Preise vorbei an allen Favoriten: Die Krux der Festivaljury in Cannes

Jurys vergeben Preise nach eigener Logik, selten aber so sehr vorbei an den (vielen) Favoriten der Kritiker: 2016 sind die Filme von Paul Verhoeven, Cristi Puiu, Jim Jarmusch und allen voran Maren Ade leer ausgegangen. Ein Kommentar.

Toni Erdman 06

Die Begeisterung hatte Kritiker und Branchengäste gleichermaßen erfasst. Früh, zu früh vielleicht hatten sich in Cannes alle auf Toni Erdmann geeinigt: Verkäufe in viele Länder, Allzeit-Höchstwertungen in den Kritikerspiegeln, Berichte und Interviews noch und nöcher. Der Erfolg in Cannes war da, und er wird bleiben, daran kann auch die Jury mit ihren merkwürdigen Preisentscheidungen nichts ändern. Diese offenbaren vielmehr, wie wichtig die Zusammenstellung einer solchen Jury ist. Nicht nur am ex aequo vergebenen Regiepreis wurde deutlich: Diese Jury war durch und durch gespalten. Olivier Assayas und Cristian Mungiu, die sich nun den Preis teilen müssen, stehen für völlig unterschiedliches Kino, das eine öffnend, dem Fantastischen und dem Dramatischen, aber auch dem Menschlichen zugewandt, das andere schließend, moralisierend, autoritär. Beides kann man mögen und auszeichnen, zusammen wirkt es aber wie ein fauler Kompromiss.

I Daniel Blake 01

I, Daniel Blake, der nun zur großen Verwunderung der allermeisten Beobachter die Goldene Palme gewonnen hat, ist kein schlechter Film, sondern ein unendlich langweiliger, vorhersehbarer und schematischer. Mit den Möglichkeiten, die Kino bietet, hat das noch dazu nichts zu tun. Trotz der tendenziell konventionellen Anlage des Wettbewerbs von Cannes wird damit eine Form von Cinephilie zelebriert, die man eigentlich gerne für überwunden hält, selbst wenn sie es offenbar leider noch immer nicht ist. Nun ist die Palme vielleicht auch ein Preis für Loachs Lebenswerk; ganz sicher, und das ist viel schlimmer, ist sie auch ein Preis für das Thema der sozialen Ungerechtigkeiten in Großbritannien. Das Schicksal war schon im letzten Jahr Jacques Audiard mit seinem vermutlich schlechtesten Film jemals widerfahren, Dämonen und Wunder – Dheepan, der sich Flüchtlingen widmete. Audiard konnte sich freuen, das Kino leidet darunter – und natürlich auch das Festival von Cannes, das in diesem Jahr erneut mit der Programmierung von ästhetisch verwegenen und ambitionierten Werken, mit Genrestoff und einer Vielzahl an komödiantischen Filmen bewies, wie groß der Schatz an filmischen Möglichkeiten ist.

Elle 03

Nun muss man so Auf- und Anregendes wie Paul Verhoevens Elle oder Nicolas Winding Refns The Neon Demon nicht für die besten Filme des Wettbewerbs halten, vor allem dann nicht, wenn man sich an Genreversuchen reibt. Wie aber konnten Puiu mit Sieranevada und Ade mit Toni Erdmann völlig ignoriert werden? Beides Stücke, die vom Schauspiel, von ausgeklügelten Drehbüchern und vom Witz zehren. War die Jury also ganz einfach zu ernst? Es liegt nahe, bei diesen Entscheidungen jedenfalls ein Muster zu erkennen: Alle Filme – mit der Ausnahme von Assayas’ Personal Shopper – tragen ihre guten Absichten deutlich sichtbar am Revers. Das gilt ganz besonders für Mungius Bacalaureat, aber auch für Mendozas Ma Rosa und für Asghar Farhadis The Salesman. Wie man in unseren Kritiken nachlesen kann, mit unserer Ansicht nach völlig unterschiedlich starken filmischen Resultaten.

Toni Erdmann könnte, das ist ein kleiner Trost, am Ende vielleicht sogar davon profitieren, in Cannes der große Favorit gewesen zu sein, der zu Unrecht leer ausgegangen ist. Das macht den Film vielleicht sogar noch ein bisschen sympathischer und wird ihn auch vor Vereinnahmungen schützen, denen ich hier auf Grundlage der bisherigen Berichterstattung und Gespräche in Cannes ein paar Notizen entgegensetzte. Immerhin darf man nicht vergessen, dass Cannes-Palmen außerhalb von Frankreich meist nur in einem ganz bestimmten Teil des dramatischen Arthouse-Segments überhaupt nennenswerte Auswirkungen auf die Kinokarriere eines Films haben können. Dazu gehört Toni Erdmann nicht zwangsläufig, weil es nicht nur eine Komödie ist, sondern noch dazu ein äußerst zugängliches Drama, das genau deswegen begeistert, weil es die Zwischentöne feiert und ein Kinoerlebnis bietet, bei dem man sich auf keine Schublade festlegen muss. Ein solch freier Film kann ohne Label sogar besser da stehen als mit. Es ist dem Film und ihren Machern jedenfalls zu wünschen. Für Thierry Frémaux und Pierre Lescure, dem Direktor und dem Präsidenten von Cannes, hoffen wir, dass sie in Zukunft ein besseres Händchen bei der Zusammenstellung ihrer Jury beweisen. Die Gefahr ist, dass sie sich sonst zunehmend selbst in die Vergangenheit verbannen. In eine Vergangenheit, als Cinephilie sich hauptsächlich ideologisch über die richtigen Botschaften deklinierte. Es ist an der Zeit, das endlich zu überwinden.

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