Rotterdam Film Festival 2019: Sehtagebuch
Wenn das Begehren mit der Wirklichkeit kollidiert: Über drei Filme aus Rotterdam, in denen die jungen Helden erfahren, dass man weniger der herrschenden Moral als dem eigenen Körper vertrauen muss.
Ein existenzerschütternder Schmerz: Genèse

Nach dem Screening von Genèse bin ich erstmal richtig schlecht gelaunt. Das heißt nicht, dass der Film nicht super ist, aber die Beharrlichkeit, mit der der kanadische Regisseur Philippe Lesage seinen jungen Protagonisten das Glück verweigert, grenzt schon an Grausamkeit. Bevor im Epilog noch einmal das Motiv der unerfüllten (oder hier: vorzeitig abgebrochenen) Liebe neu durchgespielt wird, geht es um zwei Geschwister, die parallel zueinander ihr Glück suchen, ohne es zu finden. Während Guillaume im Internat mit dem Dilemma ringt, dass er sich in seinen besten (heterosexuellen) Freund verliebt hat, ist seine Schwester zwar schon im Beziehungsalltag angekommen, schafft es aber nicht, Sehnsucht und Wirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen.
Genèse vereint auf sehr eigene Weise trockenen Humor, melancholische Poesie und aufrichtige Anteilnahme. Und er beherrscht die Gratwanderung, dem Zuschauer zwar oft das Nächstliegende vorzuenthalten, ihm dabei aber keine frustrierende, sondern stets teasernde Erfahrung zu bescheren. Toll ist vor allem auch Théodore Pellerin als Guillaume, der zunächst noch als Klassenclown mit Imitationen und sarkastischen Kommentaren sein komisches Talent unter Beweis stellt, bevor ihm bewusst wird, wie sehr das alles nur Fassade ist und er schließlich im Sturzflug einen Abstieg in der schulischen Hackordnung hinlegt.
Obwohl es so gnadenlos zugeht in Genèse, wirkt er nicht sadistisch. Es gibt viele Filme, denen es gelingt, die ersten Erfahrungen in der Liebe ernst zu nehmen. Aber oft schwingt dabei zugleich die erwachsene Perspektive mit, bei der man als Zuschauer zwar mitfiebert, aber zugleich auch um die ichbezogene, auch ein bisschen komische Theatralität Jugendlicher weiß. Lesage geht dagegen einen Schritt weiter, meint es noch sehr viel ernster als die anderen. Die Tränen, die hier fließen, sind nicht die eines Kindes, das ausnahmsweise mal nicht bekommt, was es will, sondern Ausdruck eines existenzerschütternden Schmerzes, der für immer seine Spuren hinterlassen wird.
Nur der Körper sagt die Wahrheit: Memories of My Body

