Schatten auf der Sonne – Die Filme von Michael Mann
Das Berliner Arsenal zeigt im September alle Kinofilme von Michael Mann. Sein sich über vier Dekaden spannendes Werk vereint schamloses Pathos und obsessive Melancholie, und bietet zwischen Analog-Filmleuchten und HD-Handkamera nebenbei eine Technikgeschichte des Kinos.

Eine Limousine rast einen nächtlichen City Highway entlang, dann erspäht der Fahrer im dichten Verkehr das gesuchte Kennzeichen, stellt ein rot blinkendes Signal an, das rhythmisch auf seinen angespannten Gesichtszügen reflektiert. Beide Wagen fahren nun rechts ran. Lieutenant Hanna (Al Pacino) steigt bedächtig aus, beugt sich, den Revolver locker in der Hand, zum Fahrerfenster des überrumpelt wirkenden Gangsters McCauley (Robert De Niro) hinunter. Sie beschatten sich schon seit geraumer Zeit gegenseitig, doch so nah waren sie sich noch nie. McCauley plant mit seiner eingeschworenen Crew ein großes Ding. Hanna weiß das, bloß noch nicht, wann und wo. Und so hat auch McCauley Hanna im Auge. Doch statt jetzt Waffen oder Handschellen zu zücken, gehen sie gemeinsam einen Kaffee trinken.

Dort spielen sie weiter ihr Spielchen, checken aus, wie der andere so tickt, ganz in Ruhe und mit gegenseitigem Respekt voreinander – fast wie bei einem Date. Die schräg hinter ihren Schultern positionierte Kamera ist ganz auf Intimität eingestellt, registriert das merkwürdige Wechselspiel der Darstellerikonen genau. Der sie umgebende Raum wird zur Nebensache, sie bilden einen eigenen, in sich geschlossenen Kosmos. Wie Monaden schweben sie inmitten des unübersichtlichen Großstadtmolochs, der uns aus der Luft immer wieder als ein Ort sich kreuzender Schicksale und Interessen erscheint.

Dass der eine ein Gesetzeshüter, der andere ein Gesetzesbrecher ist, ist hier kein Anlass für moralische Exkurse. So will der good guy den bad guy gar nicht auf den rechten Pfad bringen. Beide sind sie gleichermaßen Getriebene, Profis, in dem, was sie tun, auch wenn sie nicht wissen, wozu es eigentlich gut ist. Gemein ist ihnen auch die Angst vor dem Stillstand. Hanna: „So you never wanted a regular type of life?“ McCauley: „What the fuck is that? Barbecues and ball games?“

Lange wird ihr abseitiges Leben nicht gut gehen; früher oder später treffen sie erneut aufeinander, und dann geht es um Leben oder Tod: Eine drastische, kinetisch aus dem Bildkader herausbrechende Straßenschlacht lässt kurze Zeit später bis auf die Zähne bewaffnete Bankräuber und hastig zur Barrikade zusammengeschobene Polizeiautos in einem choreografierten Chaos ständiger Einstellungswechsel und Mündungsfeuer aufeinanderprallen. Es ist die zentrale der drei, dem Film seine innere Struktur gebenden Schießereien, und sie dürfte sich bei jedem ins Gedächtnis eingebrannt haben, der Michael Manns kühle L.A.-Crime-Saga Heat (1995) auch bloß im Heimkino gesehen hat.
Wechselnde Apparate, bleibende Obsessionen

Das Kino des Big-Budget-Professionals Michael Mann, bevölkert von (anti-)heldischen Professionals wie Hanna und McCaulty: Das Berliner Arsenal zeigt vom 11. bis zum 30. September in der Retrospektive „The Professional“ alle von Manns zwischen 1979 und 2015 entstandenen Kinofilmen, und zwar (abgesehen von seinen beiden jüngsten) auf 35mm-Kopien. Das ist für Filmmaterial-Sensibilisierte vielleicht noch reizvoller als bei anderen Reihen, da man hier innerhalb eines recht schmalen Œuvres dem Ineinander von Digital- und Analogtechnik sowohl produktions- als auch rezeptionstechnisch nachspüren kann.

