Schamhaar stutzt.

Der Körper ist eine Oberfläche, die es abzutasten gilt auf das, was unter der Hülle verborgen sein könnte. Die Dominanz der überdeterminierten Bilder macht den Film zusehends träger. In den richtigen Momenten befördert sie aber auch die Neugierde des Publikums, Aufnahmen und Dargestelltes auf Details abzusuchen. Die Stimmung in der Ferienwohnung bleibt dabei instabil, Merle kann es den beiden Kindern Romualds nicht recht machen, egal was sie auch tut. Die wachsende Unsicherheit der Protagonistin offenbart sich im Voranschreiten des Films: Einmal, nachts, findet ein Freund der Kinder eine Schlange im Garten. Merle steht plötzlich ganz allein im Gebüsch, um nachschauen, was da war. Dann ist da ein Geräusch, ganz nah, bedrohlich auf einmal: weil sich da ein Mensch bewegt oder doch die Schlange? Merle hebt einen Stein vom Boden auf und schleudert ihn erschrocken in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist.

Tabea Venrath

 

Zusammen beschreiben der Verleihtitel für den englischsprachigen Markt, Everyday Objects, und der deutsche Originaltitel, Halbschatten, bereits treffend die Grundstimmung des Filmes und die Ambivalenz, die darin ausbuchstabiert wird.

Als ironische Spiegelung der glücklichen Kernfamilie, die in den letzten Jahren schon vielfach filmisch demontiert worden ist, trifft die Geliebte (eine Partnerin auf Augenhöhe scheint sie nicht gerade zu sein) nur auf die nachgelassenen Kinder des abwesenden Vaters. Schweigsamkeit und Unsicherheit zeichnen Merles Umgang mit der Welt aus, und mit den klassisch pubertären Geschwistern wird daraus ein Psychogramm, dessen kammerspielartigem Charakter durch die Naturaufnahmen ein visueller Gegenpart geboten wird. Akustisch wird einfach gespiegelt, was das Bild zeigt: Wird nicht gesprochen, ertönen Geräusche des Hintergrundes, ob Wasser, Blätter oder ein, zwei Mal Partymusik. Immer bleibt Merle jedoch alleine mit sich.

Interessant wird dieser ruhige Film durch die Art, wie Wackerbarth die Figur der wartenden Geliebten inszeniert, nämlich über ihren Körper. Als Merle den ersten Kontaktversuch mit den fremden Kindern unternimmt, langbeinig im Badeanzug an der Tür lehnend, irritiert es einen Moment, wie selbstverständlich sie halbnackt vor ihnen im Raum steht. In ihrer einvernehmlichen Körperlichkeit scheint sie näher an der Natur als an den Menschen, die sich nun um sie herum befinden. Dass die Kinder nicht gerade wohlwollend auf Merles spröden Annäherungsversuch reagieren, versteht sich von selbst: „Was machst du da! Das war Mamas Hut!“

Das endlose Warten scheint dabei Merles Charakter ein Stück weit entgegenzukommen. Juvenile Tendenzen paaren sich eigentümlich mit der Einlassung auf Machtverhältnisse. (Ja, es gibt eine Szene der Annäherung zwischen dem Sohn und ihr.) Einerseits geht sie mit auf Partys und verschwört sich am Geburtstag der Tochter via Telefon gegen den immer noch abwesenden Vater. Andererseits lässt sie den Sohn böswillig in den Pool springen, obwohl der vom Chlorreiniger noch kontaminiert ist. Und wenn sie der Tochter zunächst etwas harsch, später mit mehr Wärme, Mathematik-Nachhilfe gibt und der Dreisatz mit den Absatzzahlen von VW erklärt wird, dann geht es kaum durchschnittsdeutscher.

So, wie die Landschaft um Nizza weder als mondän oder aufregend gezeigt wird, sondern schlicht und ergreifend Natur ist, so normal werden auch die Kinder und Merle etabliert. Alltägliches wird nur vermeintlich auf den Prüfstand gestellt. Die Figur der Merle und die Umstände, in die sie sich begibt, ermöglichen keine aktive Auseinandersetzung, stattdessen bleibt nur die heimliche Verabschiedung aus der Situation. Am Ende sieht man den Vater dann übrigens doch ein Mal, schemenhaft zwischen Autoscheiben und Dunkelheit. In der folgenden Einstellung wird Merle, einem aufgescheuchten Tier nicht unähnlich, vor blendenden Scheinwerfern stehen. Ihr ehemaliger Geliebter findet sie darin dennoch nicht.

Kathrin Maurer

 

Warten auf Romuald

Halbschatten 02

Eine Frau geht langsam die Straße in einem Ferienort an der Côte d’Azur hinauf, eine schwarze Sporttasche in der Hand. Sie trägt einen Tweed-Blazer und sieht nicht so aus, als würde sie Urlaub machen. Dass sie Urlaub macht, hat ein Blick ins Programmheft verraten. Sie heißt Merle und besucht ihren Geliebten in seinem Ferienhaus. Es ist eine lange Einstellung, das Wetter ist grau.

