Praktizierter Menschenhass – Notizen aus Venedig (1)

Zum Auftakt des Filmfestivals am Lido feiern die neuen Filme von Yorgos Lanthimos, Paolo Sorrentino und Luca Guadagnino Premiere. Außerdem: Ein Ausflug in den Höllenkreis des europäischen Förderfilms.

Das entspannteste der drei großen Festivals, hatte man mir gesagt. Bei meinem ersten Besuch in Venedig dagegen: Sturmwarnung bereits am Frankfurter Flughafen, Ankunft mitten in der Nacht, ellenlange Schlangen vor den Kinos, bei den Snackverkäufern und auf den Vaporetti, Regengüsse und verspätete Einlässe. Am ersten Tag in der Lagunenstadt dachte ich: Venedig braucht sich in Sachen praktizierter Misanthropie wahrlich nicht hinter Berlin und Cannes verstecken.

Womit wir bei dem ersten Film wären. Bugonia von Yorgos Lanthimos (Wettbewerb) ist nämlich ein waschechter Crowdpleaser für Menschenhasser. Zwei Schwurbler vom Land (Jesse Plemons und Aidan Deblis) entführen die CEO eines Pharmaunternehmens (Emma Stone als Alexis Colby nach einem Diversity Training), weil sie in ihr die Vorhut einer Alien-Invasion vermuten. Bugonia ist ein Remake des koreanischen Save the Green Planet und im Grunde genommen ein sehr gemeiner, nihilistischer, lustiger, barocker und kunstvoll eskalierender Horrorfilm. Lanthimos reicht das leider nicht und er packt jeden denkbaren zeitgenössischen Diskurs in das tendenziell überfrachtete Drehbuch und buchstabiert im Finale die Botschaft(en) unnötig breit aus. Wenn das Gesamtpaket dabei aber so garstig, formal durchdacht und ja, unterhaltsam, ausfällt, sehe ich darüber gerne hinweg. 

Der Wettbewerb wurde zuvor mit La grazia von Paolo Sorrentino eröffnet, der sich damit wohl an einer Kurskorrektur nach dem zuletzt gefloppten Parthenope versucht. Statt wunderschöner Frauen in Luxuskulissen muss man deshalb mit Toni Servillo in römischen Regierungsgebäuden vorlieb nehmen, der Lebensbilanz zieht. Weniger barocker Hedonismus, mehr bedrückend düstere Existenzfragen mit dem einen oder anderen Aufregerthema (Euthanasie!). Das ist alles schön und gut in Szene gesetzt, aber auch wenig überraschend und allzu deutlich auf den kleinsten gemeinsamen Arthouse-Nenner hin konzipiert. 

Nach dem gelungen Start ging es dann in den Höllenkreis des europäischen Förderfilms: Otec (Orizzonti) von Tereza Nvtovà ist ein Moralstück über einen Vater, der sein Kind bei Hitze im Auto vergisst, mit tödlichen Folgen. Ein möchtegern-naturalistisch-realistisches Dramolett, das gerne schockieren und bewegen würde, dank kompletten Unvermögens aber irgendwo zwischen billigster Exploitation, Telenovela und formal ungenügendem Haneke-Derivat stecken bleibt.

Mit Carolina Cavallis Il rapimento di Arabella (Orizzonti) ging es dann ähnlich unvermögend weiter. Eine hanebüchene Mischung aus Road Movie und Coming-of-Age-Film, ohne jeglichen formalen Gestaltungswillen, mit Einsprengseln, die wohl non-linear, poetisch, leicht surrealistisch, träumerisch, unkonventionell wirken sollen, aber einem den letzten Nerv und Geduldsfaden rauben.

After the Hunt (Außer Konkurrenz) von Luca Guadagnino mit Julia Roberts konnte dagegen die hohen Erwartungen erfüllen. Getragen von einem durchdachten, dialoglastigen aber dennoch dynamischen Drehbuch, einem starken Ensemble und einer famos aufspielenden Julia Roberts gelingt Guadagnino ein intelligentes Vexierspiel über gesellschaftliche und private Befindlichkeiten, das immer neue, aber nie selbstzweckhafte Haken schlägt. Guadagnino inszeniert konzentriert, eindrucksvoll aber dennoch nie effekthascherisch. Eine runde Sache.

To be continued…

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