Schreiben über Film (1): 100-Wörter-Texte
Sechs kurze Texte aus den Berlinale-Sektionen Wettbewerb, Panorama und Generation. Verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film: Berlinale 2025“ (Stiftung Universität Hildesheim).
Living the Land (R: Huo Ming, China 2025)

Chuangs Eltern lassen ihn im Dorf bei seinen Verwandten und ziehen in die Stadt, wo es bessere Arbeitschancen gibt. Eine Folge des sozioökonomischen Wandels. Der Film, der mit einer Beerdigung beginnt und mit einer anderen endet, hat diesen Wandel im Blick. Er zeigt die tief verwurzelten, jahrtausendealten Traditionen, an denen die Dorfbewohner festhalten. Dies wird in verschiedenen Aspekten des Alltags sichtbar: in Kinderspielen, Hochzeiten und anderen Feiern, in Ehrenkodizes und Pflichten. Während die Stadt den Fortschritt symbolisiert, bleibt das Dorf ein Ort der Tradition, wo Rituale und soziale Werte das Leben bestimmen.
Kinana Alkanatri
When Lightning Flashes Over the Sea oder „Der Krieg ist der Alltag im Ausnahmezustand“ (R: Eva Neyman; DEU/UKR 2025)

Ein Sommertag. Eine Bushaltestelle. Ein Kind zählt die Tage bis zur Geburtstagsparty. Luftballons, Kuchen, Freunde, das alles malt es sich aus. Der Wind vom Meer weht durch die Straßen. Drinnen kocht eine Frau. Sie erzählt von ihrem Sohn. Nikita ist 18. Schöne Hände habe er, schöne Augen, die Mädchen mögen ihn. Dann: eine Straße, Sommernacht. Plötzlich eine Explosion und Sirenen.
Wieder Sommertag. Das Kind spielt in einer zerbombten Kirche. Die Frau probiert die Suppe, hält das Telefon ans Ohr. Nikita ist jetzt irgendwo an der Front. Es geht ihm gut. Sie rührt weiter. Der Krieg sickert in diesem Film in jede Szene, aber niemand hält an. Das Leben kennt keine Pause. Odessa träumt, Odessa kocht, Odessa zittert; aber immer nur für einen Moment.
Béla Conteh
Christy (R: Brendan Canty; IRL/UK 2025)

Ein atmosphärisches Drama über Community und Familie. Ein labiler Jugendlicher, der sein Zuhause sucht. Und ein Bruder, der nicht weiß, wie er seine Liebe ausdrücken soll. „Fuck“ ist das häufigste Wort, gleich dahinter „grand“. In Cork fluchen selbst die Kinder. Viele Menschen auf Augenhöhe, charmante Charaktere mit einem losen Mundwerk, aber zu wenig Kommunikation. Sehr viele Fragen bleiben offen: über Männlichkeit und die Angst davor, sich zugänglicher zu zeigen. Antworten lassen sich nur erahnen, das stört aber nicht. „Rapper eignen sich als Schauspieler*innen“, sagt der Regisseur im Nachgespräch. Er hat nicht unrecht.
Fatoumata Diallo
Little Trouble Girls (R: Urška Djukić; IT/SLV 2025)

Das sexuelle Erwachen einer jungen Frau ist eine Choreografieübung, in der zarte Berührungen eine Eigendynamik und unerwartete Heftigkeit entwickeln. Der Blick auf die Leinwand ist der Blick auf einen ungelenken Körper. Auf einen blassen Bauchnabel, auf Bienen, die Blumen bestäuben, auf eine Marienstatue, auf saure Trauben, auf Lippenstift. Auf Lucia, die auf ihren eigenen Körper blickt, auf Männerkörper, auf Frauenkörper. Die Blicke dieser Protagonistin fallen in der Choreografie mit den Blicken des Publikums zusammen. Die erotische Spannung entfaltet sich im Ohr: Einatmen. Ausatmen. Atempausen beim Singen, beim Masturbieren. „Little Trouble Girls“ ist ein sehr körperliches Kinoerlebnis, das den eigenen Blick hyperbewusst macht. Und schmerzlich schön ist in seiner Rohheit.
Rosa Lobejäger
Peter Hujar’s Day (R: Ira Sachs; USA/DEU 2025)

Wie füllen meine Liebsten ihre Tage abseits der bekannten Routinen? Das fragt sich Linda Rosenkrantz 1974 in New York. Ira Sachs verwandelt die gefundenen Transkripte ihres verlorengegangenen Romanprojekts in einen berührenden Film. Ein Tag oder 75 Filmminuten in den 70ern mit Peter Hujar (Ben Wishaw) und Rosenkrantz (Rebecca Hall), zwischen Zigarettenqualm, blumenförmigen Lampen und Schallplatten. Der Fotograf Hujar erzählt von seinem vorherigen Tag und lässt dabei kein Detail, keinen Namen aus, nicht nur die von Allen Ginsberg und Susan Sontag. Ein Porträt, das einen Liebesbrief an Freundschaften in sich trägt.
Irene Rumpf
Night Stage (R: Marcio Reolon, Filipe Matzembacher; BRA 2025)

Gleich zu Beginn von „Ato Noturno“ ein Blick in die Kamera. Sie wissen, dass wir zuschauen. Als Matias und Rafael sich kennenlernen, leben sie intensiv eine gemeinsame Vorliebe aus: Sex in der Öffentlichkeit. Aber sie sind auch Personen des öffentlichen Lebens, können sich ihre Rollen nicht unbedingt aussuchen und verhalten sich so, wie andere es von ihnen erwarten. Es tut weh, auch dann zuschauen zu müssen, wenn sie ihre queere Identität immer mehr verleugnen. Aber bekommt man das Herz nicht gerne gebrochen, wenn der Schmerz von so schönen Neonlichtern begleitet wird?
Isabella Stechel-Marceddu
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