In seinem neuesten Film widmet sich der indonesische Regisseur Garin Nugroho (Opera Jawa) in vier Episoden der Kindheit und Jugend des Choreografen Rianto – eines modernen Vertreters des traditionellen, von weichen Handbewegungen geprägten Tanzes Lengger. Statt Erzählstränge immer geschmeidig zu Ende zu bringen, arbeitet Nugroho dabei oft mit harten Übergängen. Besonders wenn Rianto selbst immer wieder als Erzähler auftritt, seine allegorisch verklausulierten Monologe ans Publikum richtet und sie mit stilisierten Gesten untermalt, verleiht das Memories of My Body eine verfremdend wirkende Künstlichkeit.
Zugleich ist es aber ein zutiefst fleischlicher Film, schon deshalb, weil er das Heranwachsen seines Protagonisten Juno über dessen Körper erzählt. Seine physische Empfindsamkeit weiß der Junge etwa zu nutzen, wenn er die Hühner der Nachbarn mit seinen Fingern penetriert, um voraus zu sagen, wann sie Eier legen werden. Und er bekommt diese Empfindsamkeit schmerzhaft zu spüren, wenn seine Mutter ihn dafür bestraft, indem sie seine Fingerkuppe mit einer Nadel traktiert. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt muss Juno erfahren, dass sein Körper bestimmten äußeren Regeln gehorchen muss.
So ist er zwar ein Mann, aber weil er auch Männer begehrt, muss er manchmal in die Rolle der Frau schlüpfen. Deutlich wird das beispielsweise im Herzstück des Films, einer Szene, in der – der nun für einen Schneider arbeitende – Juno einem Boxer das bestellte Hochzeitsgewand liefern soll. Gerade durch die vorsichtigen Umwege, die gefunden werden müssen, um sich langsam anzunähern, entsteht eine ungemeine erotische Spannung. Weil der Boxer nicht aus der Region kommt, muss er sich beim Ankleiden helfen lassen, was auch ein Vorwand ist, um berührt zu werden. Und weil er auch die Tracht seiner zukünftigen Frau sehen möchte, soll Juno sie eben kurz anprobieren, was dann wie eine symbolische Hochzeit wirkt. Auch im übertragenen Sinn handelt dieser Moment von einer Verkleidung: Während die Sprache ein Verkaufsgespräch vortäuscht, lassen die Körper keinen Zweifel daran, dass es sich hier um eine Liebesszene handelt.
Ein sehr starkes Gefühl: Hombres de piel dura

Es dauert nicht lange, bis die ersten Zuschauer die Vorführung verlassen. Bevor meine Sitznachbarin die Flucht ergreift, flüstert sie ihrem Freund noch „It’s sooo bad“ ins Ohr. Zugegeben, die Ästhetik von José Celestino Campusanos Hombres de piel dura (übersetzt etwa: Männer mit dicker Haut) ist etwas gewöhnungsbedürftig. Die Figuren – zumindest teilweise von Laien verkörpert – sprechen die immer sehr direkt und dadurch auch etwas plump klingenden Dialoge mit einer Mischung aus darstellerischer Unsicherheit und melodramatischer Emphase. In Verbindung mit der auffällig schmucklosen Inszenierung wirkt das manchmal wie die Arthouse-Version einer Seifenoper. Allerdings verbirgt sich hinter der bescheidenen Inszenierung ein grobes Porträt verschiedener Outcasts, das nichts beschönigt und seine Widersprüchlichkeit stolz nach außen trägt.
Hombres de piel dura erzählt von dem jungen Ariel (es wird, glaube ich, nie gesagt, aber ich würde ihn auf 15, 16 schätzen), der in einer ländlichen Welt, die von der Übermacht der Kirche und archaischen Rollenbildern geprägt ist, sehr fordernd nach Liebe und Sex sucht. Nachdem ein deutlich älterer Priester mit ihm Schluss macht, findet er neue Partner: einen Handwerker seines Vaters, ein paar Männer aus der heimischen Cruising-Szene und schließlich einen „Macho“, der ihn als Ersatz braucht, weil ihn die Frauen wegen seines künstlichen Darmausgangs verschmähen.
Campusano interessieren vor allem die Grauzonen von sexuellen Beziehungen, bei denen man wegen der Alters- oder Klassenunterschiede nie so genau sagen kann, ob es sich hier nicht doch auch um eine Form von Ausbeutung handelt. So wird der Priester zwar als übergriffiger Pädophiler gezeigt, seine Beziehung mit Ariel aber wiederum als eine auf Augenhöhe. Der Film ist voller solcher verunsichernder Momente, die sich moralisch nicht mehr eindeutig kategorisieren lassen. Aber auch wenn der Junge teilweise Dinge tut, von denen man ihm gerne abraten würde, ist dabei doch immer klar, wie selbstbestimmt er handelt. Als Ariel am Schluss wegen seines ausschweifenden Sexlebens vom konservativen Vater aus dem Haus geworfen wird, sagt er eher lakonisch erklärend als entschuldigend: „Ich spüre eben dieses sehr starke Gefühl in mir.“
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