Schreiben über Film (1): Am Rande der Belastbarkeit
Drei kurze Kritiken aus den Sektionen Forum und Perspektive Deutsches Kino und ein 100-Wörter-Text aus dem Berlinale-Alltag zwischen Kino und Bürgeramt. Verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film: Berlinale 2023“ (Stiftung Universität Hildesheim).
Forum: Our Body

Befund: Endometriose. Nach zwei Jahren Unterleibsschmerzen erfährt eine Frau endlich, dass für ihre Beschwerden außerhalb des Uterus wuchernde Gebärmutterschleimhaut verantwortlich ist. Im Schnitt braucht es circa zehn Jahre von den ersten Symptomen bis zu einer solchen Diagnose. Eine Träne läuft der Patientin die Wange herunter, vermutlich Ausdruck von Erleichterung und Ohnmacht zugleich.
Claire Simons Dokumentarfilm Our Body (Notre corps, FR 2023) gibt Einblicke in eine gynäkologische Klinik in Paris. Was für Ärzt:innen Alltag ist, gleicht einem Ausnahmezustand für die Patient:innen, die sich und ihre Gesundheit dem medizinischen Personal anvertrauen müssen. Umso beeindruckender ist es, dass sie die Kamera an ihren emotional wie körperlich intimen Momenten teilhaben lassen. Auch die unzähligen, für Laien unverständlichen medizinischen Fachbegriffe und Abkürzungen ändern nichts an dieser vom Film ermöglichten Intimität.
In minutenlangen Einstellungen führen die Gynäkolog:innen Gespräche mit ihren Patient:innen. Keine Schnitte, die die Gespräche verkürzen, kein Voice-over, das einordnet, keine Musik, die emotional lenkt. Zu sehen und zu hören sind allein die Patient:innen und ihre Geschichten. Dass nicht alle Begegnungen in gynäkologischen Abteilungen so mitfühlend ablaufen wie die hier gezeigten, zeigen die Aufnahmen einer Demonstration, auf der Frauen von traumatischen Geburtserfahrungen sprechen. Our Body wird damit auch zum Plädoyer für längst überfällige Reformen in der gynäkologischen Versorgung, nicht nur in Frankreich.
Unerwartet biografisch wird der Film, bis dahin ein mehr oder weniger klassisches Institutionenporträt, als Regisseurin Simon Brustkrebs diagnostiziert bekommt und von der Beobachterin zur Patientin wird. Fassungslosigkeit wandelt sich bei ihr in den Wunsch, die eigene Mastektomie zur Entstigmatisierung zu nutzen. Die Nähe, die der Film zu seinem Publikum nicht zuletzt durch diese autobiografische Perspektive herstellt, ist jedoch zuweilen aufgrund der Länge in Gefahr. Mit seinen fast drei Stunden drohen die individuellen Geschichten in der Menge der sich darin spiegelnden medizinisch-technischen Themen unterzugehen. Das Mädchen aus der 11. Klasse, das ungewollt schwanger ist und abtreiben möchte – vom Erzeuger keine Spur, die Eltern enttäuscht – ist so am Ende schon fast wieder vergessen. Damit wird zugleich aber auch ein wesentliches Stück jener Realität einsichtig, die den Arbeitsalltag vieler gynäkologischer Kliniken am Rande der Belastbarkeit bestimmt.
Luca Genscher
Forum: Dearest Fiona

Fiona Tan hat in den 1980er Jahren Australien verlassen, um in Amsterdam Kunst zu studieren. Ihre Familie, die in Australien geblieben ist, hat indonesische Vorfahren. Das heutige Indonesien war zwischen 1799 und 1949 niederländische Kolonie.
Das sind die relevanten Informationen, um den grobkörnigen Bildern aus der Zeit zwischen 1915 und 1932 und den Briefen von Tans Vater aus den 1980er Jahren folgen zu können. Der historische Bogen, den Tan in ihrem dokumentarischen Essay Dearest Fiona (NL 2023) aufspannt, reicht von der Oktoberrevolution bis zum nahenden Ende der Sowjetrepubliken. Immer wieder werden in den eingesprochenen Brieftexten verschiedene historische Ereignisse erwähnt: die Expo 1988 in Brisbane, die Ereignisse um das Tian’anmen-Massaker oder das Tankerunglück Exxon Valdez.
Die Bilder, größtenteils Material aus den Archiven des Eye Filmmuseum Amsterdam, geben einen starken visuellen Eindruck von den einerseits körperlichen Entbehrungen, andererseits folkloristischen Traditionen der niederländischen Bevölkerung. Fischen mit Reusen, die Urbarmachung neuen Marschlandes, Hafenarbeit, bevor es Container gab, sowie die zunehmend industrialisierte Holzverarbeitung werden hier unter anderem gezeigt.
Die ruhigen Einstellungen und Stativaufnahmen kombiniert Tan mit einer assoziativen Soundgestaltung zu einem meditativen Sog. Einige Bilder, wie die eines Kutschers in den Dünen, erinnern an Filme von Béla Tarr oder Andrei Tarkowski. Die väterlichen Briefe sind fürsorglich und enthalten Beobachtungen zur Weltpolitik und zur Wirtschaftslage Australiens, sprechen von familiären Routinen und fragen sanft nach Fionas Leben in Amsterdam. Nahezu jeder Brief endet mit den Worten: „Much Love, Kisses, Your Pap.“
Dieser zuweilen intime Einblick in Fionas Korrespondenzen mit ihrem Vater trägt in Kombination mit dem von ihr recherchierten Material einen großen Teil des Films und baut so ein Spannungsfeld auf zwischen den Lebensentscheidungen einer jungen Künstlerin, der Biografie und Arbeit ihres Vaters und dem europäischen Weg in die hochtechnisierte Moderne mit ihren ökologisch fatalen Folgen. Aufgrund der schieren Menge der fürsorglichen Worte des Vaters und der Ruhe der Bilder der arbeitenden niederländischen Bevölkerung stellt sich zunehmend eine Entschleunigung ein, die den Zuschauer*innen auch einiges an Geduld abverlangt.
Julius Gilbert
Perspektive Deutsches Kino: Vergiss Meyn nicht