Denn Mann geht mit der Zeit, ist ausgesprochen aufgeschlossen, was neue Technologien anbelangt: Ali (2001) und Collateral 2004) fahren noch zweigleisig, das heißt, sind produktionsseitig Hybride. Im Fall von Collateral heißt das grob gesagt: analoger, lichtsensibler Tag; digitale, ohne große Beleuchtungsmaschinerie auskommende Nacht (prägnant nachzulesen in Simon Rothöhlers Band High Definition: Digitale Filmästhetik). Miami Vice (2006) ist dann wiederum einer der ersten komplett digital gedrehten, jedoch notwendigerweise noch analog projizierten Kinoblockbuster. Für Mann ist dieser Technik-Shift nicht bloß eine logistische und ökonomische Umstellung, das Digitale vielmehr neues, zu eroberndes Terrain. Und es gibt wohl kaum einen anderen Filmemacher im Produktionssegment dreistelliger Millionenbeträge, der die technischen Gegebenheiten so überzeugend in eine ästhetische Agenda übersetzt hat. Dante Spinotti, einer von Manns bevorzugten Kameramännern, beweist, dass dies auch personell zusammenläuft: erhabenes, romantischen Bilderwelten entliehenes Analogfilm-Leuchten in den 1990ern (The Last of the Mohicans, 1992), nächtlich tiefenscharfe HD-Handkamera-Touren, die uns alle möglichen Details präsentieren, im neuen Jahrtausend (Public Enemies, 2009).
Allen Mainstream-Erfordernissen zum Trotz ist Mann andererseits auf fast schon unheimlich stringente Weise seinen Obsessionen treu geblieben. Das heißt wiederum auch, dass er in gut vierzig Jahren lediglich zwölf mit Stars gespickte, größtenteils selbst produzierte und (mit-)geschriebene Boxoffice-Hits, aber auch den ein oder anderen Flop ins Kino brachte.

Parallel- und Schattenwelten, Einzelgänger und Gegenspieler, Naturpanoramen und Skylines, äußere Zwänge und private Missionen, Ausstattungsakribie und Pulp-Fantasien, Charthits und funkelnde Neonmeere, üble Visagen und schöne Frauen… In Manns Filmkosmos, der vor allem ein Männer-Kosmos ist, gibt es eine Art innere Logik. So führt letztlich ein Weg vom stoischen lonely runner in The Jericho Mile (1979), der es im Knast sich selbst, nicht aber den anderen beweisen will, über den auf Politik und Marketing pfeifenden Ali bis hin zum Hackerprofi mit Staatsauftrag in Blackhat (2015), dessen Kompass in einer globalisierten Cybercrime-Welt lediglich das eigene Rachegefühl ist.
„Life is short, time is luck.“

Auch der Heist-Spezialist McCauley in Heat ist bereits ein Wiedergänger des machohaft ruppigen Safeknackers Frank (James Caan), Naturgewalt in Manns erstem richtigen Kinofilm Thief (1981). Erzählen bedeuten für Mann von hier an: Breite Formate und wuchtige Scores. Dem zwei Jahre zuvor entstandenen Sport- und Gefängnisdrama The Jericho Mile, das es trotz eng kadrierter Fernsehbilder bis in europäische Kinosäle schaffte, fehlt noch das Epische. Erst die in neonlichterner Nacht funkelnden und von Tangerine Dreams Sphärensound getragenen Tableaus von Thief etablieren diese ausgreifende, aufreizende und irgendwie gespenstische Welt, der wir auch später immer wieder begegnen werden.

In dieser Welt trägt Frank, der in die Jahre gekommene Ex-Sträfling mit Autohändler-Tarnung, die teuersten Seidenhemden und fährt die schnellsten Karren, sehnt sich aber eigentlich nach dem schnöden bürgerlichen Leben, das heißt, nach Frau, Kind und der Villa in den Suburbs. Dafür auserkoren hat er Jessie (Tuesday Weld), die er im Diner – ein weiteres denkwürdiges Kaffee-Date – für die gemeinsame Zukunft „gewinnen“ will. Denn tatsächlich hört sich sein Plädoyer, in dem sich offenbartes Innenleben eigenartig mit aufdringlicher Zukunftsvision vermischt, wie ein Deal an, den Gangster aushandeln. Sie willigt ein, denn auch ihr Leben ist nicht so, dass sie es bis zum Rest ihrer Tage so verbringen möchte. Von wirklicher Liebe oder gar Zärtlichkeit zeigt uns Thief kaum etwas. Wie im klassischen Noir wird sie nur im Dialog hier und da beschworen. Es ist eine brutale, bezaubernd aussehende Welt voller Arschlöcher, seien sie nun Diamantendiebe, Gangsterbosse oder folternde Detectives. Der Ex-Einzelgänger will nur noch raus da. In Heat sagt McCauley zu einer Frau, die ganz unverhofft in sein Leben tritt: „Life is short, time is luck.“