Der Geliebte mit dem sonderbaren Vornamen wurde aufgehalten. Merle sitzt auf unbestimmte Zeit mit seinen beiden Teenager-Kindern im Feriendomizil fest. Anstatt das Beste aus der Situation zu machen, ergehen die drei sich in passiven Anfeindungen gegeneinander. Regisseur und Drehbuchautor Nicolas Wackerbarth fasst in Halbschatten die Feindseligkeit innerhalb der scheinbaren Idylle in eindeutige Bilder. Da lässt Merle den Sohn im verchlorten Poolwasser schwimmen, obwohl sie es besser wissen sollte, und für die Tochter ist Papas Neue allenfalls eine neue Nachhilfelehrerin. Durch Zäune, Mauern, nackte Berghänge und ein zunächst unüberwindliches Holztor an der Auffahrt von der Umgebung abgeschirmt, brodeln die Aggressionen im vermeintlichen Paradies sanft vor sich hin.

Ebenso konsequent wird die erotische Spannung zwischen Merle und dem halbwüchsigen Sohn etabliert – tatsächlich etwas, das man mehr sieht, als dass man es spürt. Mangels Chemie ist die Einlösung dieser Erwartungshaltung am Ende unangenehm für alle Beteiligten, die Zuschauer eingeschlossen. Aber ist das eigentlich so schlimm? So sehr die Monotonie des Films nach einer Weile auch auf die Nerven geht, so treffend erfasst sie doch das lähmende Gefühl, das die Protagonistin in ihrer Situation empfinden muss. Und die emotionale Distanz? Auch das ein subjektives Empfinden der Hauptperson, das auf den Zuschauer überschlägt.

Was an Halbschatten zuletzt besonders interessiert, ist das Abwesende. Bilder und Dialoge voller Leerstellen suggerieren ein Fehlen im Leben der Protagonisten – aber was genau fehlt eigentlich? Es gehört zu den Stärken des Films, dass er die Antwort auf diese Frage weder schuldig bleibt noch diktiert, sondern mannigfache Möglichkeiten zulässt. In dem Maße, wie sich Merle und die Kinder näherkommen, wächst die Distanz zum Geliebten, und man fragt sich schon bald, was sie eigentlich dazu veranlasst hat, zu diesem Mann in den Urlaub zu fahren. Auch als er zuletzt in Erscheinung tritt, vermag er auf diese Fragen keine Antwort zu geben. Halbschatten zeichnet das Bild einer kaputten Familie, ohne die Familie zu zeigen. Zuletzt ist es aber die Distanz, so gekonnt sie auch eingesetzt wird, die dem Film zum Verhängnis wird: Ohne emotionale Verbindung zu wenigstens einer der Hauptfiguren bleiben viele der Szenen beliebig.

Laura Tamoj

 

Merle reist zur Villa ihres Freundes Romuald, an die Küste Südfrankreichs. Dieser taucht jedoch nicht auf; sie muss sich allein mit seinen Kindern arrangieren. Die 13-jährige Emma und der 16-jährige Felix heißen Merle nicht gerade willkommen. Und so bleibt ihr anfangs nichts anderes übrig, als an ihrem Buch zu schreiben. Nach einiger Zeit wandelt sich allerdings das Verhältnis der drei. An Emmas Geburtstag soll Merle eine Torte vom örtlichen Bäcker abholen. Kurz vor Ladenschluss und mit ein paar Euros zu wenig in der Tasche, macht der Ladenbesitzer ihr einen Strich durch die Rechnung. In dieser Szene zeigt Merle Stärke, bleibt trotzig an der Tür sitzen und kommt schließlich doch mit einer Supermarkt-Torte zurück. Mit dieser sitzt sie am Abend mit Emma und Felix in der Villa, als Romuald anruft. Merle entscheidet in diesem Gespräch, sich eher auf die Seite der Kinder zu schlagen, worauf Romuald offensichtlich nicht gut reagiert.

Fast dokumentarisch und fotografisch wirkt die Kamera, wenn sie in langen, stehenden Sequenzen eine stille Szenerie erkundet. Manch einer würde behaupten, es passierte in diesen Szenen nichts. Wer aber ein Faible für diesen Stil hat, genießt die kleinen Details. Ein Wasserschlauch, der im Pool hin und her schlängelt, ein fliegender Händler, der sich einen Stein aus dem Schuh schüttelt, oder ganz einfach nur eine nächtliche Straße ohne jegliche Bewegung. Wackerbarth lässt sich viel Zeit in diesem Film. So wundert es nicht, dass es nur wenige Dialoge gibt. Wenn gesprochen wird, dann erzählt es viel, manchmal zu viel, und die Worte passen übergenau. Doch was diesen Film vorantreibt und gleichzeitig so besonders macht, sind die Bilder. Beinah voyeuristisch begleitet die Kamera die Protagonistin, wenn diese ihre Sachen auspackt, nackt im Pool badet und im Badezimmer ihrer Intimrasur nachgeht. Das ist starkes Spiel von Anne Ratte-Polle, die ohne viel Ausdruck und Rede dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, die Figur kennenzulernen. Man steht zwar immer wieder vor Rätseln, was deren Persönlichkeit betrifft, aber gerade das macht sie auch interessant und verleiht dem Charakter eine gewisse Tiefe. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich auf Körpersprache und Blicke zu konzentrieren.

Franz Zimmermann

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