Schreiben über Film (1): 100-Wörter-Texte
Miniaturen zum Festival. Acht kurze Texte über Filme des aktuellen Berlinale-Programms, verfasst von Studierenden des Seminars „Schreiben über Film – Berlinale 2014“ (Stiftung Universität Hildesheim).
Laborat (2014, Regie: Guillaume Cailleau; Berlinale Shorts Wettbewerb)

Unter der Makrolinse des Objektivs liegt eine betäubte Maus auf einem Brett. An ihrem Hals fehlt ein Stückchen Haut, ein Blutstropfen rinnt langsam ihren rasierten Körper hinunter. Das Bild wird unscharf, und eine Messerklinge kommt in den Schärfebereich. Der Körper der Maus bewegt sich schnell auf und ab. Aus dem Off der Kommentar: „Makroobjektiv, Nurton – Arme Maus wird aufgeschlitzt.“ Eine Frau im Saal sagt: „Wie könnt ihr da lachen?“ Das Messer erreicht den Bauch des Mäuschens, die Klinge wird angesetzt, Schnitt. Gedärme quellen in Richtung Kamera. Die Maus bewegt sich nicht mehr. Noch ein Kommentar: „Nurton – Atmo-Versuchslabor.“
Johanna Baschke
She’s Lost Control (2014, Regie: Anja Marquardt, Forum)

Irgendwo in einem Hotelzimmer einer amerikanischen Großstadt sieht Ronah Johnny in die Augen und berührt vorsichtig seine Unterarme. Die junge Frau arbeitet therapeutisch mit Männern, die Schwierigkeiten mit Intimitäten haben. Mit Johnny verändert sich diese Arbeitssituation, das Rollenverhältnis gerät ins Wanken. Ronahs Motivation und ihre konkrete Arbeitsweise bleiben ungeklärt. Spannung entsteht allein durch den im Titel angekündigten Kontrollverlust, der lange auf sich warten lässt. Die Figur legt die Maske der Professionalität selten ab und bleibt deshalb weitgehend undurchsichtig. Dies ist ein Film über Einfühlungsvermögen, der es den Zuschauern verwehrt, Empathie mit den Figuren zu entwickeln.
Julia Büttner
Blind (2013, Regie: Eskil Vogt, Panorama)

Ingrid ist blind. Die Tage verbringt sie zu Hause. Man sieht sie oft am Fenster sitzen. Dort, in der Dämmerung, entstehen Geschichten, die Ingrid auf die filmische Leinwand projiziert: Es sind Geschichten vom Gesehenwerden und vom Unsichtbarbleiben – Geschichten von Elin, Einar, Morten und von ihr selbst. Der Film Blind von Eskil Vogt handelt vom Akt des Erzählens. Die Imagination Ingrids lässt unerwartete und schnelle Wendungen zu. Mal sitzt Einar im Zug, mal im Café. Mal hat Elin einen Sohn, mal eine Tochter. Mal chattet Morten mit einer anderen, mal schaut er Ingrid verliebt hinterher. Essayistisch sortiert sie die Bilder zu- und umeinander: Ingrids Geschichte ist eine, die das Medium Kino schreibt.
Silvia Dudek
Blind Dates (Shemtkhveviti paemnebi, 2013, Regie: Levan Koguashvili, Forum)

Zwei erwachsene Männer sitzen rauchend in zwei kleinen blauen Schiffchen auf einem rostigen Eisengestell. Hinter ihnen rauscht das Meer. Sandro und Iva sind Freunde, vierzigjährige Jungen, die mit Vaters Auto raus an den Strand fahren, Fußball spielen, herumtollen und georgischen Wodka trinken. Sandro hat ein Problem. So sehen es zumindest seine Eltern. Er ist: Lehrer, lethargisch, ledig. Verliebt ist Sandro auch. Doch er verhält sich still, wartet ab, lässt die Dinge geschehen. Eingehüllt in gelb getönte Melancholie erzählt Shemtkhveviti paemnebi mit Humor und Sinn für Skurrilität eine Geschichte der Emanzipation vom eigenen Glück.
Dennis Kopp
Snowpiercer (Seolguk-yeolcha, 2014, Regie: Bong Joon-ho, Forum)