Dieser Satz fällt knapp zehn Jahre später auch in Miami Vice, Manns großem, vor Popmusik und Pathos nur so strotzendem Update der gleichnamigen TV-Erfolgsserie aus den 1980er Jahren, die er bereits als ausführender Produzent mitgeprägt hatte. Dort vertickt die Aryan Brotherhood in der glitzernden Küstenstadt im großen Stil Koks; die Lifestyle-erprobten Cops Sonny (Colin Farrell) und Ricardo (Jamie Foxx) bekommen so ihren herbeigesehnten Undercover-Auftrag. Sonny aber gefährdet die Mission, heizt mit der rechten Hand von Kartellboss Montoya, der schönen Isabella (Li Gong), über das tiefblaue Meer nach Kuba, tanzt eng umschlungen mit ihr, sie landen im Bett. Und ihre Körper ziehen sich auch nach der ersten gemeinsamen Hotelnacht noch wie magnetisch an. Die riskanten Grenzüberquerungen, von denen die crime story erzählt, sind nun auch privat geworden.
Das Leben von Manns Professionals scheint häufig dann aus den Fugen zu geraten, wenn ihr Workflow von der Liebe, oder zumindest von der Idee eines anderen Lebens, durchkreuzt wird. Gleichzeitig nehmen sie die Störungen in Kauf, wollen nicht einfach weiter wie geölte Maschinen vor sich hin funktionieren – eine allgegenwärtige Melancholie.
„You’ve seen these films! Haven’t you?“

In der Schlüsselszene von Manhunter (1986) fällt es dem Profiler (William Peterson) wie Schuppen von den Augen: Er sieht auf einem der VHS-Home-Movies das, was auch der Home-Invader wieder und wieder gesehen haben muss, bevor er diese nichtsahnenden Familien auslöschte. Der Zündstoff für die Mordphantasien des „Tooth Fairy Killers“ ist die Schaulust, das Hineinträumen in Bilder, die ihm nicht gehören. Auch Manns Kino lässt Träume aufblitzen, die größer, schöner, aufregender sind als das, was man sonst so sieht. Und er lässt sein Publikum ungern im Dunkeln, spart nicht aus, staffiert stattdessen aus. Es ist ein Kino, das ganz auf Sichtbarkeit baut.

Dass gerade die Gefühle so offen zutage liegen, scheint mit einer Haltung gegenüber dem Geschichtenerzählen verbunden zu sein, die sich nicht darum schert, ob die Dinge nun besonders clever oder subtil daherkommen. So schwappt einem das Pathos einer innigen Liebesumarmung vor bläulich glitzerndem Wasserfallgetöse quasi von der Leinwand aus entgegen (The Last of the Mohicans). Oder wir werden Zeugen größter Intimität, wenn der siegreiche Duellant dem durchlöcherten Verlierer bis zu dessen Tod die Hand hält (Heat). Häufig funktionieren diese soghaften Stimmungsbilder wie Musikclips: „And I can tell you why / people die alone / I can tell you / I'm a shadow on the sun.“ Audioslaves Song „Shadow on the Sun“ setzt da ein, wo Tom Cruises roboterhafter Hitman in Collateral auf einen anderen einsamen Jäger trifft, einen über die nächtlichen Großstadtstraßen huschenden Kojoten. Man könnte über diese Sentimentalitäten vielleicht hier und da schmunzeln, weitaus schöner ist es aber, sich auf sie einzulassen.

