Rotterdam 2018: Sehtagebuch
Wie umgehen mit dem Schmerz, wenn kein Ende in Sicht ist? In den neuen Filmen von Susanna Nicchiarelli, Andrew Haigh und Paul Schrader müssen sich die Helden in den Trümmern ihrer Existenz zurechtfinden.
Nico, 1988

So intensiv, wie Philippe Garrel in seinen Filmen das Verhältnis zu Nico aufgearbeitet hat, braucht es vielleicht gar kein Biopic mehr über die deutsche Sängerin mit dem Hang zu Schwermut und Heroin. Wobei sich Nico, 1988 eben nicht an einem ganzen Leben abarbeitet, sondern den Blick auf eine bestimmte Zeit verengt; etwa so, wie er auch seine Bilder fast quadratisch zusammenstaucht. Abgesehen von ein paar kurzen apokalyptischen Kindheitsmomenten aus dem Dritten Reich interessiert sich die italienische Regisseurin Susanna Nicchiarelli vor allem für die die letzten beiden Lebensjahre. Die Zeit als Model in Paris ist längst vorbei, die New Yorker Jahre mit Warhol und Velvet Underground ebenso, und auch der Ruhm – wenn man den kleinen Erfolg einer derart spröden Künstlerin überhaupt so nennen kann – ist verblasst. Ausgehend von einer Clubtour durch Europa schafft der Film in eher statischen Szenen ein Spannungsfeld, in dem die Gewissheit, dass man mit diesem kaputten Körper keine Karriere mehr bestreiten kann, mit der leisen Hoffnung auf ein Comeback ringt.
Schade ist, dass der Film sich ausgerechnet, wenn er sich vom Faktischen wegbewegt, einiges von Nicos unvergleichlicher Sonderbarkeit entgehen lässt. Zwar gelingt es der sonst stärker aufspielenden Dänin Trine Dyrholm, ihr Ausdrucksrepertoire auf ein Minimum zu reduzieren, aber wenn sie auch noch die Lieder selbst singt, klingen diese teilweise so glatt, dass man gar nicht mehr versteht, warum diese Musikerin einmal umstritten war. Als Huldigung einer Phase, in der Nico schon von dem meisten abgeschrieben wurde, ist der Film aber dann doch ganz schön. Schon allein deshalb, weil er die meiste Zeit im Unklaren lässt, wo er eigentlich hinwill. Statt den großen Ausbruch zu suchen, kultiviert er lieber eine konstante innere Anspannung.
Lean on Pete

Charley (Charlie Plummer) ist zwar erst 15, aber sein Leben liegt schon in Trümmern. Bereits zu Beginn von Lean on Pete hat der Junge nicht mehr als einen kargen Holzverschlag als Zuhause und einen Vater, der es gut meint, aber nicht mal sein eigenes Leben auf die Reihe bekommt. In seiner Adaption des gleichnamigen Romans von Willy Vlautin bleibt Regisseur Andrew Haigh seinem entschleunigten, immer auch dezent stylishen Sozialrealismus aus Filmen wie Weekend und 45 Years treu. Wenn der Junge in einem unbrauchbar gewordenen Rennpferd seinen Seelenverwandten findet und während seiner Reise durch den Westen der USA immer tiefer in der gesellschaftlichen Hierarchie absteigt, hat das jedoch wenig mit Miserabilismus zu tun. Oft sind es nur kleine Ereignisse – ein Strahl der Abendsonne, die Solidarität einer Kellnerin, die Gastfreundschaft einer Gruppe ruppiger Kriegsveteranen –, die dem Film eine Poesie des Beiläufigen verleihen. Die Story liefert Stoff für ein Melodram, aber Haigh wahrt stattdessen immer ein wenig Distanz; ist eher am sozialen Panorama eines abgehängten Amerikas interessiert als am persönlichen Schicksal.
Lean on Pete zeigt eine Welt Unterprivilegierter, in der jedes Lebewesen nach seiner Brauchbarkeit beurteilt wird. Ob ein halbseidener, von Steve Buscemi gespielter Pferdecoach oder ein Alkoholiker, der in einem Wohnwagen haust, Charleys Weggefährten haben sich zwar einen Rest an Herzlichkeit bewahrt, brauchen am Ende aber doch jemanden, den sie ausbeuten können. Der Junge wirkt so herzensgut, als könnte er sich nie an dieses System gewöhnen. Er verliert zwar im Laufe des Films gewissermaßen seine Unschuld, aber er lässt sich nie so weit korrumpieren, dass er sein Glück auf dem Leid eines anderen gedeihen lassen muss. Und doch ist da etwas in Plummers androgynem, aber auch schon ungewöhnlich reifem Gesicht, das ihn davor bewahrt, zur menschelnden Nervensäge zu werden. Etwas Unergründliches, so als würden Dämonen in ihm hausen, denen es aber nie gelingt, von ihm Besitz zu ergreifen.
First Reformed

Paul Schraders neue Regiearbeit wagt sich auf thematisch ähnliches Terrain wie Langzeit-Kollaborationspartner Martin Scorseses zuvor erschienener Silence. Beide Filme erzählen von einem Mann, der mit dem Glauben ringt und fast daran verzweifelt, Religion und grausame Wirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen. Und beide Male ist die Erzählposition keine überhebliche, die ohnehin von Anfang an weiß, wie albern das Christentum ist, sondern eine, die sich geduldig auf ein Glaubenskonzept einlässt, um es anschließend wieder infrage zu stellen. Das war es dann aber schon wieder mit Gemeinsamkeiten, denn First Reformed beginnt zwar karg und konzentriert, während er sich auf den Alltag des von persönlichem Verlust gezeichneten Pfarrers Toller (Ethan Hawke) einlässt, wird in der zweiten Hälfte aber dann ziemlich crazy.
Dass es ausgerechnet ein radikalisierter Öko-Aktivist ist, der das sorgfältig konstruierte Weltbild des Geistlichen ins Wanken bringt, deutet schon an, in welche Richtung sich First Reformed entwickelt. Schrader zeigt, wie sehr Ideologien auch persönliche Verarbeitungsstrategien sind und wie leicht sie sich dabei austauschen lassen. Er zeichnet ein düsteres Bild einer von zahlreichen privaten und politischen Krisen bestimmten Gegenwart, an der man nur noch verzweifeln kann, ist dabei aber nicht zu aufdringlich clever, an den richtigen Stellen sarkastisch und gibt schließlich noch einen Ausblick darauf, was das ultimative Heilmittel für die Krankheiten der Moderne ist. Obwohl Schrader – immerhin einer der größten, wenn auch nicht berühmtesten amerikanischen Regisseure – zwar ununterbrochen dreht, ist es schon fast ein Jahrzehnt her, dass zuletzt eine seiner Arbeiten in Deutschland einen Kinostart bekam. Dass der Film von dem vielleicht mit der notwendigen Hipness ausgestattetem Verleih A24 ins Programm genommen wurde, lässt darauf hoffen, dass First Reformed hierzulande doch noch auf der Leinwand zu sehen sein wird.
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