Durch eine menschengemachte Eiszeit ist die Erdoberfläche unbewohnbar geworden, die einzigen Überlebenden fahren in einem riesigen Zug im pankontinentalen Loop um die Erde. Schwerbewaffnete Soldaten schikanieren die schmuddeligen Passagiere der letzten Klasse, alle essen braune Proteingeleeblöcke. Curtis zählt die Sicherheitsschleusen zum vorderen Teil des Zuges, Kinder werden dahin deportiert, Tilda Swinton trägt als knallharte Kommandeurin Omabrille und Gebiss zur weißen Uniform, ein Arm wird abgefroren, die Revolution beginnt, ein Waggon voll maskierter Lederjackenträger mit Äxten voll Fischblut. Danach Tunneleinfahrt, Nachtsichtgeräte, Menschenblut, Fenster, Neujahr, Eier, Party, Pelze, Drogen, Gewalt, Gewalt. Dann kommt Ed Harris. Was für ein Film.
Anton Rose
Güeros (2014, Regie: Alonso Ruíz Palacios, Panorama)

Federico hat Panik vor Tigern, vor der noch nicht geschriebenen Abschlussarbeit, vor den Kakerlaken in seinem Zimmer. „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe, und hinter tausend Stäben keine Welt“, sagt Anna einmal. Die Uni wird bestreikt, Federico ist hoffnungslos in Anna, die Protestführerin, verliebt und streikt trotzdem mit seinem Mitbewohner gegen den Streik. Alles wird anders, als sein kleiner Bruder Tomás von der überforderten Mutter in die Studentenbude strafversetzt wird. Tomás zwingt die Jungs zu einem Ausflug in die Stadt. Auf der Suche nach dem vergessenen Folk-Helden Epigmenio Cruz gerät so manches in Aufruhr, was die kleinen großen Sorgen wieder erträglich macht. Zwischen Hommage an die Nouvelle Vague und ganz gewöhnlichem Studentenelend besticht dieser kleine Film mit Witz und Herzlichkeit.
Lea Schlude
Das große Museum (2014, Regie: Johannes Holzhausen, Forum)

Am liebsten würde Regisseur Johannes Holzhausen alle Schätze zeigen, die in den Räumen des Kunsthistorischen Museums in Wien lagern. Doch es gibt zu viele davon. Fünfzehn Monate lang begleitete der studierte Kunsthistoriker die Museumsmitarbeiter beim Umbau ihrer Institution. Dabei ist ein charmantes Porträt entstanden, das detailreich und mit verhaltener Ironie einen Einblick in den Museumsbetrieb gibt. Da ist der Historiker, der in seinen Antworten stets sehr weit ausholt. Die Restauratorin, die ein Gemälde nur für halb echt hält. Und der Manager, der immer wieder an den Budgets herumstreicht. Wenn dieser Film ein wenig brav erscheint, könnte das auch daran liegen, dass Regisseur Holzhausen in diesem Betrieb ein guter Gast bleiben wollte.
Maximilian Schmidt
Das große Museum (2014, Regie: Johannes Holzhausen, Forum)

Eine Frau schaut zur Decke. Zugleich ertönt ein mechanisches Surren, woraufhin vom unteren Bildrand ein Männerkopf ins Bild fährt. Ein Museumsmitarbeiter auf einem Hubwagen kommt zum Vorschein. Die Frau folgt seinem Handeln aufmerksam. Er hebt vorsichtig eine der weißen Deckenplatten an und verkündet seiner Kollegin die Ausbeute der Jagd: sechs Motten in dieser Falle. Seine Kollegin notiert. Der Mitarbeiter schließt die Deckenplatte und fährt wieder herunter. So gehen die beiden jede einzelne ausgelegte Falle im Museum durch und halten die Anzahl der Beute akribisch, wie vorgeschrieben, auf Papier fest. Motte für Motte, Flur für Flur.
Laura Tucholski
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