Der Wille zum Eindringlichen geht so weit, dass der globalisierte Hacker-Thriller Blackhat, Manns hoffentlich bloß vorläufig letzter Film, nicht darauf vertraut, abstrakten Nullen und Einsen die ganze Action zu überlassen. So setzt der Film in guter alter Manier auf zerberstende Oberflächen, lapidar im Kugelhagel und Schnittstakkato zu Boden gehende Körper, auf eine Reaktor-Expedition bei drohender Kernschmelze und ein Hackergenie, das man äußerlich eher den Navy Seals zuschlagen müsste. Berauschend ist auch das Intro des Films: Ein rasanter Flug durch ein labyrinthisches System aus düsteren Schächten und Gängen, vorbei an bläulich zuckenden Blitzen, etwa so, wie damals die X-Wings durch den Death Star rauschten. Das Ganze ist hier aber das Innere eines Computersystems: Wir sind „hautnah“ dabei, wie ein chinesisches Atomkraftwerk gehackt wird. Eine an sich intellektuell wie technisch hoch vermittelte Prozedur, umgemünzt zum immersiven CGI-Spektakel.
„The whole world’s on fire, isn’t it?“

Ähnlich wunderlich ging es schon in The Keep (1983) zu. Dessen opulente Studiooptik schmiegt sich sympathisch ans Effektkino der 1980er an und ist darin womöglich die Antithese zum lakonischen, die Reize seines zwielichtigen Noir-Chicagos ganz auskostenden Thief. In Manns zweitem Kinofilm wird das Rumänien des Jahres 1942 zum Märchenland: Wehrmachtssoldaten quartieren sich in einer archaischen Felsfestung ein, die wie ein Monolith aus einer kargen Dorfeinöde emporragt. Dieser Steintresor sieht erst einmal so aus, als würde er einen Schatz beheimaten, doch die Nazischergen müssen schnell feststellen, dass hier vielmehr etwas davon abgehalten werden soll, herauszukommen: ein Rachegeist, eine Art Golem, der es auf das Böse (im Menschen) abgesehen hat, bald jedoch keine Unterschiede mehr kennt.

Angeblich war der knapp hundertminütige Film ursprünglich dreieinhalb Stunden lang. Entsprechend wirr ist die Produzentenintervention geraten; den zerpflückten Mittelteil kapiert man eigentlich überhaupt nicht. So muss man sich eben von den Atmosphären treiben lassen: enge, spinnwebverhangene Gänge, bläuliche Nebelschwaden und Special-Effect-Blitze, Fönfrisuren, eine sich nach und nach materialisierende Entität sowie die stets unterhaltsame Melange aus Nazismus und Mystizismus. The Keep lässt unterhalb seiner exzentrischen Oberfläche nur erahnen, was er mit Filmen wie The Last of the Mohicans, Ali und Public Enemies gemeinsam hat: Es sind nicht zuletzt period pieces. In ihnen scheinen die großen Menschheitskonflikte am Horizont auf, aber die kleinen, darin eingeschlossenen Dramen interessieren viel mehr.

„The whole world's on fire, isn't it?“, fragt die verzweifelte Cora (Madeleine Stowe), Tochter eines britischen Colonels, Hawkeye (Daniel Day-Lewis). Er ist der Weiße, den der letzte Mohikaner-Häuptling aufzog und der sie nun vor den Huronen-Indianern bewahrte. In Nordamerika wütet ein Krieg zwischen Briten, Franzosen und ihren Indianersöldnern; der sogenannte French Indian War von 1757, der entscheidend den Lauf der amerikanischen Geschichte beeinflussen sollte. Das große Ganze wird jedoch im Angesicht der Liebe zwischen Cora und Hawkeye ganz klein – eine Symphonie aus schmachtenden Blicken, die noch die drastischsten Schlachtenszenen und Patriotismen übertönt.

Auch in den Biopics Public Enemies und Ali, die sich entlang US-amerikanischer Zäsuren entspinnen – konkret der Großen Depression sowie der Bürgerrechts- und Anti-Vietnamkrieg-Bewegung – rücken die Gesichter von John Dillinger (Johnny Depp) und Muhammad Ali (Will Smith) manchmal so nah an uns heran, dass wir hinter ihren unsteten Fassaden die Rast- und Ruhelosigkeit förmlich greifen können. Die Kinokörper erzählen ihre eigenen Geschichten. Der oscarprämierte The Insider (1999) ist demgegenüber Manns einziger Film, der uns etwas geschwätzig eine Message referiert und Wert darauf legt, „seriös“ zu wirken. Dabei sind seine Filme doch immer dann am besten, wenn sie die Kinetik sprechen lassen.
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