Filmstudent Steffen Meyn dokumentierte über mehrere Jahre die Besetzung des Hambacher Forstes. 2018 kam er bei der mittlerweile als rechtswidrig eingestuften Räumung durch einen Sturz ums Leben. Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff, drei Freund*innen und Komiliton*innen Meyns, stellen nun auf der Berlinale, ausgehend von dessen Recherchen, einen außergewöhnlichen Film vor. Darin gelingt ihnen nicht nur eine Hommage an Meyn, sondern auch ein sensibler Einblick in einen wichtigen Abschnitt der jungen Klimabewegung.
Zu Beginn des Filmes sind da nur die Baumkronen. Der extreme Weitwinkel, möglich durch die 360°-Helm-Kamera, die Meyn für die Aufnahmen benutzt hat, und der innovative Soundtrack (Antonia de Luca, Caroline Kox), der unter anderem Gesänge ausgestorbener Vogelarten samplet, erzeugen eine unwirkliche Naturidylle. Es ist der Moment nach Meyns Sturz, in dem die Kamera trotz aller Widrigkeiten weiterfilmt, selbst als Polizist*innen sie schon in eine Plastiktüte verpacken und konfiszieren.
Der Film folgt Meyn und seinem besonderen Aufnahmegerät, von ersten Kameratests in seiner Wohngemeinschaft bis zu seinen ersten Tagen als absoluter Neuling in der Waldbesetzung. Sehr nahe erleben wir mit, wie er lernt, in die Baumhäuser zu klettern, wie er langsam in der Gemeinschaft des Camps ankommt und sich dabei mit Fragen konfrontiert sieht, die in der Klimabewegung immer wieder aufkommen: Wie werde ich aktiv? Und wie bewege ich mich in Strukturen, in denen es keine Anführer*innen gibt, dafür aber die permanente Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Menschen und Ansichten?
Dazu kommen immer auch andere Aktivisti*innen aus der Besetzung zu Wort. Weit entfernt vom Klischee jugendlicher Unruhestifter*innen sitzen vor der Kamera junge Menschen, die verstanden haben, was für ihre Zukunft auf dem Spiel steht, wenn Klimawandel und globale Ungerechtigkeiten weiterhin systematisch ignoriert werden. Dabei haben weder die Aktivist*innen noch der Film Angst davor, auch Dissens und Probleme in ihren eigenen Strukturen offen zu reflektieren – sei es Sexismus in linken Kreisen, sei es die mit sozialen und organisatorischen Herausforderungen verbundene Gestaltung von Entscheidungsprozessen.
Auch die Räumung der Aktion durch die Polizei 2018 rollt der Film noch einmal auf. Vielfach wird von Demütigungen, Gewalt und Traumata erzählt. Meyns Kamera wird so zur Zeugin des brutalen Vorgehens der Staatsmacht gegen die Protestierenden – bevor die Presse vom Gelände verwiesen wird. Nach der Deutungshoheit über Meyns Tod greift der Film allerdings nicht. Stattdessen findet das junge Regieteam eine eigenwillige Fortsetzung seines begonnenen Filmprojekts. Vergiss Meyn Nicht ist ein Nachruf auf einen außergewöhnlichen jungen Filmemacher und ein reiches Dokument für alle, die einen differenzierten Blick auf die junge Klimabewegung gewinnen wollen.
Lun Kacirek
Niemand isst Popcorn

Vor dem Kino International tummeln sich rauchende Menschen und schwarze Mäntel. Gleich nebenan ist das Bürgeramt Berlin-Mitte. Eine darauf zusteuernde Mutter ist zu hören, wie sie zu ihren Kindern sagt: „Ach siehste, Berlinale is ja och wieder.“ Angekommen im Saal, blicke ich in rollende Augen bei dem Versuch, mich auf einen der noch freien Plätze zu quetschen. Links von mir wirft jemand einen letzten Blick in die Tageszeitung, rechts von mir bietet meine Sitznachbarin ihrer Begleitung ein „französisches Bonbon“ an und steckt die ausgedruckten Tickets fein säuberlich zurück in ihre Klarsichtfolie. Niemand isst Popcorn. Der Vorhang öffnet sich, er glitzert silbern und hat ein Loch in der Mitte.
Friederike Walzer
Foto Kino International Copyright Andreas Teich
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